• Das blaue Klavier
  • Erzgebirgische Theater und Orchester
  • Moderne szenische Uraufführung - Saison 2023/24
  • S. 6-9

Zwei Frauen

Text: Ingolf Huhn

In: Das blaue Klavier, Moderne szenische Uraufführung - Saison 2023/24, Erzgebirgische Theater und Orchester, S. 6-9 [Programmheft]

Fünf Frauen. Ein Cluster, ein Sonnenkreis. Ein paar Männer sind auch dabei: drei Dichter, dann Militärs, Politiker e tutti quanti. Und der Monteur, der Szenarist. Aber die Frauen sind das Kraftzentrum.

Das Stück beschreibt das Leben von zwei Pianistinnen, die sich nicht kannten, und in zwei Horrorregimes – der deutschen Naziherrschaft und der Stalinschen Sowjetunion – ähnliches erlitten. Beide schon als Jugendliche hochberühmt, große Virtuosinnen, und dann beinahe zur selben Zeit in Lagern interniert: Alice Herz-Sommer im Konzentrationslager Theresienstadt bei Prag und Vera Lautard-Schewtschenko in sibirischen Gulags. Die Texte, in deren Musik wir ihnen begegnen, sind Dichtungen, die – wären die Pianistinnen Dichterinnen gewesen – von ihnen hätten stammen können.

Fünf Frauen, die auf merkwürdige Weise zusammenzugehören scheinen, obwohl sie sich nicht begegnet sind. Die beiden Dichterinnen, die je in ihrem Land die expressivsten waren in ihrer Zeit, sind Else Lasker-Schüler aus Elberfeld und Marina Zwetajewa aus Moskau. Sie sind sich fast ähnlicher als die beiden Pianistinnen, die fast nur das Klavierspiel gemeinsam haben, und, dass sie früh berühmt waren, fast Wunderkinder.

Je eine Dichterin gehört zu einer der Pianistinnen: die beiden Jüdinnen, die nach Palästina gehen: Else Lasker-Schüler, die noch vor der Staatsgründung 1945 in Jerusalem stirbt, und Alice Herz-Sommer aus Prag, für die mit ihrem Sohn der neugegründete Staat Israel die Rettung ist. Die beiden anderen gehen in die Sowjetunion, 1938 und 39, aus Paris. Wir haben es heute leicht, da zusammenzuzucken und ihnen zuzurufen: das weiß doch jeder, dass das tödlich ist für Leute, die aus dem Ausland kommen. Aber die Männer der beiden haben es offensichtlich nicht gewusst und wollten zurück: Marina Zwetajewas Mann Efron genauso wie Veronique Lautards Ehemann Wladimir Schewtschenko. Und beide werden, kaum sind sie angekommen, als ausländische Spione hingerichtet.

Marina Zwetajewa kommt dann um in Tartarstan, 1943, und Vera Lautard-Schewtschenko kommt in den Gulag, zuletzt in Nischni-Tagil, zusammen mit 43.000 anderen, bis 1953, bis nach Stalins Tod.

Die fünfte Frau ist die, die alles zusammenhält, die Komponistin, die Dichterin – eine der Großen der Musik in Bulgarien und in Luxemburg: Albena Petrovic, Chevalier du Ordre de Mérite des Großherzogtums Luxembourg und Trägerin vieler Auszeichnungen.

Ein kurzer Blick lohnt auch auf die Männer: der eine ist der ekstatischste unter den deutschen Expressionisten, mit zwei Gedichten aus dem Schützengraben, 1915, wo und wann er dann auch umkommt, im Osten, August Stramm. Der andere ein Jude, ein Dichter und die charismatische Zentralfigur der deutschsprachigen Lyrik der Bukowina, zwischen Deutschen, Juden, Polen, Ruthenen und Rumänen, in Czernowitz; heute ist das in der Ukraine: Alfred Margul-Sperber. Nietzsche ist auch dabei. Und am Ende der, der diese Texte gefügt hat und sich dann doch bescheiden hinter den Worten „Szenarium von“ versteckt. Der Erfinder des sächsischen Kulturraumgesetzes und ein großer Brückenbauer nach Osten: Matthias Theodor Vogt.

Das, was uns stolpern lässt an diesem Abend, sind die Dokumente, unsägliche Texte, von denen der erste in Deutschland bejubelt wurde von der großen Mehrheit, weil er die Minderheit demütigte, und das wollten fast alle. Über den zweiten jubelten nur wenige, denn er war geheim und blieb das auch ziemlich lange. Und er wurde nur offenbar da, wo er zur Tat wurde, der brüderlichen Aufteilung ganz Osteuropas unter zwei Verbrecherregimes. Und über den dritten, die Kapitulationserklärung der deutschen Wehrmacht, wurde in Deutschland gar nicht gejubelt, obwohl es Grund dafür gegeben hätte. Texte, die uns frieren lassen und die deshalb auch keine Musik abbekommen haben.

Das Genre Rundfunkoper stammt aus den vierziger und fünfziger Jahren, als das Radio noch das Medium der Sehnsucht war und als es noch alle erreichte. Und es hat seinen Sinn dort, wo sich das erzählte Geschehen dagegen sträubt, in Dialoge übersetzt zu werden. Die Bühne dagegen ist ein Sympathiewunder: selbst die wirklich bösen Figuren ergreifen uns am Ende, nehmen uns mit und wollen, dass man sich in sie hineinfühlt. Wer das nicht will, muss Rundfunkopern schreiben. Da kann die Kälte herrschen, nicht nur, aber es geht immerhin. Deshalb ist „Das Blaue Klavier“ eine Rundfunkoper geworden. Aber wir bringen sie trotzdem auf die Bühne, weil wir die Hoffnung haben, dass jenseits der nur erzählten Handlungskondensate das Mitfühlen und Mitdenken mit den Figuren am Ende trotzdem siegt. Und weil die Musik uns sowieso keine Chance lässt: Hier sind wir ins Hineinfühlen gezwungen, hier hat sie so viel Macht über uns, dass das Schicksal der beiden Frauen dann doch unseres wird.

Und am Ende, ganz am Ende, lässt das Schluss-Stück der Oper, das eigentliche „Blaue Klavier“, dann doch ein Stück von der Hoffnung aufscheinen, dass die Strahlen der Sonne die Nacht vertreiben könnten und die erschlichene Macht zernichteten.