Staatsoper Stuttgart

Für mich soll’s rote Rosen regnen

Jules Massenets «Werther» als erste Opernpremiere in Stuttgart seit Oktober 2020 – beinahe semikonzertant, aber musikalisch vollgültig

Klaus Kalchschmid • 13. Juli 2021

Akteure auf leuchtender Scheibe © Philip Frowein

Endlich wieder eine richtige Opernpremiere in Stuttgart, geplant schon für 2020 und immer wieder verschoben. Einmal mehr stand sie nun auf der Kippe, weil ein heftiger Sturm das Kupferdach des Max-Littmann-Baus zu einer Art moderner Skulptur zusammengefaltet hatte, die jetzt vor dem Haus zu bestaunen ist und erhalten bleiben soll. 10.000 Liter Wasser sickerten über die darunter frei ohne Isolierung liegenden Holzbohlen des Hauses von 1911 in den dritten Rang. Der ist derzeit abgesperrt und wird getrocknet. Darunter darf mit Zuschauern, die im Schachbrett-Muster sitzen, getestet, geimpft oder genesen sind und Maske tragen, gespielt werden. 

Ein weiterer kleiner Schock beim Einlass: Das Staatsorchester Stuttgart sitzt auf der Bühne, reduziert auf 50 Musiker, die Pulte auch der Streicher getrennt und mit gebührendem Abstand. Davor eine kreisrunde, weißleuchtende Scheibe (Bühne: Katharina Pia Schütz). Sieht nach Corona-Lösung aus und war doch vor zwei Jahren schon so geplant und geht auf eine Konzeption von 2016 zurück. Felix Rothenhäusler hatte da bereits «Werther» in Bremen inszeniert – mit Menschen von heute auf einem schwarzen Viereck. Auch damals saß das Orchester auf der Bühne.

Jetzt ist das Ganze wohl noch abstrakter und symbolbeladener geraten. Außer einem Strauß roter Rosen, den Werther – rotes Hemd unter weitem blauem Sakko und Jeans – den ganzen Abend mit sich herumträgt, gibt es keine Requisiten: keine Briefe, keine Pistolen, kein Cembalo, keinen Weihnachtsbaum (wie noch in Bremen, mit sehr viel Lametta!) und leider auch wenig echte Personenregie. Denn obwohl permanent Blickkontakt herrscht, auch zwischen Figuren, die sich eigentlich nicht sehen dürften, sind die Sängerinnen und Sänger ganz nah dem Publikum gefährlich ausgestellt, rennen oftmals wie Hamster im Laufrad im Kreis, kauern oder liegen am Boden. Sitzen auch mal in der ersten Reihe des Parketts oder klettern aus dem Publikum auf die Bühne, wie der später mit dem Amtmann (ein mächtiger Bass: Shigeo Ishino) Weihnachtslieder probende Kinderchor. Manchmal stehen die Protagonisten einfach nur da wie bei einer semikonzertanten Aufführung, nur ohne Noten, und singen ins Publikum! 

Die von Werther so abgöttisch, grenzen- und haltlos verehrte, geliebte und begehrte Charlotte ist im Kostüm von Elke von Sivers ganz weiße Unschuld. Ihr Blouson mit Reißverschluss stammt freilich von heute, die Hose auch. Und darüber gibt es nur einen durchsichtigen Hauch von Kleid. Rachael Wilson sieht genauso mädchenhaft aus wie sie singt, und man glaubt ihr die Fürsorge um die Geschwister ebenso, wie das Unverständnis, was Werthers so wortreich beglaubigte Zuneigung angeht. Wenn sie endlich versteht, welchen Erdrutsch sie mit ihrer Naivität ausgelöst hat, dunkelt sich auch ihr schlanker, heller Mezzo etwas ein und man hört, wie das anfängliche Mitleid in Leidenschaft übergeht. Sophie, ihre Schwester, trägt dagegen schrilles Grün mit weit ausgestellten Schulterpolstern und gibt, gegen das Stück gebürstet, die selbstbewusste, kühle Emanze. Singschauspielerisch macht das Aoife Gibney mit gehaltvollem, aber immer noch leichtem Sopran großartig. Charlottes Verlobter und späterer Ehemann ist ein großer, junger, blonder Mann im hellblauen Anzug und von Anfang an reserviert, abweisend und eifersüchtig: Paweł Konik vermag seinen schönen, warmen Bariton da in Eiseskälte zu tauchen, was auf Dauer aber auch ein wenig eindimensional wirkt.

Arturo Chacón-Cruz als Werther © Philip Frowein

So vollzieht sich das „Drame lyrique“ vor allem gesungen und im Orchester, denn Marc Piollet setzt mit dem Staatsorchester Stuttgart ganz auf klare, durchsichtige Leidenschaft, vermeidet schweres Parfum, lässt dafür französische clarté walten. Und doch bleibt manches ein wenig im Ungefähren, auch wenn es immer schön klingt, nicht zuletzt in den zahlreichen Instrumentalsoli, vor allem im dritten und vierten Akt. 

Vier mehr oder minder komische Nebenrollen, also Schmidt, Johann, Brühlmann und Kätchen, wurden gestrichen, was die Konzentration verstärkt und keineswegs stört, allerdings das so ausgleichende komische Element ganz eliminiert. So lastet das vokale und darstellerische Gewicht von Anfang an auf Arturo Chacón-Cruz als Werther. Der betritt als erster die Bühne und verlässt sie bis zur Pause nicht mehr, sitzt allenfalls mal mit dem Rücken zum Geschehen am Rand der Scheibe. Differenziertes stummes Spiel verlangt ihm der Regisseur ab, das für einen Sänger weit schwieriger zu realisieren ist als für einen Schauspieler im Sprechtheater. 

So hören wir denn besser zu, denn der 43-jährige Mexikaner ist anders als seine Kolleg:innen an diesem Abend kein Rollen-Debütant. Seine Stimme klingt jedoch weniger französisch als italienisch und hat eine helle Strahlkraft, der ein wenig der Schmelz abgeht. Doch als extrem fixierter, fast psychotischer Charakter überzeugt er sehr.

Als Werther (dank Pistolenschusses, den es hier nicht gibt) schwer verletzt scheint, wirft Werther den Rosenstrauß endlich zu Boden und es regnet minutenlang rote Blütenblätter. Charlotte ist zum Sterbenden geeilt und gesteht ihm endlich ihre Liebe, versinkt dabei, Kopf an Kopf mit ihm liegend, fast in diesem Blütenmeer. Das ist einer der schönsten Momente dieses Abends, der Massenets leidenschaftlicher Musik allzu oft große Abstraktion entgegenstellte.

«Werther» - Jules Massenet

Staatsoper Stuttgart
Kritik der Premiere am 11. Juli 2021
weitere Termine: 13./15./18. Juli 2021, 12./15./18./23. Juni 2022