Staatstheater Nürnberg

Im Kopf des Genies

Anno Schreiers neue Oper «Turing» feierte ihre Uraufführung: ein überzeugendes, unterhaltsames Musiktheater-Biopic über ein außergewöhnliches Genie mit tragischem Hintergrund

Stephan Schwarz-Peters • 01. Dezember 2022

Die Silhouette von Alan Turings Kopf ist in Mathis Neidhardts Bühnenbild auf verschiedene Weise präsent © Ludwig Olah

Mit Genies ist es wie mit Tieren: Man soll sie nicht vermenschlichen. Anno Schreier und sein Librettist Georg Holzer haben es dennoch getan und im Auftrag des Staatstheaters Nürnberg eine Oper über den britischen Mathematiker, Kryptoanalytiker, Computer- und KI-Pionier Alan Turing geschrieben. Ohne dass seine Zeitgenossen davon erfahren durften, war der zu einem der größten Helden des Zweiten Weltkriegs avanciert, weil er, abgeschirmt von der Welt, die so genannten „Turing-Bombe“ entwickelt hatte, mit deren Hilfe das britische Militär verschlüsselte Funksprüche der Deutschen dechiffrieren und so entscheidend auf den Fortgang des Krieges einwirken konnte. Turings weitere Forschungsarbeit war nicht weniger grundlegend, wurde aber durch tragische Lebensumstände überschattet. Das Bekenntnis zur eigenen Homosexualität, damals noch unter schwerer Strafe, stellte ihn vor die Wahl, entweder ins Gefängnis zu gehen oder einer Hormontherapie zuzustimmen. Die Behandlung mit Östrogen führte zu schweren Depressionen, im Alter von 42 Jahren nahm sich Alan Turing das Leben, indem er einen mit Blausäure präparierten Apfel aß – poetische Reverenz vor seinem Lieblingsmärchen Schneewittchen.

Eine so komplexe Persönlichkeit in Form eines Opern-Biopics auf die Bühne zu bringen, verlangt nach einem versierten Team auf, vor und hinter der Bühne. Im Fall dieser Nürnberger Produktion haben sich die richtigen Kräfte gefunden, und wenn man das Gesamtfazit voranstellen möchte, kann man sagen: Dem Staatstheater ist hier ein spannender, bewegender und unterhaltsamer Abend auf hohem künstlerischem Niveau gelungen, der vor allem ein Vorurteil Lügen straft – nämlich, dass zeitgenössisches Musiktheater sein Publikum nicht begeistern könne. Die Weichen hierfür hat an erster Station das dramaturgisch perfekt gebaute Libretto von Georg Holzer gestellt. In 18 rasanten Szenen hat er, weder hochtrabend noch banal, die schillernden persönlichen und biografischen Details des Titelhelden miteinander verwoben und mit der im Limbus stattfindenden Begegnung Turings mit Madame KI, einer von ihm „erschaffenen“ Allegorie der technischen Zukunft, noch eine I-tüpfelgleiche Rahmenhandlung beigegeben. Als nächster der Komponist Anno Schreier, den man unter die wenigen ingeniösen Musiktheaterbegabungen unserer Zeit in Deutschland zählen kann.

Die Künstliche Intelligenz (Andromahi Raptis) reicht dem Genie (Martin Platz) einen vergifteten Apfel © Ludwig Olah

Für seine «Turing»-Musik hat sich der stilistisch in alle Richtungen schielende Schreier auf neues Terrain begeben, indem er – spiegelbildlich zu Turings Arbeit – bewusst nach eher „mechanischen“ Ausdrucksmitteln suchte und sie in den Ansätzen der amerikanischen Minimal Music fand. Dünnes Eis, wenn man nicht klingen möchte wie ein dreifach gefilterter Philip-Glass-Aufguss, zumal die musikalischen Dauerschleifenbildung eine erhebliche Monotonie-Gefahr in sich birgt und die hier durchs Libretto vorgegebene Atemlosigkeit leicht asthmatisch wirken lassen könnte. Im Gegenteil aber offenbart sich der minimalistische Drive hier als „das“ ergänzendes Moment, das den Szenenaufbau mit ihren oft eingefügten literarischen Texten und Gedichten richtig rund werden lässt, zumal Schreier seine musikalischen Ideen stets präzis und an das Geschehen angepasst formuliert. Jede Szene hat ihre eigene Identität, fügt sich aber in ein organisches Ganzes. Bei aller Mechanik, die sie in Gang setzt, schwingt in dieser Musik immer auch das menschliche Drama mit, aber auch die Absurdität, in die sich Turing durch sein konsequentes Außenseitertum immer wieder verstrickt, und auch die hierdurch entstehende Komik. Wann hat man zum letzten Mal eine zeitgenössische Oper gesehen, die einen (mehrfach) zum Schmunzeln oder sogar Lachen gereizt hätte?

Das liegt nicht zuletzt auch an der starken Umsetzung, wobei man trotz eines in Gänze überzeugenden Ensembles sagen muss, dass der Abend auf der Bühne vor allem einem gehört – dem Hauptdarsteller. Martin Platz, schon seit längerem Mitglied des Nürnberger Ensembles, nutzt hier mit allen Mitteln eine Chance, die sich Sängern nur selten bietet: einen Charakter zu kreieren, wie ihn die Opernwelt noch nie zuvor gesehen hat. Zwei Stunden lang steht der Tenor im szenischen Dauerfeuer, macht die Höhenflüge, aber auch die Qualen, die Verständnislosigkeit gegenüber der Welt und auch die intimen Momente der Titelfigur fast schmerzhaft erfahrbar, schafft Identifikation und entäußert sich dabei schonungslos selbst. Und das, ohne im eigentlichen Sinne „ausbrechen“ zu müssen. Mit schlackenfreier Stimme trotzt er der unbarmherzig vorwärtsdrängenden Musik immer wieder „schöne“ Stellen ab, schafft lyrische Freiräume für Ariosi – schade, dass ihm das Stück keine Arie im eigentlichen Sinne spendiert.

Starke Ensembleleistung: Wonyong Kang (Max), Nicolai Karnolsky (Churchill) und Emily Newton (Joan) © Ludwig Olah

Drei starke weibliche Figuren stehen ihm zur Seite. Zum einen die als eine Art Geliebte, aber auch als Sparringpartnerin dienende Madame KI, der Andromahi Raptis ironischen Kick und Würze verleiht. Zum anderen Emily Newton in der Partie der verständnisvollen Freundin und Mittüftlerin Joan, die, ebenso wie Almerija Delic als Mutter, Wärme, Tragik und Humor in ihrer Darstellung vereint. Ein geradezu Strauss’scher Kunstgriff gelingt dem Stück, wenn die drei im Finale ihre Stimmen zu einem ergreifenden Trauerterzett vereinen. Profund lässt sich der Bariton Wonyong Kang als Turings Freund Max vernehmen, als Charakterdarsteller mit obligatorischer Zigarre im Mund gibt Nicolai Karnolsky einen kauzigen Winston Churchill. Mykhailo Kushlyk verleiht Turings Lover Arnold mit wendig-windigem Tenor die nötige sinistre Ausstrahlung, während Veronika Loy und Mats Roolvink als vergeblich wohlwollende Konstabler komödiantische Glanzlichter im polyfon-barocken Stilzitatengewand setzen.

Die Regie hat der Hausherr am Nürnberger Staatstheater persönlich übernommen. Permanent lässt Jens-Daniel Herzog das Publikum direkt in den so kompliziert arbeitenden Kopf Alan Turings schauen, dessen Silhouette auf verschiedene Weise in Mathis Neidhardts Bühnenbild präsent ist. Der Aufbau erinnert deutlich an die gemalten Visionen des Surrealisten René Magritte, ebenso die von Sibylle Gädecke geschaffenen Kostüme des meist in schwarze Anzüge und Melone gekleideten Chors – der neben Martin Platz als Turing der zweite große Hauptdarsteller des Abends ist. Einstudiert vom Chordirektor Tarmo Vaask, macht er seine Sache großartig, man merkt das Engagement der Sängerinnen und Sänger bei dieser Uraufführung. Das gleiche gilt für die Staatsphilharmonie unter dem souverän die Musik zum Schwingen und Swingen bringenden Guido Johannes Rumstadt. Dass sich das Potenzial dieser Oper auch auf anderen Bühnen entfalten würde, ist gewiss. Man müsste sie nur nachspielen.


«Turing» – Anno Schreier
Staatstheater Nürnberg ∙ Opernhaus

Kritik der Vorstellung am 30. November 2022
Termine: 11. Dezember 2022, 15./31. Januar, 5./12. Februar 2023


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