Rezension

Spanische Schagerparade

Das Teatro Real in Madrid zeigt trotz aller Widrigkeiten Richard Wagners »Siegfried« in der Regie von Robert Carsen

Luis Gago • 16. Februar 2021

Dieser Artikel erschien am 15.02.2021 in der Tageszeitung El Paìs unter dem Titel ‘Siegfried’, más difícil todavía“ („Siegfried‘, noch schwieriger“) – online zu finden hier: https://elpais.com/cultura/2021-02-13/mas-dificil-todavia.html

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und aus dem Spanischen übersetzt von Stephan Burianek

 

Siegfried (Andreas Schager) malträtiert Mime (Andreas Conrad) © Javier del Real | Teatro Real

Spulen wir zurück. Wieder einmal, so wie vor einem Jahr. In einer zeitlichen Pirouette musste man das Ende von »Rheingold« mit dem Beginn der »Walküre« verknüpfen, der letzten Oper, die im März vor dem drastischen kulturellen wie sozialen Blackout am Teatro Real zu sehen war. Am Ende des „Ersten Tages“ war keine Spur mehr von den Göttern im brandneuen Walhall, wo wir sie am Ende des Vorabends vor zwei Jahren gelassen hatten, sondern wir wohnten der schweren Strafe bei, die Wotan seiner aufsässigen Tochter Brünnhilde auferlegt hatte, die er dazu verdammte, von einem schützenden Feuerring umgeben auf einem Felsen zu schlafen, bis ein Mensch, der das Fürchten nicht kennt, kommen würde, um sie zu befreien. Und es ist der Titelheld am „Zweiten Tag“, der sich nun zeigt, Siegfried, der in der letzten Szene der Handlung, diese Großtat erwirken wird. Er, die Frucht einer inzestuösen Vereinigung von zwei Geschwistern (Siegmund und Sieglinde), wird in den Armen einer Halbschwester seiner Mutter enden: Im »Ring« werden allen Leidenschaften daheim erledigt.

In »Siegfried« kehrt der Riese Fafner, der im »Rheingold« seinen Bruder Fasolt ermordet hat, als Drache verwandelt wieder. Genauso verhält es sich mit einem anderen Geschwisterpaar, mit Mime und seinem Ausbeuter Alberich, wiewohl nur der Letztgenannte es lebend in die »Götterdämmerung« schaffen wird. Auch die Erdgöttin Erda, Mutter von Brünnhilde (und den drei Nornen), taucht wieder auf und versucht sich weiterhin vergebens in Ratschlägen an Wotan, der sich diesmal in seiner Personifizierung als umherirrender Wanderer in das Leben der Menschen einmischt – mit unheilvollen Konsequenzen, wie wir innerhalb eines Jahres die Gelegenheit haben festzustellen. Diese Produktion, die ursprünglich innerhalb von nur zwei Tagen in Köln zu sehen gewesen war, dehnt sich hier in diversen Abschnitten von einem Winter auf den nächsten.

Mehr als an den Beziehungen zwischen diesen oder jenen Charakteren oder an der eindeutigen politischen Reflexion der Handlung scheint Regisseur Robert Carsen daran interessiert zu sein, eine Inszenierung zu zeigen, die man als ökologisch korrekt bezeichnen könnte. Schon der Abfall, in dem die Rheintöchter zu Beginn der Tetralogie hausen, weist als Warnsignal auf das hin, was uns hier als Kinder des Anthropozäns noch erwartet. Das Problem ist, dass sich bei Wagner die Bedeutungsebenen auftürmen und es nicht ratsam ist, sich nur auf eine von ihnen zu beschränken, wiewohl sich dadurch kraftvolle und einprägsame Bilder schaffen lassen, wie dieser morsche Wohnwagen, in dem Mime und Siegfried in Armut leben, umgeben von Dreck inmitten eines Nicht-Waldes, dessen Bäume im zweiten Aufzug geknickt worden sind und in dem sogar der Vogel, der den Helden aufklärt, tot auf dem Boden liegt.

Fafner fletscht die Zähne © Javier del Real | Teatro Real

»Die Götterdämmerung« ist eine Metapher für das Ende der Natur. Ein weiterer Erfolg von Carsen besteht darin, Fafner als riesigen Bagger erscheinen zu lassen, der sich durch einen Lichtspalt den Weg bahnt und zwei drohend schnappende Baggerschaufeln herunterfährt: Ein großes Symbol jenes Durchbruchs, der die Erde heimsucht, sie durchbohrt und zerstört, was er auf seinem Weg findet.

Andererseits minimiert Carsen das Feuer am Ende der »Walküre«, und somit die Heldentat seines Durchschreitens, zwei aus dramaturgischer Sicht wichtige Elemente, die Wagner in seiner Musik hervorgehoben hat. Der Kanadier zeigt dann das grandiose Schlussduett von Brünnhilde und Siegfried wie einen eigenartigen Fall magmatischer Liebe, glühend, in einer viel größeren Distanz als man uns heute empfiehlt zwischen Fremden einzuhalten, was die beiden Liebenden trotz ihrer Blutsverwandtschaft letzten Endes doch auch sind.

Wagner ist immer ein Langstreckenlauf (was das Komponieren des »Rings« für den Deutschen ebenso war), und Pablo Heras-Casado begann diese Madrider Tetralogie als neuer Läufer. Er lernt im Laufe der Zeit, aber Wagner fordert immer seinen Tribut auf die eine oder andere Art, selbst bei den Altgedienten. Es gibt gewisse wiederkehrende Fehler in Heras-Casados Lesart. Der schädlichste in einer an scharfen Kanten und an aufbrausenden Momenten reichen Oper wie in »Siegfried« ist, dass die rhythmischen Formgebungen (vor allem dann, wenn sie Punktierungen beinhalten) allzu häufig stumpf und trübe klingen anstatt scharf und klar, und die Verwirrung wird noch verstärkt, wenn Wagner verschiedene Rhythmen übereinander legt. Auch klingt das Orchester häufig zu laut, aber mit einem spürbaren Mangel an Dichte. Am besten war der zweite Aufzug dirigiert, obwohl hier ebenso graue, fast schwarze Passagen zum Vorschein kamen: der Schluss der Fafner-Szene, der Dialog zwischen Mime und Alberich, jene Musik, die Siegfried begleitet wenn er bereits die Leichen der ersten beiden vor sich hat und das in dynamischer Hinsicht rumpelnde Ende des Aufzugs. Und es gibt Phasen, durch die Heras-Casado nahezu schleicht, wie am Ende der zweiten Szene und am Beginn der dritten, beide im ersten Aufzug, mit dem alleinigen Mime.

Zusammenhanglosigkeiten kommen bei Wagner ebenfalls teuer zu stehen. Generell ist es notwendig, dass die Noten einen Sinn haben und einem Zweck dienen, und nicht einfach nur dort erklingen wo sie vorgesehen sind, denn das Orchester des Deutschen ist weder ein Accessoire noch eine bloße Klangdecke für die Stimmen, sondern zumindest ein Miterzähler von allem, was passiert (oder was passiert ist). Zu häufig hat man den Eindruck, eher ein korrektes Ablesen von Noten zu hören (was kein geringes Verdienst ist) als eine bedeutungsvolle Interpretation.

Das Orchester hat viel Platz © Javier del Real | Teatro Real

Der granadische Dirigent hat das Glück, auf zwei Stiche zählen zu können, die zu seinem Gunsten spielen und die seine Mängel nicht wenig verbergen: ein engagiertes Orchester und eine sehr erfahrene, in tausend Wagner-Schlachten gereifte Vokalbesetzung.

Ersteres stellt sein verschwenderisches Können unter Beweis, obwohl es aus hygienischen Gründen einen Teil seiner Musiker auf die Parterrelogen verbannen musste – eine Lösung, die mit Ausnahme der Hörbarkeit der Harfen, die ihren Klang viel schlechter entfalten können als Trompeten, Posaunen oder die Tuba, überraschend gut funktioniert. Als ob die kräftezehrende Partitur nicht bereits ausreicht, müssen die in dieser Oper ohnehin besonders stark geforderten Streicher mit dem ermüdenden Zusatz von aufgesetzten Masken spielen. Das lange, höchst exponierte Solo der ersten Geigen im dritten Aufzug war ein für alle leicht zu hörendes Beispiel für die Qualität, die sie gesammelt zu leisten imstande sind.

Die Holzbläser, eine der Stützen des Tonkörpers, glänzten vor allem im zweiten Aufzug, und das Blech blieb in allen Momenten überaus sicher, trotz der oben genannten Teilung der Gruppe. Das gefürchtete Hornsolo im selben Aufzug (während Siegfried absurderweise eine kleine Trompete pustet, eine von mehreren Ungereimtheiten Carsens) wurde von Jorge Monte de Fez mit wahrhaftiger Virtuosität und Musikalität von der Bühnenseite gespielt. Und Álvaro Vega spielt auch dann gut, wenn er es absichtlich schlecht macht, um den groben Klang von Siegfrieds Rohrflöte nachzuahmen. Die zunehmende Präsenz junger Menschen in den Reihen des Orchesters (abgesehen von mehreren Streicherpulten, zweitem und drittem Fagott, Bassklarinette, dritter Oboe und einer herausragenden Tuba in einem ebenfalls einschüchternden Teil) ist hinsichtlich der Zukunft eine außergewöhnliche Nachricht. In sehr wenigen Opernhäusern kann man eine Orchesterleistung von solcher Qualität und solcher Homogenität innerhalb aller Instrumentengruppen hören.

Ricarda Merbeth (Brünnhilde) mit Notung © Javier del Real | Teatro Real

Andreas Schager und Ricarda Merbeth waren bereits in einem kompletten, konzertanten »Ring« im vergangenen November Siegfried und Brünnhilde gewesen, der an der Pariser Oper als Ersatz für eine abgesagte Neuinszenierung durch Calixto Bieito angeboten worden war.

Die Eindrücke, die der Tenor und die Sopranistin nun hinterlassen sind sehr ähnlich, obwohl sie sich dort auf ein viel wagnerianischeres Dirigat durch Philippe Jordan verlassen konnten. Der Österreicher ist ein Vollblut-Siegfried, der alle und jede einzelne der unbarmherzigen Anforderungen mit einer Unverfrorenheit und mit einer – sicherlich nur scheinbaren – Leichtigkeit überlebt. Er genießt es, seine Figur mit Leben zu erfüllen, er verwandelt sich ihn sie, und man könnte sogar sagen, dass sie ihm dabei hilft, sich selbst zu verjüngen. Wenn es unmöglich scheint, dass er mit ausreichenden Kräften in den dritten Aufzug gelangt, liefert er erneut eine weitere Darbietung von stimmlicher Wucht und nuanciertem Gesang, genauso wie 2018 in Berlin, als er Tristan in einer Neuproduktion von »Tristan und Isolde« an der Staatsoper verkörperte.

In einer weniger gewichtigen Rolle als in der »Walküre« (hier singt sie nur eine halbe Stunde im Schlussduett) zeigt Ricarda Merbeth dieselben Probleme in der Höhe und und im Forte, wo die Stimme rau und angespannt klingt. Man merkt freilich, dass sie die Sprache und den Ausdruck beherrscht, dass sie die Figur kennt und die Partie zu singen weiß, aber die Stimme begleitet sie nicht immer. Schager stellt sie, wenn auch ohne es zu wollen, in den Schatten, aber nur wenige Sopranistinnen können dem überwältigenden Energiesturm des Österreichers standhalten. Allein diesen Siegfried zu hören, rechtfertigt die investierten fünf Stunden, und er war bei Weitem der am meisten bejubelte Künstler des Abends. Hoffentlich kommt er uns im kommenden Jahr in der »Götterdämmerung« wieder besuchen, denn die alleinige Präsenz dieses Überfliegers garantiert einen großen Wagner-Abend. Trotz ihres kurzen Beitrags zu Beginn des dritten Aufzugs hinterließ Okka von der Damerau mit ihrer glänzenden Stimme einen außergewöhnlichen Eindruck als Erda, eine Partie, die sie bereits in München und in Wien gesungen hatte.

Ihre Szene (der einzigen in einem Innenraum dieser ansonsten draußen spielenden Oper) und die unvergessliche Art, wie sie „Männerthaten umdämmern mir den Muth“ interpretiert, bleibt als das Beste und Feinsinnigste in Erinnerung, das man in dieser Premiere gehört hat, wenngleich nicht weit entfernt vom glitschigen Mime des Andreas Conrad und dem herzlosen Alberich von Martin Winkler – beide mit einer hohen Dosis wagnerianischer Weisheit und Intentionalität gesungen. Es sind zwei unsympathische, gar verabscheuungswürdige Figuren, aber mit einem enormen musikalischen und dramaturgischen Reichtum. Conrad füllte seine Interpretation mit Humor und szenischem Tatendrang, obwohl ihm das Orchester mitunter nicht mit jenem Elan, Schub und vor allem Fähigkeit zur Überraschung folgte, wie es die Komik verlangt. Ohne es zu übertreiben, zeichnet Winkler mit drei oder vier groben Pinselstrichen die grundsätzlichen Wesenszüge des unersättlichen Nibelungen. 

Martin Winkler (Alberich), Tomasz Konieczny (Wanderer) © Javier del Real | Teatro Real

Tomasz Konieczny war als Wanderer/Wotan weit besser disponiert als in der »Walküre«, obwohl er ein Sänger ist, der zu einer expressiven Sterilität neigt, mit einem eher felsigen, schwer zu schmiedenden Gesang. Zu Beginn des dritten Aufzugs fehlte es ihm an Zorn, aber den Dialog mit Erda traf er dann gut. Als erhabener Wotan glänzt der Pole allgemein mehr als in der Rolle einer von Leidenschaften und menschlicher Niedertracht verunreinigten Person. Am Ende wurde ihm großzügiger applaudiert als vor einem Jahr, als sein von Zurückhaltung geprägter Abschied von Brünnhilde einen bittersüßen Geschmack hinterließ.

Schlichtweg korrekt war zudem der Fafner von Jongmin Park, dem das von Wagner im Libretto vorgeschlagene „starke Sprachrohr“ geholfen hätte. Seitlich in der Höhe des Zuschauerraums war Leonor Bonilla, kurz gesagt, mehr ein gut gemeinter als idealer Waldvogel, mit einer wenig klaren Diktion und einer zu einfältigen Phrasierung.

Nach dem speziellen Crescendo seit der »Traviata« im vergangenen Juli und nach der unmittelbar bevorstehenden »Norma« wird das Teatro Real im April mit »Peter Grimes« erneut – und auf welche Weise! – auf die Probe gestellt werden. Der in dieser Oper omnipräsente und unverzichtbare Chor (in »Siegfried« abwesend) wird der akrobatischen Logistik und dem künstlerischen Vorstellungsvermögen des Hauses eine weitere Kapriole hinzufügen. Sie wird notwendig sein, um die aktuelle Spielzeit so gut wie möglich zu retten. Alle drei Opern werden an diesen Tagen gleichzeitig aufgeführt oder geprobt. Der wackere und unerschrockene Siegfried scheint ein gutes Modell dafür zu sein, wie man angesichts von Gefahren oder Widrigkeiten vorgeht. Wer sprach von der Furcht?

 


Teatro Real, Madrid
17./21./25. Februar, 1./5./11. März 2021

www.teatroreal.es