• PROspekt
  • Theater Erfurt
  • # 2 | Dezember 2016 - Februar 2017
  • S. 9

Barocke Freiheit

Aus der Sicht eines Dirigenten

Text: Samuel Bächli

In: PROspekt, # 2 | Dezember 2016 - Februar 2017, Theater Erfurt, S. 9 [Publikumszeitschrift]

Vor dem 19. Jahrhundert gab es kaum einen Komponisten, der glaubte, seine Werke würden länger leben als er selbst. Man spielte ja auch nur die neuesten Werke der Zeitgenossen, oft als Auftrag zu einer bestimmten Gelegenheit. Seit dem 19. Jahrhundert hofft (und glaubt) fast jeder Komponist, dass seine Werke weit über seinen Tod hinaus Bestand haben werden.

Was war geschehen? Ich möchte nur drei Punkte anführen: 1. Als eine der ersten Opern geriet Mozarts Zauberflöte nie in Vergessenheit und gehört seit der Uraufführung von 1791 dauerhaft zum Opernrepertoire. 2. Durch die spektakuläre Wiederaufführung von Bachs (unvorstellbare hundert Jahre alter) Matthäuspassion durch Mendelssohn (1829) begann die Entdeckung Alter Musik und ihre Verankerung im Konzertbetrieb, der sich seither zunehmend mit immer älter werdenden Stücken beschäftigt. 3. Auch durch eigenes Zutun galten Beethoven, Wagner und andere nun als „Genies“, deren „übermenschliche Größe“ durch „Ewigkeit“ belohnt wurde. Zusammengefasst: Die Musik verlor ihr Haltbarkeitsdatum.

Ein Barockkomponist wie Händel, der für seine Umgebung schrieb, konnte sich darauf verlassen, verstanden zu werden und notierte – meist in Eile – nur das Nötigste. Neuere Komponisten wie Brahms oder Boulez müssen damit rechnen, noch in 300 Jahren in Lima und Omsk aufgeführt zu werden, was zwangsläufig zu einer viel genaueren Notationsweise führt, bis hin zum alles erklären ­ den Vorwort.

Natürlich ist es schön und ehrenvoll für einen Interpreten, die sehr detaillierten Wünsche von Puccini und Webern zu erfüllen. Aber dann sitzt man vor der Urtextausgabe von Bachs Wohltemperiertem Klavier und sieht: Noten, Töne und Pausen, sonst nichts, kein laut oder leise, kein schnell oder langsam, keine Erklärungen. Das macht Spaß. Man kann nun historisch fundiert alles richtig machen, aber auch alles ganz falsch und hat dabei große Vorbilder wie Glenn Gould oder Otto Klemperer, manchmal auch die hemmungslose Querköpfigkeit von Nikolaus Harnoncourt.

Am schönsten kann sich der Interpret bei Opern der Monteverdi-Zeit austoben. Da meist nur Singstimme und Bass notiert sind, kann man ungehindert Begleitstimmen und Klangfarben erfinden. Bei fantasievollen Interpreten wie René Jacobs oder Christina Pluhar geraten Monteverdis Noten zahlenmäßig weit ins Hintertreffen.

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