• Programmheft
  • Staatstheater Braunschweig
  • Rusalka | März 2021
  • S. 6-8

Von Monstern und Menschen

Dirk Schmeding, Ralf Käselau und Julia Rösler im Gespräch über »Rusalka«

Text: Theresa Steinacker

In: Programmheft, Rusalka | März 2021, Staatstheater Braunschweig, S. 6-8 [Programmheft]

Antonín Dvořáks »Rusalka« hat schon die verschiedensten szenischen Deutungen erfahren: als ›klassisches‹ Märchen, aber z. B. auch als Missbrauchs- oder als dysfunktionale Familiengeschichte. Wie war euer erster Zugang zu diesem Stück?

Dirk Schmeding: Mit der breiten Aufführungstradition haben wir uns natürlich auseinandergesetzt – und es ist ja ein Stoff, der sehr ins Psychologische zielt. Trotzdem war eine unserer ersten Entscheidungen, dass die Märchenfiguren dieser Oper Märchenfiguren bleiben sollen. Beim Märchen geht es oft mehr um das »Wie« des Erzählens, um die Ausschmückungen, und weniger darum, dass man die Geschichte anders erzählen oder ein anderes Ende erfinden muss.

Julia Rösler: Das Märchen bietet uns ja schon eine Art der Übersetzung an: Wenn jemand wie Rusalka sich von anderen Wesen unterscheidet, wie kann man das besser darstellen als damit, dass sie als Einzige einen Fischschwanz hat? Als Verkörperung von Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten sind solche Figuren in der Erzähltradition so präsent, dass man sie nicht zwingend neu erfinden muss. Von den klassischen Märchenfiguren haben wir uns dann aber allmählich wegbewegt und uns den monsterartigen Gestalten zugewandt.

Ralf Käselau: Mit Monstern und den Archetypen, die sie vertreten, haben wir uns viel beschäftigt – und mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, die das Auftreten dieser Figuren begleitet haben.

DS: Es waren auffällig oft krisenhafte Zeiten, in denen die Erzählungen von Monstern an Relevanz gewannen und die uns viel über die Ängste einer Gesellschaft verraten. Die Hexenprozesse im Spätmittelalter sind dafür ein gutes Beispiel. Aber auch andere Zeiten haben monsterhafte Verkörperungen ihrer Unsicherheiten geschaffen: die industrielle Revolution mit Frankensteins Monster, das Atomzeitalter mit Godzilla.

Vom bereits genannten Fischschwanz einmal abgesehen – was unterscheidet denn die Menschen von den Märchen- oder Monsterfiguren?

DS: Die Unterschiede sind kleiner, als man denken würde. Rusalka berichtet im ersten Akt, dass der Wassermann ihr von den Seelen der Menschen erzählt habe. In den traditionellen Erzählungen haben die Rusalky, die Wasserwesen, keine Seelen – aber man muss ja nur einmal Rusalkas sehnsuchtsvolles Lied an den Mond hören und ist schon vom Gegenteil überzeugt. Die Monster haben in dieser Oper ein reiches, sensibles Innenleben und kommen deutlich besser weg als die Menschen: Der Prinz und die Fremde Fürstin, aber auch die komischen Figuren in Gestalt von Küchenjunge und Heger dienen ja kaum als positive Identifikationsfiguren.

JR: Und gerade dadurch, dass die Monsterfiguren so anders aussehen, ermöglichen sie einen anderen Grad der Einfühlung: Denn die vor allem durch Äußerlichkeiten erzeugte Distanz ermöglicht es dem Publikum, mit mehr Abstand auf die Figuren zu schauen und so in ihnen vielleicht auch mehr von sich selbst wiederzuerkennen.

DS: Es gibt immer wieder Momente, in denen man an diese Monster andocken kann. Wer wollte nicht schon einmal wie Rusalka eine neue Identität annehmen? Aber auch das Feststecken in einem Zustand, das dem Wassermann eigen ist, oder das Enttäuschte, Rachsüchtige von Ježibaba schaffen emotionale Anknüpfungspunkte.

In welchen Welten bewegen sich die Figuren dieser Oper?

RK: Wir sind anfangs von zwei getrennten Welten ausgegangen, die in Gestalt von Rusalka und dem Prinzen aufeinanderprallen. Weil wir in der aktuellen Situation aber ohne den Chor arbeiten müssen, haben wir das Konzept überarbeitet und dichter gefügt: nicht als den Zusammenstoß zweier Welten, sondern durch die Darstellung eines zivilisatorischen Randbereiches, einer verlassenen, ausgesetzten Gegend, die einerseits trostlos, andererseits auf eine dunkle Art als poetische Seelenlandschaft zu sehen ist. Naturgewalten, Wasser und die Abwesenheit von Wasser wie auch die Spuren, die der Mensch in der Natur hinterlässt, spielen an diesem Ort eine wichtige Rolle. Dort überdauern diese Monsterwesen wie an den Rand gedrängt. Und dort verliert sich der Prinz und trifft auf Rusalka.

DS: Die Melancholie, die diesen Ort prägt, greift natürlich auf die Figuren über. In dieser Landschaft hat man das Gefühl, dass es vielleicht einmal einen schönen See gegeben habe, der aber allmählich ausgetrocknet ist – und nun tun das die Figuren, die dort hängengeblieben sind. Für Rusalka ist die Abwesenheit von Wasser lebensbedrohlich und der Prinz bringt ihr das überlebenswichtige Versprechen von Aufbruch und Dynamik.

Wäre denn für Rusalka und den Prinzen außerhalb dieses Ortes auch ein glückliches Ende denkbar?

JR: Ich glaube eher, dass das zum Scheitern verurteilt ist. Letztlich sind die beiden so mit der Suche nach sich selbst beschäftigt, dass sie ihrem Gegenüber gar nicht wirklich begegnen können – außer enttäuscht zu werden und den Anderen zu enttäuschen.

RK: Das Verhalten des Prinzen legt es ja nahe, ihn als oberflächlichen Leichtfuß abzutun. Uns war es aber wichtig, auch diese Figur und ihre Sehnsüchte klar zu zeigen.

DS: Und die beiden haben ja auch erstmal Spaß miteinander. Für einen Moment hat ihr Zusammensein eine so große Unbeschwertheit, dass man ihnen wünschen würde, dass es klappt. Wie schnell sie dann in die große Krise hineinschlittern, ist die andere Frage.

In den osteuropäischen Mythen sind Rusalka und der Wassermann vertraute Figuren, allerdings oft weniger positiv gezeichnet als bei Dvořak. Wie stehen diese beiden zueinander?

DS: Bei uns ist der Wassermann das viel ältere Wesen – und schon ob seiner Erfahrung und seines Alters ist er erstmal eine Respektsfigur für Rusalka, vielleicht auch der Einzige, der noch ein Gefühl von Familie und Zusammenhalt vermittelt. Wenn er Rusalka immer wieder bittet, mit ihm zu kommen und im Reich ihrer Schwestern zu bleiben, dann hat man das Gefühl, er versucht, etwas zusammenzuhalten, worüber er keine Kontrolle mehr hat: Ihm bleibt nur das Mahnen. Rusalkas Verhältnis zu ihm ist aber nicht nur von Respekt und Zuneigung geprägt, sondern sie widersetzt sich ihm.

JR: Dass sie sich nicht aufhalten lässt, ist wichtig – oft ist den jungen Frauen in den Rusalky-Mythen etwas Schlimmes widerfahren, woraufhin sie als rachsüchtige Wassergeister wiederkehren. Auf einen Opfer-Täter-Dualismus wollten wir das nicht reduzieren, auch wenn deutlich wird, dass auch die Wasserwesen sich nicht zur Idealisierung eignen.

RK: Es ist gerade bei Rusalka entscheidend, die Momente zu finden, in denen sie sich wehrt, ihre Antriebe, Leidenschaften, ihre Energie zu zeigen – auch die destruktive.

Die wird durch eine letztlich etwas rätselhafte Figur freigesetzt – die Fremde Fürstin …

JR: Auch wenn der Prinz nicht nur ein Leichtfuß ist, ist er doch sehr wankelmütig, so schnell, wie er da von seiner Liebsten ablässt. In diesem Sinne erzählt die Fremde Fürstin zuerst etwas über den Prinzen, in einem zweiten Schritt dann auch über Rusalka, denn die Fremde Fürstin verkörpert Rusalkas Angst, ihm nicht zu genügen.

DS: Sie wirkt wie eine Katalysatorfigur, die das Unheil erst in Gang setzt, indem sie bei den anderen beiden etwas auslöst. Und dadurch, dass sie nicht inmitten einer großen Festgesellschaft, sondern als völlig singuläre Erscheinung auftritt, gewinnt sie nochmal an Durchschlagskraft. Plötzlich ist sie die märchenhafteste Figur von allen, die auftaucht und alles durcheinanderwirbelt.

Zwischen den Menschen und den Monstern steht die Hexe Ježibaba als Grenzgängerin zwischen den Welten … 

DS: Wenn man sich ihre Musik und ihren Text anschaut, hat man das Gefühl, dass sie ihre Erfahrungen und Enttäuschungen mit der Welt gemacht und daraus viel destruktive Energie gezogen hat. Mit ihrer Lust am Zerstören bringt sie eine fast anarchische Komponente in diese Welt hinein. Wobei der alte Schmerz, der bei ihr durchscheint, die Figur zwar auf eine Art greifbarer macht, aber nichts entschuldigt.

JR: Vielleicht ist das eine Art von Betäubung: ihren Schmerz mit dem Wissen zu lindern, dass andere dasselbe durchmachen.

RK: Oder sie weiß schon, dass Rusalkas Traum nicht wahr werden kann. Es ist ja keine Hilfe, die Ježibaba Rusalka zukommen lässt, indem sie ihr den Wunsch erfüllt, zum Menschen zu werden. Das ist eher ein perfides Spiel und verleiht ihr an manchen Stellen die Qualität einer Shakespeare-Hexe. Außerdem hat man bei ihr das Gefühl, dass sie viel freier entscheiden und agieren kann als die anderen Figuren.

DS: Die Freiheit, zu tun und zu sagen, was man will, ist natürlich ein Privileg. Und zerstören zu können, was man gerade will, ist ebenfalls ein Privileg, wenn auch ein fragwürdiges. Aber das ist eine Frage der moralischen Brille, durch die man das betrachtet.