Lichtgestalt in düsterer Zeit
Text: Konrad Kuhn
In: Magazin, Saison 2016/17, Mai-Juli, Oper Frankfurt, S. 10-12 [Publikumszeitschrift]
Die Figur der Jeanne d’Arc hat über die Jahrhunderte immer wieder Dichter, Maler, Komponisten, Historiker und in neuerer Zeit auch Filmemacher fasziniert. Das lothringische Bauernmädchen, das über keinerlei Schulbildung verfügte, folgte unbeirrbar dem, was sie als ihre Sendung begriff: Inspiriert von den Stimmen, die sie hörte, setzte sie sich mit Standarte und Schwert an die Spitze einer Befreiungsarmee und führte die Wende im später so genannten »Hundertjährigen Krieg« zwischen Frankreich und England herbei. Kraft ihrer Vision riss sie den schwachen französischen König Charles VII. mit und einte das gespaltene Land. Doch dann geriet sie in die Intrigen eines für sie undurchschaubaren Machtspiels und wurde in Compiègne von den eigenen Leuten an die Burgunder verraten, die sie an die Engländer verkauften. In Rouen machte ihr die Inquisition den Prozess und verbrannte sie am 31. Mai 1431 als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen. Da war sie 19 Jahre alt.
24 Jahre später kam es in Rouen zu einem zweiten Prozess. Das Blatt hatte sich gewendet: Die Engländer waren vom französischen Festland so gut wie vertrieben, Charles hatte sich als König behauptet, und die von Jeanne vorausgeahnte neue Ordnung der europäischen Nationalstaaten begann sich herauszubilden. Der Epochenwechsel vom Mittelalter zur Neuzeit schien endgültig vollzogen. Das Inquisitionsgericht rehabilitierte die »Jungfrau von Orléans« 1456. Fast fünf Jahrhunderte später, im Jahre 1920, wurde sie vom Papst heiliggesprochen, der damit eine völlige Abkehr des inzwischen weitgehend laizistisch gewordenen Frankreich von der katholischen Kirche verhindern wollte. Jeanne la Pucelle war zur französischen Nationalheiligen geworden, als die sie während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg neue Strahlkraft entfaltete.
Kurz vor Ausbruch des Krieges wurde das Oratorium Jeanne d’Arc au bûcher (Die heilige Johanna auf dem Scheiterhaufen) von Arthur Honegger und Paul Claudel, 1938 konzertant in Basel uraufgeführt, erstmals in Frankreich gespielt. Eine Tournee – im dann schon besetzten, geteilten Land – wurde zum Fanal. Drei Jahre zuvor hatte die russisch-jüdische Tänzerin, Diseuse und Mäzenin Ida Rubinstein das Werk bei Honegger in Auftrag gegeben. Der strenggläubige französische Katholik und Schriftsteller Paul Claudel hatte sich zunächst nicht dafür begeistern können, das Libretto zu schreiben: »Jeanne spricht für sich selbst. Man kann das Gold nicht vergolden, das Weiß der Lilie nicht weißer machen.« Doch dann hatte er während einer Zugfahrt ein Erlebnis, das er selbst als Vision beschrieb, und verfasste den Text innerhalb kürzester Zeit.
Jeanne d’Arc wird im Augenblick ihres Todes auf dem Scheiterhaufen gezeigt. Im Zwiegespräch mit dem Mönch Bruder Dominique zieht noch einmal ihr Leben an ihr vorüber. Schlüsselszenen wie den Gerichtsprozess in Rouen spitzt Claudel bildhaft zu, indem er den Richter Pierre Cauchon (im Französischen ist der Name gleichlautend mit dem Wort cochon = Schwein), Bischof von Beauvais, als Porcus (lateinisch für »Schwein«) auftreten lässt und den Ankläger als Esel, während die Geschworenen eine Herde Schafe sind. Das strategische Hin und Her der Mächte, in dem Jeanne zum Spielball wird, versinnbildlicht Claudel durch ein Kartenspiel, in dem die Könige, Damen und Buben zu historischen Figuren werden. Am Ende verlangt die vertierte Masse Jeannes Flammentod. Gestärkt von den Stimmen der Heiligen überwindet sie ihre Todesangst, nimmt ihr Märtyrerschicksal an und sehnt sich der uneingeschränkten Liebe Gottes entgegen.
Honegger und Claudel stellten ihrem Werk nach dem Krieg einen Prolog voran, der die soeben erlebten Zeiten der Finsternis atmosphärisch einzufangen versucht. In dieser Gestalt ging das Oratorium bald um die Welt und wurde schon 1949 auch in Frankfurt gespielt. Die Verbindung von gesprochenem Wort (große Passagen werden von Schauspielern übernommen, so die beiden Hauptrollen der Jeanne und des Bruder Dominique), Gesangspartien und monumentalen Chören wusste der Schweizer Komponist zu großer dramatischer Eindringlichkeit zu steigern. Honeggers teils avantgardistische, teils auf traditionelle Muster zurückgreifende Tonsprache, die auch ein Kinderlied integriert, passt sich Claudels wortgewaltiger Dichtung kongenial an. Im Sinfonieorchester selten anzutreffende Instrumente wie etwa das Saxofon oder die Ondes Martenot, ein elektronisches Musikinstrument aus der Zeit vor der Erfindung des Synthesizers, bereichern das raffinierte Klangbild.
Die Frankfurter Neuinszenierung stellt dem dramatischen Oratorium Jeanne d’Arc au bûcher eine Kantate von Claude Debussy aus dem Jahr 1893 voran: La Damoiselle élue (Die Auserwählte). Dieses nicht eben häufig zu hörende Frühwerk des französischen Impressionisten für Sopran, Mezzosopran und Damenchor gelangt zur szenischen Erstaufführung; ganz sicher wurde es noch nie mit Honeggers Oratorium kombiniert. Fußend auf dem symbolistischen Gedicht The Blessed Damozel des englischen Autors und Malers Dante Gabriel Rossetti, der das Sujet später auch im präraffaelitischen Stil gemalt hat, setzt Debussy seine »Auserwählte« in Szene, wie sie vom Himmel auf den Geliebten, der noch auf Erden lebt, herabschaut. Wie ein fernes Echo auf Kundry und die Blumenmädchen anmutend, gelingt dem jungen Komponisten, der damals noch ganz im Banne Richard Wagners stand, eine Momentaufnahme von sinnlicher Kraft und zart-trauernder Stimmung. Der Goldrahmen des Himmelssitzes, auf den die »Auserwählte« sich stützt, wird ebenso in Töne gefasst wie ihr verhaltener Schmerz. In der französischen Prosaübersetzung von Gabriel Sarrazin von 1883 atmet Rossettis Text den Geist Baudelaires, Verlaines und Mallarmés, die für Debussy Hauptquelle seiner Inspiration waren.
Indem dieses 20-minütige Werk zu einer Art Vorspiel des sich unmittelbar anschließenden Oratoriums wird, erlaubt es die Etablierung einer entrückten Sphäre des Jenseitigen, die in ein spannungsvolles Verhältnis zum späteren grausamen Treiben der aufgehetzten Menschen auf der Erde tritt. Und das – in der Konzeption des Regisseurs Àlex Ollé, die sich im Bühnenbild von Alfons Flores materialisiert – ganz buchstäblich. Zwei Achsen spielen ineinander: die räumliche und die zeitliche. Das Oben und Unten zwischen Himmel und Erde, mehr eine Hölle, führt der Regisseur durch die Epochen – vom 15. Jahrhundert, in dem die historische Jeanne gelebt hat, über die 1930er Jahre, in denen Honeggers und Claudels Stück entstand, bis in unsere Zeit.
Und darüber hinaus: So wie die Jungfrau von Orléans ihrer Zeit mit prophetischen Ahnungen weit voraus war, wird sie in der Inszenierung von Àlex Ollé zum Kristallisationspunkt einer Zu kunftsvision. »Eine Zukunft,« so der katalanische Regisseur, »in der sich unsere schlimmsten Erwartungen bereits erfüllt haben. Ein Europa, das von dem ›Bösen‹, das uns jetzt schon so sehr schadet, ausradiert ist, das vollkommen zerfallen ist und seine vertierte Bevölkerung dem vollständigsten Elend überlässt. Ein katastrophisches Szenario der Entmenschlichung, in dem man von der Re-Feudalisierung Europas, herabgesunken in ein ›Neues Mittelalter‹ (ein Begriff, den Umberto Eco schon in den 1970er Jahren diskutierte), sprechen muss. Die Mächtigen und die Massen dieser in Verwesung begriffenen Welt werden von dem Fanatismus verblendet, der Jeanne d’Arc am Ende auf den Scheiterhaufen bringt.«
Vor diesem düsteren Hintergrund hebt sich die Lichtgestalt der Jeanne besonders deutlich ab. Àlex Ollé: »Von heute aus betrachtet, muss man bei Jeanne d’Arc an erster Stelle auf ihr Frausein hinweisen – zu einer Zeit, in der Frauen nicht die geringste gesellschaftliche Bedeutung hatten. Erst an zweiter Stelle steht ihre auf die Zukunft gerichtete Sehnsucht, ihr Wille, die schwarze Wand des ›Bösen‹ zu durchbrechen und die Tore zu besseren Zeiten aufzustoßen. An dritter Stelle fällt ihr sehr fortschrittliches Pflichtgefühl auf, sich ethisch zu engagieren. Uns beschäftigt die Frage: »Welchen Entwicklungen sähe sie sich heute, in Zeiten politischen und sozialen Umbruchs, gegenüber?«
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- Magazin
- Oper Frankfurt
- Saison 2016/17, Mai-Juli
- S. 10-12
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