• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Saison 2015/2016, November-Dezember
  • S. 8-9

„Im gegenseitigen Anblick versunken …“

Text: Zsolt Horpácsy

In: Magazin, Saison 2015/2016, November-Dezember, Oper Frankfurt, S. 8-9 [Publikumszeitschrift]

Ein armes Dorf am Meer, eine inzestuöse, enge und perspektivlose Welt, in der Seeleute und Händler wie Daland sogar ihre Töchter verkaufen. Dieser Welt möchte Dalands Tochter Senta entfliehen und ist bereit, sich dafür an den fliegenden Holländer zu binden und ihn zu erlösen. Der Holländer selbst ist in dieser Neuproduktion eine Art Ghost Rider, ein Getriebener, ein ewiger Wanderer und mit seinen Gefährten auf der Flucht vor den eigenen Idealen und Wünschen. Senta und der Holländer: Zwei, die fliehen und doch weder ihrer Vergangenheit noch ihrer Umgebung entkommen können. Es gibt nur einen Ausweg: den Tod.

Extreme prallen aufeinander. Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten: reale Ödnis gegen Visionen von der Befreiung des Ständig-auf-der-Flucht-vor-sich-selbst-Seins, dumpfe Realität gegen Rausch. Kontraste in Bild und Klang.

Als »unterirdisch hervorbrechenden, kochenden Geiser« bezeichnete Gerhart Hauptman die Musik des jungen Richard Wagner. Offensichtlich bezog er sich auf den Fliegenden Holländer, auf diesen »Geiser, der ein unbekanntes Element empor schleudert aus dem Erdinnern…«. Der Vergleich trifft genau den Kern der verstörenden dramatischen Ballade.

Wagner hatte mit dem Stoff durch Texte von Heinrich Heine Bekanntschaft geschlossen. Zunächst als Student in Leipzig mit den Reisebildern aus Norderney und später während seiner Kapellmeisterzeit in Riga mit den Memoiren des Herrn von Schnabelewopski. Besonders faszinierte ihn die Erlösungsmotivik.

Seinen selbst verfassten dramatischen Text legte er mit exzellentem dramaturgischen Instinkt an: Das Libretto ist knapp, jede Situation, jeder Charakter präzise herausgearbeitet. Im Mai 1840 entstand das Textbuch bei Paris in einem beispiellosen schöpferischen Rausch. Nur zehn Tage brauchte er dafür. Bereits am 10. November war die Partitur fertig. Wagner selbst behauptete, er habe Sentas Ballade als »den Keim der ganzen Musik« und als »das verdichtete Bild des ganzen Dramas« zunächst geträumt, dann gedichtet und schließlich komponiert. Ob es sich wirklich so abgespielt hat, ist nicht nachgewiesen. Der Komponist stellte 1851 in Mitteilung an meine Freunde die Entstehungsgeschichte des Fliegenden Holländers als Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Idee des Gesamtkunstwerks dar. Der fesselnde dramatische Bogen der Partitur sollte »nichts von Arien, Duetten, Terzetten und all dem Zeuge« erhalten. So entwickelte er das Werk aus einem Guss und – ursprünglich – ohne Pausen.

Für Wagners späteres musikalisch-dramaturgisches Denken ist die Figur des Holländers von entscheidender Bedeutung: Er ist weder eine romantische Spukgestalt noch ein Gespenst, sondern vielmehr einer der Getriebenen der abendländischen Kulturgeschichte, ein Verwandter von Odysseus und Ahasver, dem Ewigen Juden.

Den Klangrausch der Holländer-Partitur könnte man als Stufe zwischen der deutschen, respektive französischen romantischen Oper und dem durchkomponierten Musikdrama bezeichnen. Direkte melodische Verwandtschaften mit Webers Euryanthe (1823), Marschners Der Vampyr (1828) sowie mit Boieldieus La Dame blanche (1825) und Meyerbeers Robert le diable (1831) sind dabei offensichtlich.

Die scharfen Kontraste zwischen der engen Welt Dalands, der Matrosen und der Mädchen sowie Eriks einerseits und der visionären, inneren Welt der beiden Rastlosen Senta und Holländer andererseits, stellen ein besonders wichtiges Merkmal der Partitur dar. Die Differenzen zwischen den beiden, grundsätzlich nicht miteinander zu vereinbarenden (Klang-) Welten werden streckenweise abgemildert, gelegentlich sogar aufgehoben. Doch vom Grundsatz her stehen sich die Dumpfheit einer öd-starren Hafengesellschaft und die dramatisch-bewegte Welt zweier Getriebener gegenüber.

Der fliegende Holländer enthält zwar einige mit der Titelfigur und Senta assoziierbare Motive, aber es handelt sich noch nicht um echte Leitmotive, die Wagner erst später ins Zentrum der Konzeption seiner musikalischen Dramaturgie rückt. Die Partitur ist dennoch in vielerlei Hinsicht bewundernswert: vor allem als faszinierendes Zeugnis einer unerschöpflichen musiktheatralischen Begabung mit autobiografischen Zügen. So fließen beispielsweise in die Sturmszenen seine Erfahrungen aus den Fahrten über Ost- und Nordsee ein. Er konnte dem Schrecken solcher Situationen realen Ausdruck verleihen, weil er sich an seinen eigenen Seelenzustand im Moment des Sturmes erinnerte. Es gelingt ihm, der musikalischen Darstellung von Träumen, Elend, Konflikten und Sehnsüchten eine elementare Kraft zu verleihen, die sowohl im Wagnerschen Œuvre als auch in der Opernliteratur des 19. Jahrhunderts einen Sonderstatus einnimmt.

Nach dem mäßigen Erfolg der Uraufführung am 2. Januar 1843 in Dresden sollte Der fliegende Holländer Wagner die restlichen Jahre seines Lebens beschäftigen. Noch kurz vor seinem Tod sprach er davon, dass er sowohl den Holländer als auch den Tannhäuser umarbeiten wollte. Vor allem, um ihn der Entwicklung seines Klangkonzepts anzupassen, ihn sozusagen auf den neuesten Stand zu bringen. Nach den Änderungen für diverse Produktionen in den Jahren 1844, 1846 und 1852 waren es 1860 Pariser Konzerte der Holländer-Ouvertüre, für die Wagner Eingriffe von musikgeschichtlicher Bedeutung vornahm. Er fügte Sentas Erlösungs-Motiv am Schluss der Ouvertüre ein und schuf eine neue, zehntaktige Apotheose, wobei er eine Mollkadenz benutzte, die wir in den letzten Takten des Tristan und auch der Götterdämmerung wiederfinden. Zudem änderte er das Ende der Oper im neuen chromatischen Stil des Tristan ab, was für die ersten Hörer ein vom Komponisten durchaus einkalkulierter Schock gewesen sein muss. Die Verwendung der Tristan-Chromatik vereint Senta und den Holländer in ihrer (Todes-)Sehnsucht vom Moment der ersten Begegnung an. »Sie bleiben bewegungslos, in ihren gegenseitigen Anblick versunken, auf ihrer Stelle«, wie es in Wagners Regieanweisung steht. Anstelle des abrupten Endes der Ouvertüre und des Schlusses in der Urfassung steht der Tristan-Schluss für die Vereinigung der beiden Getriebenen in der gemeinsamen Flucht in den Tod.

Nur die verstörende, elementare Kraft des Fliegenden Holländer und seine autobiografische Direktheit erklären, warum Wagners »dramatische Ballade« erst 1901, ein Vierteljahrhundert nach den ersten Festspielen, als letzte seiner »festspieltauglichen« Opern ins Repertoire von Bayreuth aufgenommen wurde.

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