• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Saison 2013/2014, Mai-August
  • S. 7-8

Spiegelsplitter

Text: Norbert Abels

In: Magazin, Saison 2013/2014, Mai-August, Oper Frankfurt, S. 7-8 [Publikumszeitschrift]

»No no, vecchio infatuato!«, ruft Don Giovanni am Ende aus, Aug’ in Aug’ mit dem »von Sinnen« geratenen Alten, dem steinernen Gast, aus dessen steifer Faust er sich so lange nicht mehr lösen kann, bis auch diese letzte Umklammerung von der Todesnacht eingeholt wird. Ein Spiegelblick in die verblassenden Leidenschaften der eigenen Seele? Das Wissen um das Ende der Verführungsmächtigkeit? Sicher auch das. Aber mehr noch. Ein immer wilder um sich greifendes Feuer vollzieht das finale Vernichtungswerk der Oper Mozarts. Die Plattentektonik der Erdkruste gerät ins Beben. Di sottera, aus dem Nabel der Welt, dringt ein dumpfer Chor; raunende tellurische Ströme, die sich ätherisch in Töne transformieren. Herabstürzende Holzbläserfiguren erklingen, Menschen und Dinge, Stimmen und Instrumente verschmelzen zu einem einzigen tönenden Pandämonium. Diese Musik mit ihrem »Anschwellen von sanfter Melodie bis zum Rauschenden, bis zum Erschütternden des Donners«, schrieb 1794 Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, enthalte beides, die Welt der ›schönen Träume‹ und die des wirklichen Lebens. Sie ist allumfassend«. Endlich wird Giovanni »vom Erdboden verschluckt«. Tod und Musik verzehren, verschlingen sich buchstäblich – ein nachgerade kosmischer Akt der Einverleibung. Giovannis letzter Laut, die auf dem Grundton der Todestonart d-Moll ausgestoßene Interjektion »Ah!« vereinigt den Schauder mit der faustischen Neugier auf die unterweltliche Topografie. Der Affektlaut muss deshalb nicht notwendig als Lamento, nicht als larmoyantes De profundis verstanden werden. Dem hier die Stunde schlägt, ist es zuzutrauen, dass er wie Orpheus noch im Hades gegen den omnipotenten Tod die Harfe zu schlagen versteht. Was kümmert einen dagegen noch das brave Schlussensemble, die moralinsaure Gardinenpredigt der Überlebenden? Deren gezählte übrige Lebensjahre werden sich in ihren besten Momenten noch speisen aus jener existentiellen Tiefe, die sie durch das Auftreten des Verführers ein einziges Mal erahnen konnten. Lorenzo Da Ponte, Mozarts Librettist, dachte beim Verfassen des Textes an Dantes Inferno, in dem es eine Vorhölle eigens für die lauen Seelen gibt, jene, die weder gut noch böse waren und ohne Tugend und ohne Schande ihr irdisches Dasein verbracht haben. Vielleicht hat der aufgeklärte Reformkaiser und Mozartverehrer Joseph II., der den Tod als Strafe abschaffen wollte, genau dies gemeint, als er Da Ponte gegenüber äußerte: »Diese Oper ist kostbar, ist göttlich, vielleicht sogar besser als der Figaro, aber sie ist keine Kost für die Zähne meiner Wiener.« Mozart soll, als er über dieses Urteil unterrichtet wurde, gesagt haben: »Man muss ihnen Zeit lassen, sie zu kauen.«

Dennoch: Was geschieht hier eigentlich? Das Sterben eines Einzelnen, der gegen alle Metaphysik der Sitten über die Stränge geschlagen hat, gerät zum Spiegel eines Weltenbrandes. Welche Kulisse! Spiegelbilder sind indessen ambivalent. Narziss verliebt sich beim Blick ins Wasser in sein eigenes Konterfei. Die Königin im Märchen erfährt vor dem Spieglein bestürzt den Zusammenbruch ihres Schönheitsmonopols. Unsterblichen, Seelen- und Schattenverkäufern sowie Vampiren entzieht sich ihr Spiegelbild. In der Trauer werden Spiegel verhängt. Dorian Gray aber, der den fleckenlosen, lilienweißen Glanz ewiger Jugend auch durch die Last der Jahre zu konservieren unternimmt, erfährt kurz vor seinem Zusammenbruch im Anblick seines eigenen Bildes, des Gesichtes seiner Seele, das ihn nun mit greisenhaftem Hohn, welk, runzlig und Abscheu erregend, anstarrt, die eigene Todesverfallenheit. Er erkennt, dass die dämonische Gewalt seiner Selbstliebe nur Blendwerk war. Er zertritt, voller Hass auf den Götzen ewiger Jugend, dem er verfallen, den Spiegel in silberne Splitter. Das ist das Schicksal der Eroberer: ihre transzendente und nicht umkehrbare Einsamkeit. Solchen Konquistadoren der Seele kann es nicht gelingen, die Anderen als autonome Lebewesen wahrzunehmen, sie in ihrer eigenen Schönheit zu begreifen und ihre Seele unokkupiert zu bewahren. Für Eroberer gilt, dass die Welt außerhalb ihrer Wahrnehmung nicht sein kann. Sie fühlen sich als fensterlose Monaden, als Spiegel eines Universums, das einzig und allein ihr eigenes ist. Wie Dorian Gray erlebt Don Giovanni den Zusammenbruch seines vom narzisstischen Impuls geprägten Ich-Ideals als Untergang seiner Verführungsgewalt. Dieses Ich erblickt in sich selbst voller Schrecken die eigene, längst überwunden geglaubte Überinstanz. Gleichsam als sich selbst richtende, zum steinernen Monument erstarrte Vaterfigur nimmt sie sich im Moment ihres Scheiterns wahr. Am Ende aber lehnt dieses Selbst bei Da Ponte und Mozart sich nochmals auf, revoltiert gegen die paternalistische Vereinnahmung. Giovanni tritt als Empörer, als Höllen- oder Himmelsstürmer von der Szene ab.

Noch ein weiterer Spiegelaspekt, diesmal aber kein abgründiger, tut sich auf. Wann je zuvor sah ein Opernpublikum sich selbst mit all seinen Eitelkeiten, Schwächen und Lieblosigkeiten, aber auch mit seinen Sehnsüchten und Liebesverlangen im doppelten Sinne des Wortes so reflektiert? Alle drei in Zusammenarbeit mit dem venezianischen Librettisten Lorenzo Da Ponte entstandenen Opern gestatteten keine Entrückung mehr ins längst Vergangene, in antike Mythologie oder weit zurückliegende Historie; auch nicht in die Märchenwelten der Zauberpossen. Alle drei Werke, Le nozze di Figaro, Don Giovanni und Così fan tutte erzählen von der condition humaine schlechthin, vom unstillbaren Verlangen nach Liebe und dem Versagen auf der ewigen Jagd nach ihrer Erfüllung. Sie sind in tiefem Sinne zeitlos. Jeder kann ihre dramatischen Bilder mit dem eigenen Leben in Verbindung setzen. In Mozarts musikalischem Tryptichon, in dem die aufs Äußerste mit dem szenischen Fortgang vermittelte Musik, ohne ihren eigenen, autonomen sinfonischen Charakter aufzugeben, selbst zum dramaturgischen Handlungselement wird, spiegelt sich noch heute unsere eigene Maske nicht minder als unsere eigene Seele wider.