• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • März/April 2013
  • S. 6-7

Seestürme, Furien und Übermächte

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Text: Zsolt Horpácsy

In: Magazin, März/April 2013, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]

Die erste Aufführung muss einen Schock ausgelöst haben. Idomeneo provozierte, stellte plötzlich alles infrage und sprengte die Tradition der Opera seria von innen heraus. In seinen stärksten Momenten schien diese Partitur die gesamte Gattung neu zu erfinden. Ihre Sonderstellung in Mozarts Œuvre war somit schnell gesichert und er selbst hielt Idomeneo lange für sein bestes Bühnenwerk. Verunsichert und wenig verständnisvoll reagierte hingegen die Nachwelt und versuchte mehrmals durch fragwürdige Bearbeitungen, die vermeintlich klassischen Proportionen wiederherzustellen.

Mozarts Idomeneo entstand in einer Phase der Übergänge und des Umbruchs (1780–81), in einer Zeit, als sich bereits tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen ankündigten. In der Geschichte der Oper neigte sich die Epoche der Opera seria dem Ende zu, wobei die strenge Form der Libretti von Pietro Metastasio plötzlich hinterfragt wurde. (Ein Libretto wie Idomeneo von Giambattista Varesco hätte es wenige Jahre vorher schwer gehabt, als Opernlibretto akzeptiert zu werden.)

Im Sommer 1780 erhielt Mozart den Auftrag, für die Karnevalszeit eine »große Oper« für das Münchner Hoftheater zu verfassen. Die aufführungspraktischen Voraussetzungen in München waren denkbar gut: Als Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz Ende 1778 von Mannheim nach Bayern übersiedelte, brachte er seine Theatertruppe, sein Sängerensemble und das Mannheimer Orchester mit, worüber sich Mozart bereits in einem Brief an Vater Leopold erstaunt geäußert hatte. Außerdem hatte Mozart mit dem Münchner Theaterintendanten Joseph Anton Graf Seeau 1775 für seine Opera buffa La finta giardiniera, seiner ersten Oper in der Residenzstadt, erfolgreich zusammengearbeitet. Die Form der Vertonung war durch den offiziellen Anlass am Münchner Hof vorgegeben.

Die Korrespondenz des 25-jährigen Mozart mit seinem Vater bezeugt, wie wenig er von Varescos Text hielt. Seine Änderungen, Kürzungen und Umstellungen weisen jedoch auf einen außergewöhnlichen und intensiven Schaffensprozess hin. (»… nun muss ich schließen, denn ich muss über Hals und Kopf schreiben; komponiert ist schon alles, aber geschrieben noch nicht …«)

Mozart, der sich Hoffnungen auf eine Anstellung in München gemacht hatte, wurde – wie so oft in seinem Leben – auch diesmal nicht ernst genommen. Diesen Umständen verdanken wir zwar nicht die populärste, doch sicherlich die »wildeste« und impulsivste Mozart-Oper.

Die Problematik des Idomeneo-Textbuches lag nicht in Varescos Fähigkeiten, sondern in der Aufgabe, die ihm gestellt worden war: nämlich die Tradition der französischen Oper, mit ihren mythologischen Handlungselementen, dem italienischen »dramma per musica« anzupassen. Damit blieb dem Textdichter nichts anderes übrig, als in eine ursprünglich fünfaktige »tragédie lyrique« – André Campras Idomenée (1712) – rührende Situationen und pittoreske Bilder einzubauen. Trotz alledem empfand Mozart den »Verschnitt« aus französischen und italienischen Elementen inspirierend.

Varescos Libretto trägt die Züge zweier Genres und zeigt auch Spuren der verschiedenen Vorlagen. Die daraus resultierenden Brüche und Widersprüche waren für das musikalische Konzept letztlich ein Glücksfall. Mozart verbindet die Handlungselemente und formt sie zu einer Geschichte von elementarer Kraft. Die Partitur brodelt geradezu über von Einfällen – Takt für Takt führt er neue Farben, Facetten oder neue Charakterzüge ein. Der Mut und die dramatische Energie seiner Musik sprechen dafür, dass Idomeneo zu Recht als Übergang von den Jugendwerken zur reifen Schaffensphase angesehen wird. Die Einzigartigkeit der Partitur ist keineswegs auf den mythologischen Stoff oder auf die Qualitäten des Librettos zurückzuführen. Mozarts Probleme mit der poetischen Qualität der Varesco-Texte und einer durchwachsenen Sängerbesetzung wurden durch das hervorragende Mannheimer Orchester aufgewogen. Seine Fantasie wurde vom »Mannheimer Klang« beflügelt: Selten hat er sich so stark vom orchestralen Glanz inspirieren lassen wie hier.

Durch seine differenzierte Charakterisierung wird jede Figur (auch die kleineren Partien) in ihrer Komplexität direkt erlebbar. So ist die von den »Furien« ihrer Vergangenheit gejagte Elektra zugleich als liebende Frau voller Hoffnung dargestellt. Ilias Porträt ist geprägt von ihrer Zerrissenheit zwischen Rache und Liebesgefühl, Bitterkeit und Sanftmut.

Das Quartett, das musikalische Zentrum der Oper, führt die Protagonisten Idomeneo, Idamante, Ilia und Elektra zusammen: Vier Menschen, die einander lieben oder sich bekämpft haben, sehen sich betroffen und wehmütig an. Für diese Szene erfindet Mozart ein neues kompositorisches Prinzip zur Veräußerlichung von verschiedenen Innenwelten und schafft eine neue Form der musikalischen Dramaturgie.

Auch die groß angelegten Chorszenen sollen die ersten Zuschauer überrascht haben – der Chor fungiert nicht als pures »Ornament«, um bestimmte Tableaus auszuschmücken. Vielmehr stärkt seine elementare Kraft (z.B. im Sturmchor) die Dramatik des Bühnengeschehens. Statt dem Drama bloß zu dienen, wird das dramatische Geschehen vom Chorklang erzeugt.

In Idomeneo sind Mozarts Figuren von einem zwiespältigen Menschenbild geprägt. Sie bewegen sich in existentiellen Grenzsituationen, sie sind stets emotionalen Wechselbädern ausgesetzt. In seiner »Sturm-und-Drang«-Oper lässt Mozart die Naturgewalt auch im Orchester aufwallen. Übermächte sind im Spiel. Sie zwingen den Herrscher, seine Schuld zu erkennen, vor anderen einzugestehen und schließlich zu Gunsten seines Sohnes abzudanken.