Zum Werk
Text: Agnes Eggers
In: Magazin, Mai-Juli 2012, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]
Was bleibt am Ende eines Lebens? Schöne Erinnerungen? Ernüchterung? Schuldgefühle? Die meisten Menschen erkennen zu spät, dass sie ihre einstigen Ziele verfehlt haben.
In Igor Strawinskys einziger abendfüllender Oper, dem 1951 uraufgeführten Dreiakter The Rake’s Progress, geht es um nicht weniger als die Faust’sche Frage, was uns im Leben vorantreibt und was uns scheitern lässt.
Zur Zeit der Entstehung von The Rake’s Progress lebt Igor Strawinsky in Hollywood. Er ist Ende sechzig, weltberühmt, in zweiter Ehe glücklich verheiratet, hat seine größten Erfolge bereits hinter sich, denkt aber nicht daran, die Hände in den Schoß zu legen. Ständig aktiv – am Klavier, am Dirigentenpult und beim Komponieren am Schreibtisch – sind sie das genaue Gegenteil der im Epilog von The Rake’s Progress mahnend thematisierten »faulen Hände, für die der Teufel eine Beschäftigung findet«. Strawinsky blickt zurück auf ein wechselvolles Leben – und wirkt nach wie vor getrieben. Neugierig und lebenshungrig, nimmt er für sich nicht in Anspruch, jemals fertig zu sein, sondern bleibt bis zuletzt ein Suchender.
Geboren 1882 nahe St. Petersburg, in Oranienbaum (heute Lomonossow) am Finnischen Meerbusen, wo seine Familie regelmäßig die Sommermonate verbringt, scheint er einer Idylle, einem Künstler-Paradies zu entstammen. Die zahlreichen Paläste und Parks von Oranienbaum dienen zur Zeit seiner Geburt als Sommerresidenzen der königlichen Familie und des Adels; bedeutende Schriftsteller und Komponisten wie Turgenjew und Mussorgski verkehren hier. Auch Igors Vater, Fjodor, gehört zur Künstlerelite: Er ist ein gefeierter Sänger des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg. Zu seinen wichtigsten Partien zählt die des Méphistophélès in Gounods Faust.
Der junge Strawinsky erlebt den Vater in zahllosen Proben und Vorstellungen, er malt den Blick von seiner Loge auf die Bühne, er hört, sieht, lernt – das Theater wird sein zweites Zuhause. Doch die Eltern sehen in seiner Vorliebe für die Musik »nichts als Liebhaberei« und zwingen ihn zum Jurastudium. Ein Onkel mütterlicherseits ist zunächst der Einzige in der Familie, der an sein Ausnahmetalent glaubt. Strawinsky muss sich beweisen. Anders als der aufstrebende Tom Rakewell in The Rake’s Progress vertraut er nicht darauf, dass ihm der Erfolg in den Schoß fällt. Mehrere Todesfälle und die erste Liebe lassen Strawinsky reifen: In seiner Cousine Ekaterina, die er 1906 heiratet, erkennt er eine Seelenverwandte, die ihn auch als Kritikerin seiner Werke unterstützt. Bereits 1902 verliert er seinen Vater. »Durch seinen Tod kamen wir uns näher«, kommentiert Strawinsky das schwierige Verhältnis. Noch vom Sterbebett des Vaters aus sucht er Kontakt zu Nikolai Rimski-Korsakow. Selbstbewusst schickt er der Präsentation eigener Kompositionsversuche die Anmerkung voraus, ein negatives Urteil werde ihn in dem Glauben an seine Berufung nicht beirren. Strawinsky findet einen Lehrer und einen Ersatzvater in dem Altmeister. Als Rimski-Korsakow sechs Jahre später stirbt, widmet Strawinsky ihm ein Chant funèbre, dessen chromatische Harmonik bereits den Weg in Richtung Feuervogel weist.
Strawinskys steile Karriere beginnt mit seiner Entdeckung durch einen findigen Impresario: Angetrieben von Sergej Diaghilew, der in St. Petersburg die interessantesten Künstler Russlands und Frankreichs um sich schart, nimmt Strawinskys Entwicklung Fahrt auf. »Die Welt der Kunst«, schreibt Léon Bakst über die hochgesteckten Ziele dieser Avantgarde-Bewegung, »reicht über das Irdische hinaus bis zu den Sternen«. Immerhin: Mit den bahnbrechenden Ballettwerken Feuervogel, Petruschka und Le sacre du printemps komponiert sich Strawinsky an die Spitze der Kunstschaffenden seiner Zeit und wird mit einem Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood verewigt. Dennoch erlangt er erst spät finanzielle Unabhängigkeit und ist lange auf Mäzene angewiesen. (Diaghilew pflegt Strawinskys legendäre Geldsorgen mit dem Bonmot zu verhöhnen, das »-or« in »Igor« bedeute »Gold«.) In Paris gefährdet er durch ein Verhältnis mit Coco Chanel, die ihn mit Frau und Kindern bei sich wohnen lässt, seine Ehe. Strawinsky droht abzuheben: Karriere und Egozentrik gehen Hand in Hand. Als Ekaterina stirbt, scheint die zweite Ehe mit der Tänzerin Vera de Bosset ihn zu erden und zumindest in Liebesfragen zu beruhigen. Tourneen führen ihn bis ins hohe Alter auf alle Kontinente; russische, französische und amerikanische Staatsbürgerschaften sind ein Indikator seiner lebenslangen Rastlosigkeit – oder auch Ausdruck der Bereitschaft, sich immer wieder neu zu erfinden. Noch über den Tod hinaus reist er um den halben Erdball: Gestorben in New York, wird Strawinsky auf seinen Wunsch hin schließlich in Venedig, dem Uraufführungsort von The Rake’s Progress, zu Grabe getragen.
Doch so grenzüberschreitend seine Lebens- und Wirkungsgeschichte auch sein mag – Strawinsky ist darauf bedacht, sich zu kontrollieren. Die Frage: »Bin ich denn verpflichtet, mich in diesem Abgrund von Freiheit zu verlieren?« beantwortet er in seiner Musikalischen Poetik mit einem Plädoyer für das »Königreich der Beschränkung«: »Meine Freiheit besteht also darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe. Je mehr Zwang man sich auferlegt, um so mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.«
Den Rahmen für sein Opernprojekt The Rake’s Progress steckt zunächst eine zweihundert Jahre alte Vorlage: Im Mai 1947 besichtigt Strawinsky in Chicago eine Ausstellung mit Bildern des englischen Malers William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert. Acht satirische Kupferstiche unter dem Titel A Rake’s Progress wecken sein Interesse. Der Zyklus zeigt die zweifelhafte Karriere eines jungen Lebemanns mit dem klingenden Namen »Rakewell« (»to rake money« heißt »Geld scheffeln«, »a rake« ist ein »Lebemann«). Tom Rakewell lässt sich durch eine reiche Erbschaft in London zu einem unmoralischen Leben verführen. Er verprasst sein Geld, betrügt seine Verlobte und endet schließlich im Irrenhaus
Strawinsky beschließt sofort, den Stoff zu vertonen, und zieht W. H. Auden als Librettisten heran. Die beiden Wahlamerikaner nehmen sich gegenüber Hogarth einige interpretatorische Freiheiten heraus, um den Vor-Bildern im Rahmen des Mediums Oper neues Leben einzuhauchen. Die satirische Distanz, die Hogarths Bilderflächen zum dargestellten Geschehen einhalten, weicht zugunsten vertiefender Einblicke in die Psyche: Es wird möglich, mit dem Antihelden zu sympathisieren.
Bereits der Einstieg in die Bühnenhandlung baut tragische Fallhöhe auf: Wir lernen den Protagonisten Tom im Kontext einer heilen Welt kennen, die fast zu schön ist, um wahr zu sein. Tatsächlich wird das Liebesidyll der ersten Szene am Ende der Oper nur mehr als nostalgische Fantasie eines geistig Verwirrten reanimierbar. Höchst poetisch stilisieren sich Tom und seine Verlobte Ann, die durch den Beinamen Trulove ohnehin schon zum romantischen Liebesideal erhoben wird, als Venus und Adonis im Rausch von Frühlingsgefühlen. Toms leibliche Herkunft liegt im Dunkeln; sie wird etwas obskur thematisiert, als Nick Shadow auftritt. Die neu hinzuerfundene Figur erscheint als diabolisches Alter ego des übermütigen Tom – und nähert die Handlung auffallend der Geschichte vom Soldaten an, die Strawinsky schon drei Jahrzehnte zuvor komponiert hatte. Shadow stellt sich als Gesandter eines soeben verstorbenen unbekannten Onkels vor, der mit Toms Eltern zerstritten gewesen sein soll und den jungen Mann als einzigen Erben bestimmt hat. Die Nachricht aus dem Schattenreich, verbrämt mit der Aussicht auf materiellen Reichtum, wirkt als Handlungskatalysator. Denn sie treibt Tom aus seiner überschaubaren Idylle in die Großstadt, wo er sich auf der Suche nach seiner Bestimmung selbst verliert. Tom Rakewell wächst nicht an den Herausforderungen, die ihm das Leben stellt, sondern ist zum Absturz verurteilt, weil er alles überstürzt. So scheitert er an den Glücksversprechungen der neuen Welt, die ihn überfordert und verwirrt. Hin- und hergerissen zwischen dem Drang nach vorn, nach Fortschritt, und der Sehnsucht nach der wahren Liebe, die er zurückgelassen hat, entgleitet ihm das Hier und Jetzt. Seine Sinne schwinden, die Zeit läuft ab. Der Weg zurück ins Paradies heißt Traum, Wahnsinn, Tod…und Theater! Ein Epilog lässt Rakewell wieder aufleben und vom Publikum Abschied nehmen – bis zur nächsten Vorstellung.
Die Oper The Rake’s Progress ist ein kongeniales Stück Welttheater, das im besten Sinne zeitlos wirkt. Beim ersten Kontakt mag der Eindruck überwiegen, Strawinsky zeige sich hier erstaunlich rückwärtsgewandt: Er bedient sich eines Stoffs aus dem 18. Jahrhundert und knüpft musikalisch an die Klassik an, indem er eine Nummernoper (Secco-Rezitative inklusive!) komponiert. Als hätte es Wagner und die unendliche Melodie nie gegeben, stolpert Strawinskys Antiheld – dem Ausschnitthaften der Bild-Vorlagen von Hogarth entsprechend – von einer Situation zur nächsten. Noch dazu spielt Strawinsky mit Anklängen an Händel und Mozart, so dass sich der Zuhörer immer wieder zu Assoziationen mit Altbekanntem (darunter Don Giovanni und Così fan tutte) angeregt fühlt. Doch getreu Strawinskys Motto »Ich lebe weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft: Ich bin in der Gegenwart« äußert sich hierin nicht die Bequemlichkeit eines Plagiators, sondern die Intelligenz eines Konstrukteurs, der seine eigene Lebensgeschichte künstlerisch zu verfremden versteht. Strawinsky nutzt Wiedererkennungseffekte, um eine Oper über die Gattung Oper zu kreieren. Hierbei wird sich das Publikum seiner Hörerfahrungen sowie der Neigung zur Realitätsflucht in die »gute alte Zeit« bewusst, an welcher Tom Rakewell schließlich verzweifelt. Unerwartete Dissonanzen, eckige Rhythmen und drastische Stilwechsel schärfen die Sinne für das Gemachte der schönen Gegenwelt der Oper und lassen uns letztlich in der eigenen Realität ankommen.
The Rake’s Progress
Igor Strawinsky 1882–1971
Oper in drei Akten I Text von W. H. Auden und Chester Kallman I Uraufführung am 11. September 1951, Teatro La Fenice, Venedig
Premiere: Sonntag, 20. Mai 2012 I Weitere Vorstellungen: 24., 26., 28. Mai; 1., 3., 9. Juni 2012
In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Mitwirkende
Musikalische Leitung Constantinos Carydis I Regie Axel Weidauer I Bühnenbild Moritz Nitsche I Kostüme Berit Mohr I Licht Joachim Klein Dramaturgie Agnes Eggers I Chor Matthias Köhler
Trulove Alfred Reiter I Ann Trulove Brenda Rae I Tom Rakewell Paul Appleby I Nick Shadow Simon Bailey I Mother Goose Barbara Zechmeister Baba the Turk Paula Murrihy I Sellem Peter Marsh I Keeper of the madhouse Vuyani Mlinde
Die Oper Frankfurt und der Patronatsverein laden ein: Oper extra zu The Rake's Progress am Sonntag, 13. Mai 2012, 11.00 Uhr im Holzfoyer