• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Mai-Juli 2012
  • S. 16-17

Igor Strawinskys neu komponierte Klassik

Text: Wolfgang Dömling

In: Magazin, Mai-Juli 2012, Oper Frankfurt, S. 16-17 [Publikumszeitschrift]

Prof. Dr. Wolfgang Dömling publizierte Arbeiten über Musik des Mittelalters, Musik des 19. und 20. Jahrhunderts sowie über Methodenprobleme der Musikgeschichtsschreibung. Für »rowohlts monographien« verfasste er die Bände Hector Berlioz und Igor Strawinsky.


»Meine Musik schockierte ihn so, dass er lange Zeit mit einem Gesicht umherging, das ›Das beleidigte 18. Jahrhundert‹ auszudrücken schien« – so erinnerte sich der alte Igor Strawinsky amüsiert an die Reaktion Sergei Diaghilews auf die Musik zum Ballett Pulcinella (1919–1920), die der Impresario Diaghilew für seine ›Ballets Russes‹ in Auftrag gegeben hatte und die, als eine Pergolesi-Bearbeitung, in der Linie der harmlos-heiteren Zubereitungen älterer Musik (darunter Respighis heute noch bekannte Rossini-Bearbeitung La Boutique fantastique, 1919) stehen sollte. Strawinskys Pulcinella-Musik nun war gerade das Gegenteil einer gefälligen, »peinlich gesitteten Instrumentation von etwas sehr Lieblichem«, was Diaghilew erwartet hatte. Pulcinella unterscheidet sich, was auch dem wenig geübten Hörer sogleich klar wird, aufs Schärfste von bloßen Arrangements und auch von pfiffigen Anverwandlungen alter Musik wie etwa bei Prokofjew (Symphonie classique, 1917) oder Richard Strauss (Der Bürger als Edelmann, 1918). Der Grund liegt weniger in der oft schrill disparaten Instrumentierung als in Strawinskys Verfahren der Bearbeitung. Er verändert die Tempi, die gleichmäßige Metrik und Periodenlänge der Vorlagen, zerstört das Gefüge der tonalen Harmonik durch verschobene Kombinationen, fügt Stücke krass diskrepant aneinander. Das ist kein Liebäugeln mit der Vergangenheit, das ist auch nicht bloße Dissonanzen-Würzung alter Musik, womit sich manch andere begnügten.

Alte Musik ist hier zum ersten Mal nicht ein ›gutes Altes‹, das man verehrt, nachahmt, brav arrangiert, sondern es wirkt wie Neues: Strawinskys Verfahren verletzen permanent die Erwartungen von Gewohntem, lassen die – auseinandergenommenen, dekomponierten – Elemente des Alten als schockierend neu erscheinen. Entsprechend war Strawinsky schon vorher mit Materialien ›niederer‹ Musik verfahren: in der Histoire du soldat (1918), in den witzigen Miniaturen der vierhändigen Klavierstücke (1915), ja bereits in nicht wenigen Partien von Petruschka (1911). Mit Pulcinella greift Strawinsky erstmals in den Fundus der europäischen Musikgeschichte und erfüllt ihn auf seine Weise – eben auf die Weise einer neuen Musik – mit Leben. Einen Zusammenhang dieser Wende mit Strawinskys Lebenssituation darf man vermuten: Strawinsky hatte 1914 Russland verlassen und lebte, zunächst unter heiklen materiellen Verhältnissen, als Emigrant zuerst in der französischen Schweiz, dann, 1920 bis 1939, in Frankreich; 1934 erwarb er die französische Staatsbürgerschaft. Pulcinella, sagte Strawinsky rückblickend, »war meine Entdeckung der Vergangenheit, eine Epiphanie, durch die mein späteres Werk möglich wurde«.

Wie schon zuvor die für Diaghilew geschriebenen Ballette Strawinskys (Der Feuervogel 1910, Petruschka 1911, Le sacre du printemps 1913) hatte auch Pulcinella seine Premiere in Paris, 1920. Paris war zwischen den Weltkriegen das lebendigste musikalische Zentrum in Europa, geprägt von einer illustren Schar Pariser wie ausländischer Komponisten – Milhaud, Honegger, Poulenc, Dukas, Roussel, Koechlin, Varèse, Martinu˚, Prokofjew und manche andere. Auch das Amerikanische Konservatorium unter Nadia Boulanger spielte eine wichtige Rolle, und natürlich wurde das künstlerisch-intellektuelle Klima auch wesentlich mitbestimmt von den Malern und den Schriftstellern, auch den amerikanischen. Unbekümmert heitere Leichtigkeit, respektfreie Aufmüpfigkeit gegen Überlieferungen und erhabene Traditionen: Das war in der französischen Musik schon gegen Ende des vorherigen Jahrhunderts ein vertrauter, liebenswürdiger Zug – bei Saint-Saëns, Chabrier und Offenbach, sogar bei dem eher ernsthaften Debussy (der in Children’s Corner den Tristan verulkte) und natürlich bei Satie, dem Pariser Kauz vom Dienst, der in seiner Sonatine bureaucratique (1917) sozusagen auf Kabarett-Niveau mit Clementis (vom Klavierunterricht her zum Überdruss bekannter) Sonatine etwas Ähnliches anstellte wie Strawinsky mit Pergolesis Musik. Und kein Wunder auch, dass der sogenannte Jazz, mitgebracht von den alliierten amerikanischen Soldaten, in Paris seine ersten europäischen Enthusiasten fand – auch in Strawinsky, der sogleich den Ragtime (1918) und die fulminante Piano-Rag-Music (für Arthur Rubinstein, 1919) schrieb und der auch späterhin, deutlich hörbar etwa im Klavierkonzert (1924), harmonische und vor allem rhythmische Elemente dieser Musikart immer wieder genauso als ›Bausteine‹ verwendete wie diejenigen der ›Klassik‹.

Abgesehen von der Ballettmusik Le baiser de la fée (1928), einer Tschaikowski-Instrumentation, schreibt Strawinsky keine weiteren ›Bearbeitungen‹ alter Musik mehr (erst im Alter kommt er darauf zurück und befasst sich mit Bach, Gesualdo, Gabrieli); er komponiert vielmehr Werke aus und mit Materialien alter Musik. Zunächst orientiert er sich an der Musik J. S. Bachs (die ja in den 1920er Jahren ganz groß in Mode kam, in Deutschland ebenso wie in Paris, wo Wanda Landowska auf ihrem mächtigen, von Pleyel eigens konstruierten Cembalo die Bach-Interpretation maßgeblich bestimmte), bald aber auch an Beethoven (den, seiner emphatischen Expressivität wegen, Strawinsky eigentlich gar nicht leiden mochte), an Haydn, an der französischen Klassik eines Lully, an Verdi und Monteverdi, überhaupt an der großen Musik, die das europäische »musée imaginaire« bereithielt. Selbstverständlich übernahm Strawinsky weder Formen noch Satztypen aus der Vergangenheit, und überhaupt ist niemals ein einziges Stilmodell dominant. Strawinsky komponiert, kurz gesagt, klassische Musik neu, auf seine Weise, aus Elementen der ›klassischen Musik‹ (und auch, wie gesagt, nicht nur der ›klassischen‹). Genau dies meinen die französischen Begriffe »néoclassic« und »néoclassicisme«, die sich in positivem Sinne in den 1920er Jahren, eben unter dem überwältigenden Eindruck der neuen Musik Strawinskys, im französischen Musikbereich einbürgerten – auf deutsch also: »neoklassisch« und »Neoklassik«. (Dem französischen »classicisme«, ähnlich auch im Englischen oder Russischen, entspricht im Deutschen das Substantiv »Klassik«, nicht etwa »Klassizismus«. Man möchte vermuten, die deutsche Wortprägung »Neoklassizismus« – ein Unwort! – sei eine polemisch absichtlich verfälschende Übersetzung; Theodor W. Adorno verwendete sie seit etwa 1930 in negativer Intention, vor allem dann in seiner Kampfschrift von 1949, in der er Strawinsky als »reaktionär«, ja, infam das Freud’sche Vokabular benutzend, als »regressiv« brandmarkt und gegen den vermeintlich einzig »fortschrittlichen« Schönberg ausspielt.)

The Rake’s Progress, Strawinskys singuläres Unternehmen einer »neoklassischen« Oper, bedeutete für ihn, wie er gleich nach Beendigung der Komposition mitteilte, das Ende eines großen Schaffensabschnitts. Im Jahr der Uraufführung 1951 war Arnold Schönberg gestorben – in Hollywood lange Jahre fast Strawinskys Nachbar, ohne Kontakte freilich –, und nun gehörte eben auch Schönberg, der 1925 in einer kindischen Satire Strawinsky als »kleinen Modernski« mit Bach-Perücke verhöhnt hatte, zu den ›alten Meistern‹ einer Vergangenheit, von denen man lernen und die man ›neu komponieren‹ konnte (»mit Genehmigung des Meisters«, wie Strawinsky spaßig unter seine Bach-Bearbeitung 1956 schrieb): Strawinsky experimentierte jetzt also mit der Zwölftontechnik. Und ein Jahrzehnt später sah er überhaupt die ganze Epoche der Neoklassik in breiterer geschichtlicher Perspektive und sprach von »drei neoklassischen Schulen: von Schönberg, Hindemith und von mir selbst«.