Salvatore Sciarrino
Text: Agnes Eggers
In: Magazin, Mai-Juli 2011, Oper Frankfurt, S. 17 [Publikumszeitschrift]
An einem Sommernachmittag im toskanischen Montepulciano begegnet mir Salvatore Sciarrino vor dem Teatro Poliziano – den Blick besorgt auf seine Hände gerichtet. In ihnen liegt ein verletzter Jungvogel, dem der Komponist das Leben retten möchte. Die Generalprobe zur italienischen Erstaufführung seiner Oper Luci mie traditrici steht kurz bevor, doch nun hat das kleine Geschöpf Sciarrinos ganze Aufmerksamkeit.
Natur und Kunst bilden im Schaffen des Sizilianers, der sich als Autodidakt bezeichnet, eine Einheit und keinen Widerspruch. Er selbst sei »beinahe im Theater geboren« und habe seine Musik der »Banalität« seiner Vita und seines Gesichts entgegengestellt. Die Auseinandersetzung mit Werken früherer Epochen vergleicht Sciarrino einem »täglichen Anblick der Medusa«, der kreative Prozess ist für ihn »genuin weiblich«. Er spricht davon, »organische«, ja sogar »ökologische Musik« zu komponieren. Tatsächlich erweisen sich viele seiner zugleich nachhaltigen und zukunftsweisenden Werke als »Früchte der Vergangenheit«, entwachsen sie doch einer eigenwilligen Beschäftigung mit musikalischen Vorläufern. Der Humus, auf dem Luci mie traditrici, seine »Renaissance der Musiktragödie«, gedeiht, ist eine Elegie aus dem 17. Jahrhundert, die im Prolog fast unverändert erklingt, in Zwischenspielen weitere Metamorphosen durchläuft und sich schließlich gleichsam in der Neukomposition auflöst. Es ist, als schiene die Vergangenheit in einer Erinnerung auf, die sich in der Gegenwart zunehmend verselbstständigt. »Ökologisch« wirkt seine Musik auch insofern, als sie oftmals von Naturgeräuschen inspiriert ist. So wird in Luci mie traditrici das Zirpen der Zikaden und das Flirren der Luft zum subtilen Anzeiger für die innere Unruhe der Protagonisten. Innen und Außen scheinen nicht voneinander trennbar, das gesamte Gefüge reagiert äußerst sensibel auf die kleinste Veränderung.
Sciarrinos Kompositionen, mit Obertönen und komponierten Atemgeräuschen die Grenzen des Wahrnehmbaren abtastend, werden in höchster Konzentration, abseits der großen Städte erarbeitet. Denn: »Das Problem ist nicht, etwas nie Gehörtes zu schaffen, das Problem ist, neu zu hören. Wir müssen das Ohr regenerieren.« Geboren in Palermo, lebt Sciarrino seit 1983 in dem umbrischen Städtchen Città di Castello. Nicht immer war die kreativitätssteigernde Isolation selbstgewählt: 1997, nach einem schweren Verkehrsunfall in Mailand, war Sciarrino vier Monate lang dazu gezwungen, bewegungslos im Bett zu liegen. Zu dieser Zeit entstand Luci mie traditrici – ein Werk, das seither international ein großes Publikum in seinen Bann gezogen hat.