• Foyer5
  • Landestheater Linz
  • # 19 | Frühjahr 2021 - Stream a dream. Netzbühne-Online
  • S. 14-16

#sehnsuchtsorttheater

Das Theater und die Pandemie

Text: Andreas Erdmann

In: Foyer5, # 19 | Frühjahr 2021 - Stream a dream. Netzbühne-Online, Landestheater Linz, S. 14-16 [Publikumszeitschrift]

Theater und Epidemie stehen sich, wie wir wieder einmal sehen, als Antagonisten gegenüber. Das Theater als die Kunst, die Menschen zusammenbringen will, die Epidemie als der Verhinderer von eben diesem, als Feind öffentlicher Aufführung und Spielzeiten-Be-Ender. Doch so sehr die zwei ein unmögliches Paar sind, sind sie jedenfalls kein junges Paar. Und schauen wir in ihre Geschichte, stellen wir fest, dass unser europäisches Theater kaum so aussähe, wie wir es kennen, hätten sich Pest und Krankheit nicht an vielen Stellen in seinen Gang eingemischt. Im Alpenländischen kennt man Passionsspiel-Orte, deren Einwohner*innen gelobten, Christi Leiden bis zum Jüngsten Tage theatralisch aufzuführen, wenn sie dafür von der Pest verschont blieben. Aber sogar William Shakespeare fing durch einen Pestausbruch mit dem Verfassen von Theaterstücken an. Und das sind nur zwei Episoden einer bewegten Geschichte. 

SHAKESPEARE
Shakespeares Werk ist eingerahmt von schweren Pestjahren: 1593 war ein solches, 1606 auch. 1593 wurden darum die Theater Londons zugesperrt. Und der junge Shakespeare gehörte zu den wenigen Glücklichen unter den Künstlern, die einen adligen Patron hatten – in seinem Fall den Earl of Southhampton –, der sie in Quarantäne mit auf einen Landsitz nahm. Dort blieb dem Schauspieler und Jungautor nicht viel anderes zu tun, als sich der Dichtkunst hinzugeben. Er schrieb sein Versepos Venus und Adonis, einen Teil seiner Sonette sowie vermutlich einige der „Jugend-Dramen“, Romeo und Julia, Ein Sommernachtstraum, Verlorene Liebesmüh, Der Kaufmann von Venedig.

Dreizehn Jahre später läutet der Pestausbruch von 1606 Shakespeares Spätwerk ein, und zwar vor allem dadurch, dass ein konkurrierendes Theaterunternehmen, eine Kompanie von Knabenschauspielern, die bis dahin das Blackfriars Theatre bespielt hatte, quasi ausstarb, so dass das Haus für Shakespeares Truppe frei wurde. Da das Blackfriars ein überdachtes, also ein geschlossenes Spielhaus war, konnte Shakespeare dafür dramaturgisch und technisch kompliziertere Stücke schreiben als für das unter freiem Himmel spielende Globe. Schauspieltruppen mit Kindern als Darstellern waren im elisabethanischen London eine ernstzunehmende Konkurrenz für die Erwachsenentruppen. Die Schwarze Pest in England gefährdete vor allem Menschen zwischen 10 und 35 Jahren. 

Waren Pest und Quarantäne einerseits Geburtshelferinnen des Dramatikers Shakespeare, prägen beide andererseits auch das Lebensgefühl seiner Stücke, insbesondere der frühen. Beispielhaft zeigt sich das an der sprichwörtlichen Sinnenfreude und der Todesnähe in Romeo und Julia. Immer wieder kommt die Pest in Norditalien darin zur Sprache, so wenn der verhängnisvolle Brief, durch den Julia Romeo benachrichtigen will, dass sie sich nur zum Schein umbringt, nicht bei Romeo eintrifft – weil der Priester, der ihn überbringen soll, auf dem Weg von Verona nach Mantua unter Quarantäne gestellt wird. Julia wird nicht in einem Sarg in die Familiengruft gelegt, weil den Veronesern in der Pest das Holz für Särge ausgeht, und als Mercutio im Duell mit Tybalt stirbt, tut er das nicht ohne fluchend auf die Häuser Montague und Capulet die Pest herabzuwünschen. Diese beiläufigen, wenn auch ausdrücklichen Anspielungen auf den Schwarzen Tod sind für die Shakespeare-Forschung aber eher die Begleitmusik zu jenen Hauptmotiven, die die Pest in Shakespeares Werk hinterlassen hat. Und das wären vor allem: Die unberechenbare, zufällige Hand des Schicksals und der zufällige, schnelle Tod – vor allem junger Menschen. Das Eingeschlossen-Sein und die Verbannung an entlegene Orte. Die sozialen Unruhen und der Aufruhr in den von der Pest zerrütteten Gesellschaften. Und nicht zuletzt die Verwandtschaft von Liebe und Tod: Gern setzt Shakespeare „Infektion“ und Liebe gleich, so wenn Benvolio Romeo rät, sich eine neue Liebesinfektion zuzuziehen: „Take Thou some new infection to thy eye“ oder wenn Olivia in Was Ihr wollt ausruft: „So schnell hat dich die Pest!“, nachdem sie sich Hals über Kopf verliebt hat.

Vor allem das Motiv existenzieller Unsicherheit, in der die Menschen zwar berechenbar agieren, das Schicksal aber unvorhersehbar zuschlägt, zieht sich durch den ganzen Shakespeare.

SOPHOKLES
Shakespeares Hamlet wird häufig als „Stück der Stücke“ tituliert, unter anderem, weil sein Protagonist angeblich das Urbild des modernen Menschen vorstellt. Allerdings gibt es mindestens ein weiteres „Stück der Stücke“, dessen Hauptfigur das Urbild des modernen Menschen vorstellt, es ist nur 2000 Jahre älter und heißt König Ödipus von Sophokles. Und wie der Zufall will, ist König Ödipus auch das wohl berühmteste Theaterstück über die Pest.

Im sagenhaften Theben ist eine Seuche ausgebrochen und die Orakel sagen, dass die Ursache dafür ein ungesühntes Verbrechen ist, das zuerst bestraft werden muss, ehe die Epidemie von der Stadt ablässt. König Ödipus wird zum Ermittler der rätselhaften Tat. Die Geschichte war bereits zum Zeitpunkt ihrer Dramatisierung ein antiker Mythos, ihre Berühmtheit verdankt sie nicht zuletzt ihrer Theaterfassung, und was die Seuche angeht, wusste deren Autor, Sophokles, wovon er sprach:

Im Samischen Krieg (441 bis 439 v. Chr.) hatte Sophokles gemeinsam mit dem Feldherrn Perikles zwei Jahre lang das Amt des obersten Strategen von Athen versehen. Der Krieg war der Beginn eines Konflikts zwischen Athenern und Spartanern, der zuletzt zum Untergang der attischen Demokratie führte. Perikles überredete die Athener, den Konflikt mit Sparta aggressiv zu suchen. Und um die attische Bevölkerung vor der überlegenen Landstreitmacht Sparta in Sicherheit zu bringen, ließ er die Landbewohner nach Athen umsiedeln, wo kurz darauf, aufgrund der Überbevölkerung, die Seuche ausbrach. Ein Viertel der Stadtbewohner fiel ihr zum Opfer, auch der Feldherr. Sophokles sah, dass die Katastrophe eine menschengemachte war. Im Todesjahr des Perikles (429), schrieb er das Drama König Ödipus. Dessen Hauptfigur entdeckt, dass sie selbst die Ursache des kollektiven Unheils ist. Die Katastrophe öffnet Ödipus die Augen. Er muss sehen, was er selbst getan hat und versteht seine Verstricktheit in das große Unheil.

Sophokles erfindet das klassische Pest-Narrativ unserer Kultur: Die Krankheit schlägt die Menschen, öffnet ihnen aber auch die Augen.

ARTAUD
Der Schauspieler, Dramatiker und Regisseur Antonin Artaud (1896 bis 1948) ist der eigentliche Grund dafür, dass das europäische Theater seit 50 Jahren in einer fixen Formel vom „Theater und der Pest“ spricht.

Den Zusammenhang stellt er in seiner epochalen Schrift Das Theater und sein Double von 1938 her: Darin ist die Pest eine Metapher für das Kranke und Katastrophale, das die Menschen trifft, und dem gegenüber das Theater nicht so sehr eine mimetische Funktion einnimmt, als vielmehr eine eigene Wirklichkeit darstellt. Das heißt, das Theater spiegelt keine äußere Realität ab, die es auf der Bühne nachahmt, sondern es erzeugt seine eigene Realität. Der Name, den Artaud diesem Theater gibt, lautet „Theater der Grausamkeit“. Und so brachial das klingt, wird Artaud damit zum Vordenker aller Perfomancekunst des 20. Jahrhunderts, aber auch kein Frank Castorf, Vegard Vinge, kein Werner Schwab und keine Sarah Kane sind ohne Antonin Artaud denkbar, auf den sie alle sich auch namentlich berufen.

CAMUS
Sind wir aber nun schon bei Artaud, wäre es merkwürdig, nicht auch Albert Camus (1913 bis 1960) in dieser Reihe zu erwähnen. Camus schreibt nicht besonders viele Theaterstücke, aber unter anderem den überaus erfolgreichen Roman Die Pest. Und darin ist die Pest der Inbegriff dessen, was Camus als „das Absurde“ des menschlichen Lebens ansieht. Eine ganze Philosophie kommt hier zum Vorschein, die Camus in seinem weiteren Werk ausarbeitet, die Philosophie des „Absurden“, das sich darin zeigt, dass alle Menschen wie in einer Todeszelle leben, ohne wissen zu können, wann ihnen die Stunde schlägt. Alle ihre Pläne werden dadurch sinnlos oder auch absurd. Der Sinnlosigkeit setzt Camus die Forderung nach menschlicher Solidarität entgegen. Der Begriff des Absurden wird von den Theatermachern seiner Zeit in das „Theater des Absurden“ überführt, dessen Vorreiter – Beckett, Ionesco und Genet – ab den 40ern des 20. Jahrhunderts die Theaterlandschaft prägen. Der Menschenfreund Camus wird damit schneller im Theater wirksam als sein visionäres Gegenüber Artaud. Beide aber sind die Vorläufer eines Theaters, das die Schrecklichkeiten nicht auf sich beruhen lassen will, sondern ihnen Widerstand entgegensetzt.

PDF-Download

Artikelliste dieser Ausgabe