• Foyer5
  • Landestheater Linz
  • # 19 | Frühjahr 2021 - Stream a dream. Netzbühne-Online
  • S. 50-55

Nach der Krise

Über ein postpandemisches Theater

Text: Martin Mader

In: Foyer5, # 19 | Frühjahr 2021 - Stream a dream. Netzbühne-Online, Landestheater Linz, S. 50-55 [Publikumszeitschrift]

Was ist eine Krise? Folgt man der gängigen Krisen-Dramaturgie, tritt zunächst ein Problem auf. Kann dieses nicht innerhalb einer angemessenen Zeitspanne beseitigt werden, entwickelt es sich zur Krise. Das Problem wird permanent und lässt sich weder lösen noch ignorieren. Die Krise ist dann als (Dauer)Zustand zu verstehen, welcher zur Entscheidung zwingt. Eine Entscheidung, die aber nicht vorrangig auf Problemlösung abzielt, sondern primär als Anpassung an die Problemlage verstanden werden muss. Dieser Vorgang soll nämlich in weiterer Folge verhindern, dass aus der Krise eine Katastrophe erwächst. Ob dies gelingt bzw. wann die Krise in die Katastrophe mündet, ist nicht leicht zu bestimmen. Doch ein guter Indikator ist die berechtigte Hoffnung auf ein „nach-der-Krise“. Die Hoffnung also, dass aus der Pandemie eine Zeit der Postpandemie wird. Solange Zukunftsszenarien entworfen und sich die Weichen für ein „Danach“, – womöglich sogar für ein besseres –, stellen lassen, ist die Katastrophe nicht eingetreten. Vielmehr kann von der Krise sogar als Chance gesprochen werden; bietet sie immerhin die Möglichkeit, zu reflektieren und sich auf die Zeit „nach-der-Krise“ vorzubereiten. 

So verstanden befindet sich auch das Theater derzeit in der Krise. Die COVID19-Pandemie trifft die Institutionen ins Mark, da Corona eine Krise der Versammlung verursacht. Überall, insbesondere dort wo sich Menschen physisch begegnen, herrscht das ursprüngliche Problem im buchstäblichen Sinne. Denn wie der Künstler und Kurator Peter Weibel es formuliert: Nicht das Virus verbreitet sich, wie so häufig gesagt wird. Sondern wir verbreiten das Virus. Insofern ist das Theater zu schmerzvollen Anpassungen gezwungen. In letzter Konsequenz bleiben die Eingangspforten verschlossen und die Bühnenräume leer.  

Mit diesen Schritten setzen aber auch Überlegungen ein, wie mit der Krisensituation produktiv verfahren werden kann. Verallgemeinernd gesprochen zielen diese auf Möglichkeiten ab, eine Kunstform, die auf körperlicher Anwesenheit von Künstler*innen und Betrachter*innen beruht, trotz der notwendig gewordenen Distanz einem Publikum zu präsentieren. Der Weg ins Digitale erscheint hierfür prädestiniert. Und schon rasch nach der ersten Schließung bieten die meisten Theater auch entsprechende Inhalte an. Von der Aufzeichnung vergangener Produktionen bis hin zu Lesungen und anderen spezifisch-digitalen Angeboten. Doch auch mit analogen Formen wird experimentiert. Das ein oder andere sogenannte „Site-Specific-Project“ findet an Orten außerhalb des Theaters zur Aufführung. Manche dieser Angebote erweisen sich sogar als so erfolgreich, dass die Pläne für ein „nach-der-Krise“ in neuem Licht erscheinen. Die Möglichkeit, die Krise auch als Raum für Experimente und Reflexion zu verstehen, wird (glücklicherweise) immer attraktiver. Und so setzen derzeit grundsätzliche Debatten über die gegenwärtige Struktur des Theaters ein und werden mit Blick auf das Zukünftige geführt. Nicht zuletzt auch darüber, ob in der gegenwärtigen Situation nicht auch eine Chance der Erneuerung zu sehen ist, die Ästhetik und Institution gleichermaßen prägen werden.

Prominent sind solch grundsätzliche Überlegungen kürzlich auch bei einer Online-Konferenz besprochen worden, die vom Literaturforum im Brecht-Haus, nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung veranstaltet wurde. Unter dem Titel „Postpandemisches Theater“ diskutieren Theatermacher*innen, Philosoph*innen und Politiker*innen über die Auswirkungen der Pandemie und wagen einen Blick in die Kristallkugel. Dabei sind sich die Teilnehmer*innen grundsätzlich einig, dass das Theater keine radikale Umwälzung erleben wird. Die Revolution bleibt gewissermaßen aus, da die körperliche Präsenz auch weiterhin bestimmendes und auch erstrebenswertes Merkmal sein soll. Gleichzeitig zeigt sich aber eine überwiegende Mehrheit davon überzeugt, dass die Pandemie sicherlich ihre Spuren hinterlässt. Allen voran mache sie deutlich, dass vor allem im Bereich der Digitalisierung noch viel Potenzial schlummert, welches seit Pandemiebeginn erst auszuschöpfen begonnen wird. 

Der ehemalige Intendant der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal, plädiert daher für eine digitale Offensive. Dabei skizziert er mehrere Möglichkeiten, die eine Investition in die digitale Infrastruktur bereits kurzfristig mit sich bringen könnte. Zunächst dränge sich nämlich für ihn die schlichte Notwendigkeit auf, Produktionen in sehr guter Qualität aufzuzeichnen. Dies soll nicht (nur) der hausinternen Archivierung dienen, sondern explizit als temporäres Streaming-Angebot verstanden werden. Dabei kann er sich sogar vorstellen, Download- oder Streaming-Angebote in den regulären Kartenvertrieb eines Hauses zu integrieren. Somit wird die Produktpalette gezielt erweitert und ein Publikum über die regionale Grenze hinaus angesprochen. 

Noch weiter gehen die Vorstellungen von Tina Lorenz, Projektleiterin für digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg, und Frank Hentschker, Künstlerischer Leiter des Martin E. Segal Theatre Center in New York. Beide weisen auf in Entstehung befindliche Stücke hin, die explizit für Kommunikationsplattformen wie Google-Chat, Instagram oder Microsoft Teams konzipiert und geschrieben werden. Diese Arbeiten dürften zwar nach der Pandemie in ihrer anfänglichen Form verschwinden, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingang in die gängige Bühnenpraxis finden und diese erweitern. Sei es in Form internationaler Zusammenarbeit für die Entstehung eines Stückes oder als Bühnenpraxis selbst. So wurde bereits vor Corona mit der Möglichkeit experimentiert, an mehreren Orten zugleich ein Stück zu spielen und den jeweils anderen Ort mittels digitaler Medien einzubeziehen. Diese Spielarten könnten weiter kultiviert und professionalisiert werden. Deshalb prophezeit Lorenz auch, dass in naher Zukunft viele Häuser exklusive Videobühnen einrichten, die ausschließlich zur Produktion digitaler Formate gedacht sind. Dies sei nämlich spätestens dann interessant, wenn die Technologie der virtuellen Realität (VR) breiter und kostengünstiger eingesetzt werden kann. Die Regisseurin Susanne Kennedy, um ein ebenso prominentes wie radikales Beispiel zu nennen, hat bereits jetzt angekündigt, bis Mitte 2022 alle Theaterprojekte abzusagen, um sich ausschließlich Arbeiten im virtuellen Raum widmen zu können.

Doch nicht nur die Kunstproduktion, auch die Kunstvermittlung kann sich nach der Pandemie erheblich erweitern. Digitale Angebote ermöglichen neue Formen der Kommunikation mit dem Publikum. Dies wird sich auch postpandemisch bemerkbar machen. Zukunftsweisend erscheint in diesem Zusammenhang die Kombination unterschiedlicher Streaming-Plattformen. Insbesondere das Video-Portal Twitch könnte sich hierbei als interessanter Partner erweisen, besitzt dieses doch eine „Bild-im-Bild“ Funktion, die vorrangig von Vlogger*innen zur Kommentierung von Videospielen genutzt wird. Dabei erscheint ein kleines Videofenster im eigentlich übertragenen Hauptvideo und dient der Live-Kommunikation mit dem Publikum. Ähnlich einer Sportübertragung im TV wird damit die Möglichkeit eröffnet, das Geschehen zu besprechen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Kommentator*innen gesehen und mit ihnen interagiert werden kann. Somit wäre es beispielsweise vorstellbar, sich während einer Theateraufführung mit Dramaturg*innen über das Stück zu unterhalten. Unmittelbare Rückfragen und Erklärungen noch während des laufenden Theaterabends sind somit, zumindest in der Theorie, im Bereich des Möglichen. Dies könnte auch, so der utopische Gehalt, dazu beitragen, dass insbesondere jungem und tendenziell theaterfernem Publikum der Einstieg in die Materie erleichtert wird. 

Aber auch im analogen Raum werden Neuerungen erwartet. Vermutet wird, dass sich diese gar am schnellsten bemerkbar machen – je nachdem, wie lange der Zustand der Pandemie anhält. Denn einerseits erscheint es nicht absehbar, wie schnell die Impfungen für einen gewohnten Alltag sorgen werden, und andererseits zeigt die Erfahrung des vergangenen Sommers, dass Veranstaltungen im Freien sowie höhere Temperaturen mehr Sicherheit mit sich bringen. Insofern wird das „Postpandemische Theater“ als eines beschrieben, das saisonspezifischer sein könnte – sollten die „Side-Specific-Projects“ weiterhin von Erfolg gekrönt sein. Damit ist gemeint, dass Formate außerhalb des Theaters noch stärker in den Fokus rücken, wenn die Jahreszeit es zulässt. Von „Audiowalks“ durch die Stadt, Stücken, die vor Wohnhäusern oder in Tiefgaragen spielen bis hin zu Veranstaltungen in Gastgärten. In diesem Zusammenhang ist vieles denkbar. Allerdings gelte es dabei zu beachten, so die Einwände aus der Praxis, dass dies mit einer erheblichen Veränderung der Zeitplanung einhergehe. Der Sommer würde damit zentral und eine längere Pause, zumindest aus epidemiologischer Sicht, eher in der kalten Jahreszeit sinnvoll. Ob sich dies so einfach herstellen lässt, ist zwar zu bezweifeln, jedoch weist nicht zuletzt der Philosoph Armen Avanessian darauf hin, dass solche Adaptionen mit Blick auf weitere Krisen, Vorteile mit sich bringen würden. Denn die COVID19-Pandemie verdränge derzeit lediglich die Klimakrise aus der medialen Aufmerksamkeit. Ein „Postpandemisches Theater“ könnte jedoch bereits ein ökologischeres Theater sein und somit zur öffentlichen Bewusstseinsbildung beitragen. Dies kann, neben der thematischen Bearbeitung, eben durch Formate außerhalb der Theaterräume sowie durch Reformierung der eigenen Energiebilanz selbst erfolgen.

Armen Avanessian ist es auch, der abschließend dem „Postpandemischen Theater“ eine allgemeine inhaltliche Ausrichtung geben möchte. Er erinnert daran, dass drängende gesellschaftliche Themen stets an die Türe der Polis klopften. Das Theater erwies sich folglich als der prädestinierte Ort, um diesen Anliegen, Eingang in die öffentliche Versammlung zukommen zu lassen. Ob dies etwa jene des aufstrebenden Bürgertums, der Arbeiter*innen oder Frauenbewegung waren, sie schlugen und schlagen sich bis heute in der Gestaltung der Spielpläne und im Selbstverständnis des Theaters nieder. Ähnliches erwartet sich Avanessian auch von der Pandemie. Er plädiert deshalb zu besonderer Sensibilität bei der Auswahl von Geschichten und Formaten, die auf die Corona-Situation rekurrieren werden. Das „Postpandemische Theater“ wird nämlich vorrangig eines sein, das sich inhaltlich mit der Pandemie in ihren Facetten auseinandersetzen wird. Das Bedürfnis danach werde auch entsprechend groß sein, so der Philosoph. Dabei darf jedoch nicht die (selbst)kritische Haltung zu kurz kommen. Denn insbesondere die pandemisch befeuerte Digitalisierung birgt nicht nur utopisches Potenzial, sondern bringt ebenso problematische Implikationen mit sich. Vor allem der Datenschutz unter Verwendung privater Infrastruktur, etwa bei den bereits genannten MS Teams, Google Chat oder Twitch, bedarf erhöhter Aufmerksamkeit. Das Postpandemische Theater kann somit erheblich dazu beitragen, dass ob der Freude über das „nach-der-Krise“, nicht die drängenden Aspekte unserer (postpandemischen) Zeit aus dem Blick geraten; oder gar schlicht weniger dringlich erscheinen.


RENOMMIERTER LITERATURPREIS FÜR MARTIN MADER
Der renommierte Förderungspreis der Rauriser Literaturtage 2021 (vergeben vom Land Salzburg und der Marktgemeinde Rauris) zum Thema „Abstand“ geht heuer an Martin Mader für seinen Text „Abstand ist Überall“. Martin Maders 18 mit Versen gefüllte Seiten bestechen – so die Jury – durch einen „Mix aus drastischen und kryptischen, vor allem aber auch witzigen Sprachbildern.“ Der Ich-Erzähler „nimmt uns mit in den Untergrund, in eine Fabrik, auf die Tanzfläche einer irren, wirren, völlig getriebenen Welt.“ „Eine beeindruckende neue Stimme“ in der österreichischen Literatur. Martin Mader ist seit 2020 Schauspieldramaturg am Landestheater Linz.

PDF-Download

Artikelliste dieser Ausgabe