• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • November/Dezember 2009
  • S. 5-6

Zum Werk

Text: Norbert Abels

In: Magazin, November/Dezember 2009, Oper Frankfurt, S. 5-6 [Publikumszeitschrift]

Eben noch geschah im fahlen Morgenlicht ein Mord. Paul, der Held, hat die Tänzerin Marietta – eine Doppelgängerin seiner verstorbenen Frau Marie – mit einer über alles angebeteten Reliquie, der Haarsträhne der Toten, erdrosselt. Paul Schott, der Librettist, hinter dem sich des Komponisten Vater, der allmächtige Wiener Musikkritiker Julius Korngold verbirgt, lässt jäh Dunkelheit eintreten. Die Zeit scheint rückwärts zu verlaufen. Während der virtuelle Mörder Paul erwacht, bescheint Mondlicht den mutmaßlichen Tatort. Da betritt, von der alten Haushälterin Brigitta angekündigt, die Tänzerin den Raum. Sie hat den Rosenstrauß und den Schirm vergessen, als sie gegen Ende des 1. Aktes, kurz vor Pauls surrealer Vision der toten Gattin, dessen Wohnung verließ.

Es geschah also gar kein Mord! Eine Phantasmagorie! Kokett den Schirm schwingend und mit ironischem Lächeln am Rosenstrauch riechend, verlässt Marietta die Szene. Freilich nicht ohne Kommentar. Als habe sie Freuds zur exakt gleichen Zeit – eben um 1900 – erschienene Traumdeutung gelesen, legt sie ihre Vergesslichkeit als Omen, als »Wink, als ob ich bleiben sollte«, aus. In der Oper verlässt Paul am Schluss Brügge, jene »tote Stadt«, die er nach dem Tode seiner Frau als topographisches Pendant seiner Seelenstimmung zum Aufenthaltsort gewählt hat und aus deren Kanälen ihm deren Opheliagesicht ohne Unterlass zulächelt. »Brügge und ich, wir sind eins … Wir beten Schönstes an: Vergangenheit.« Auch das Publikum hat sich am Schluss überrascht von einem »Trugbild« zu befreien, das es vom Ende des ersten Bildes bis zur Auf- bzw. Erlösung der letzten Klänge in Bann gehalten hat. Da endlich erhebt sich Paul und schreitet unter den breiten neoimpressionistischen Klängen eines in B-Dur stehenden Adagios aus dem Zimmer, seiner einstigen »Kirche des Gewesenen«. Soweit die Oper, die es nicht zuletzt dieses packenden Sujets wegen in den zwanziger Jahren vermocht hatte, zu einem der meistgespielten modernen Werke zu avancieren.

Ganz anders der Roman Bruges-la-morte und anders auch dessen Bühnenbearbeitung La mirage (Das Trugbild). Am Schluss dieser Werke steht tatsächlich Mord. Die immer größer werdende Todesobsession des Helden Hugues Viane eskaliert dort in der wirklichen Wahnsinnstat. Roman und Bühnenstück berichten zielgenau von der letalen Konsequenz eines traumatisierten vierzigjährigen Witwers, der mit äußerster libidinöser Energie ein für immer verlorenes Liebesobjekt in der Verkörperung eines Anderen wiederzuentdecken glaubt, um endlich – als das heilige Modell und die laszive Kopie nicht mehr identifizierbar sind – das Trugbild auszulöschen, den realen Mord zu vollziehen. Eine psychopathologische Studie, die in der Tradition Edgar Allan Poes steht, der wir später bei Henry James und Arthur Schnitzler begegnen und die noch Truffaut (Das grüne Zimmer) und den Korngoldverehrer Alfred Hitchcock Vertigo – Aus dem Reich der Toten (nach dem Roman D´entre des morts von Pierre Boileau und Thomas Narcejas) inspiriert hat.

Der schwermütige Autor des 1892 erschienenen Romans Das tote Brügge, Georges Rodenbach, gehört zu den Künstlern der flämischen Dekadenz des Fin de Siècle. Zu seinen Jugendgefährten zählten Maurice Maeterlinck, Emile Verhaeren, Joris-Karl Huysmans. Auch die Maler Ensor, Khnopff oder van den Velde standen demselben Umkreis einer neu erwachten ästhetischen belgischen Renaissance nahe. Stefan Zweig charakterisierte die alten Städte Brügge, Coustrai und Ypern so: »Sind sie nicht vergeistigt in den Strophen des Rodenbach, in den Pastellen des Fernand Khnopff, den mystischen Statuen des Georges Minne? (…) Die mystische Kunst Maeterlincks und Huysmans´ trinkt ihre tiefste Kraft aus den alten Klöstern und Béguinagen, die Sonne der flandrischen Felder glüht auf den Bildern des Theo van Rysselberghe und Claus …«

Rodenbach, 1855 in Tournau geboren, als namhafter Schriftsteller bereits 1898 in Paris an der Schwindsucht gestorben, war ein unablässiger Beschwörer und Erzähler des Todes. Der Schlüsselsatz aus seiner Erzählung Die Eiche am Kreuzweg ließe sich als Formel über sein gesamtes Werk stellen: »Nur die Toten kann man ewig lieben.«

Bruges-la-morte hat als einzige Dichtung des Autors bis heute ihren Bekanntheitsgrad bewahrt. In ihr wird die Todesverfallenheit des Helden durchgängig mit der Todesaura der alten Stadt mit ihrer mystischen Katholizität analogisiert, ein Verfahren, das Korngolds gleichsam symphonisch angelegte, orchestrale Tableaus – Prozessionen, Visionen, orgeldurchtränkte Zeremonien und die tönenden Schwingungen der immerfort eingesetzten tiefen Glocken – nachzeichnen. Rodenbach selbst hat sich beim Beschreiben der Stadt wohl von deren Klangaura inspirieren lassen, hat, wie Gaston Deschamps formulierte, eine »sordinierte Musik empfunden«. Ein Beispiel, das die Musik der alten Klöster und Kirchen thematisiert: »Diese Musik war überall, strömte aus den Pfeifen auf den Boden, und – so schien es – es war die Musik, die sich über die (…) staubigen Inschriften auf den Grabplatten und auf die kupfernen Epitaphe ergoss und sie verschwinden ließ. Man konnte wirklich sagen, hier ging man in den Tod.« Eine seltsame Ähnlichkeit verbindet Dichtung und Oper miteinander. Sowohl Rodenbachs Roman als auch dessen musikalische Bearbeitung durch den gerade erst dreiundzwanzigjährigen Korngold, dem zu seinem Verdruss der Nimbus des komponierenden Wunderkindes lebenslang angedichtet wurde, gerieten zu Solitären, gegen die sich alle anderen Werke der beiden Künstler nicht behaupten konnten. Später, als Korngold im amerikanischen Exil zum großen Pionier avancierter Filmmusik wurde – »Sein Gelübde, während des Blutvergießens keine ›ernste‹ Musik zu schreiben, hat keiner seiner Freunde verstanden« (Marcel Prawy) –, verfestigte sich jener unbarmherzige Mythos vom rück wärtsgewandten Eklektizisten, den bereits in den letzten Tagen der Weimarer Republik der den musikästhetischen Bürgerkrieg zwischen Tonal und Zwölftonal ausrufende Frankfurter Komponist und Philosoph Theodor W. Adorno heraufbeschworen hatte. »Wenn Korngold nicht den ganzen Aufputz dieser Musikfassaden radikal erkennt und schlechterdings von vorn anfängt, ist er für die Musik, die heute Existenzrecht hat, verloren.«

Solche Rede schmeckt heute nach der Patina historischen Grünspans. Wer möchte, auch im ästhetischen Bereich, jemandem dieses Recht verweigern?

Korngolds nicht zu übersehender Hang zum Dekorativen, zum Überdeterminismus, seine Nähe zur tonmalerischen Kolportage sind jedenfalls nicht stärker zu bewerten als sein Genie der melodischen Idee, seine Fähigkeit, Atmosphäre und Kolorit zu schaffen, seine psychologisierende Figurencharakteristik in den Opern. Der letzte große Vertreter des Verismo, Giacomo Puccini, hat dies bereits zu Beginn der zwanziger Jahre erkannt: »Für mich ist Erich Wolfgang Korngold die stärkste Hoffnung der neuen deutschen Musik, eine eminente Begabung von stupendem technischen Können und, was wichtig ist, voller musikalischer Einfälle. (…) Wenn sich dieser junge Wiener von dem Ballast freimacht, den er manchmal noch mitschleppt, dann wird er ein Musiker allerersten Ranges sein. Mit der Toten Stadt, die er mir im Klavierauszug vorgespielt hat, ist er auf dem besten Wege dazu.«