• Magazin Klassik
  • Radio Klassik Stephansdom
  • #21 | Sommer 2021
  • S. 40-41

Der Musikarchivar

Text: Otto Biba

In: Magazin Klassik, #21 | Sommer 2021, Radio Klassik Stephansdom, S. 40-41 [Hörermagazin]

Acht Jahre hat Otto Biba für radio klassik Stephansdom Geschichten aus dem von ihm geleiteten Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde präsentiert. Ab Herbst 2021 wird er über verschiedenste Archive und sonstige Musiksammlungen in Österreich, Europa und Übersee und die dort überlieferte Musik berichten.

Der Archivar – die maskuline Bezeichnung für einen Berufsstand, in dem Frauen wie Männer tätig sind – ist kein Gralshüter und kein Kerberos, sondern ein Dienstleister, der die ihm anvertrauten Bestände verantwortungsbewusst bewahren und mit Freude am Vermitteln zugänglich halten muss. Seine Zielgruppe sind Interessenten jeder Art, für die er auf hohem wissenschaftlichen Niveau Zusammenhänge herstellt und beratend tätig ist. Freilich gilt wie für jeden Beruf auch für den Archivar, dass er für Interessenten, also für bestimmte Zielgruppen gefragt ist. Seine Bestände und er begeistern die einen und lassen die anderen kalt: Wer sich nicht für Fußball interessiert, ist nicht in ein Stadion zu bringen, wer keine Archivbestände braucht, nicht in den Studiensaal eines Archivs, sehr wohl aber in eine Ausstellung, wo eine mittelalterliche Handschrift oder ein Musikautograph Beethovens sehr wohl dank der Aura der unmittelbaren Begegnung mit dem Authentischen aufregenden Schauer erwecken können. (Wie ich es etwa mit täglich fünftausend Besuchern einer Mozart-Beethoven-Schubert-Ausstellung in der japanischen Millionenstadt Kawaguchi erlebt habe, aber auch bei vielen anderen entsprechend angekündigten und beworbenen Musik-Ausstellungen in Europa, USA und Japan.) 

Der Archivar bereitet auf und berät Interessenten allgemeiner Art und solche, die die von ihm betreuten Bestände berufsbedingt brauchen. Sie finden dort Informationen und Erlebnisse, erfahren Neues und entdecken für sich selbst etwas, von dem sie nichts wussten. Aber absolute Entdeckungen kann man in einem guten Archiv nicht machen, weil dort alles optimal inventarisiert und identifiziert ist. Im Hinblick auf seine Klientel darf der Archivar aber nie mit dem Umfang seiner Bestände zufrieden sein oder den Sammel- und Bewahrauftrag als erfüllt betrachten. Um lebendig zu sein und zu bleiben, muss ein Archiv wachsen. Und unter dem, was neu ins Haus kommt, kann dann sehr wohl eine wirkliche Neuentdeckung sein. Ich habe dieses glückliche Gefühl, mit Neuerwerbungen große Neuentdeckungen öffentlich zugänglich zu machen, öfter erlebt, etwa als ich bei einer Auktion die verloren geglaubte Messe von Johannes Brahms erwerben, im Großen Musikvereinssaal zur Aufführung bringen lassen und danach publizieren konnte. Oder Beethovens Lied „Öst’rreich über alles“. Oder einen im Deutsch-Verzeichnis nicht enthaltenen Kanon Schuberts. Oder … – Freilich, das verschollene Oboenkonzert von Beethoven und das verschollene Trompetenkonzert von Mozart suche ich immer noch.

Archivbestände müssen leben. Sie dürfen nicht nur warten, bis jemand kommt, sie müssen auch – über den Archivar – auf die Öffentlichkeit zugehen. Mich persönlich befriedigt es, wie viele Werke ich ediert habe, dass ich viele CD-Produktionen anregen und jährlich erfolgreich eine unvergleichlich hohe Zahl von Werken zur Aufführung im Musikverein empfehlen konnte, dazu auch noch für Aufführungen anderswo. Noch wichtiger: Die Öffentlichkeit, die Interpreten danken mir dafür. Und die Ideen gehen nicht aus. Es gibt noch genug wieder zu erwecken. Freilich macht das nur mit Werken besonderer Qualität Sinn, die der richtige Musik-Archivar zu erkennen hat, auch wenn er keine Partitur, sondern nur Stimmen vor sich hat. Worauf es ankommt, worauf man schaut, um Qualität zu erkennen, dafür braucht man Erfahrung.

Das Archivar-Sein ist ein hochrangiger Manager-Beruf. Man muss akquirieren und dafür die finanziellen Mittel auftreiben. (Ich persönlich kann meinen Mäzenen nicht oft genug danken.) Man muss das Archiv in der Öffentlichkeit positionieren und man muss Abnehmer, also Nutzer, für die Bestände finden, fördern und betreuen. Für beides muss sich der Archivar alle alten wie neuen Medien dienstbar machen, leider geht das meist nur so weit, als ihm dafür Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Wichtig ist für den Musik-Archivar, dass er aus dem Archiv hinaus geht, um es nicht zum elfenbeinernen Turm zu machen, dass er publiziert – als Vortragender, in Print- und in audiovisuellen Medien –, dass er weit über seine heimatliche Wirkungsstätte hinaus zum Anfassen präsent ist, Kontakte sucht und pflegt, nicht zuletzt um Geschenkgeber, Mäzene und Akquisitionsmöglichkeiten zu finden. (Aus eigener Erfahrung kann ich nur bestätigen, dass dieses Finden ein wesentliches „Nebenprodukt“ internationaler Ausstellungsaktivitäten und Vortragstätigkeiten ist.) In den Netzwerken des Musik-Archivars haben nicht nur die Zielgruppen der Nutzer und Interessenten, also Musiker, Wissenschaftler und Musikliebhaber, ihren Platz, nicht nur Sammler und Komponisten, Mäzene und Geschenkgeber, nicht nur die Antiquare und Auktionshäuser, sondern auch die Kollegen und Kolleginnen in verwandten Institutionen. Ich persönlich freue mich über viele sehr gute bis freundschaftliche Kontakte in dieser kollegialen Szene. Nichts schöner, als wenn man bei Auktionen, Geburtstagen, Jubiläen oder sonstigen Feiern zusammenkommt, stets neue Erfahrungen diskutieren und davon profitieren kann sowie vertrauensvoll Informationen austauscht oder gar, weil man selbst dafür nicht die richtige Adresse ist oder im Moment die Finanzmittel fehlen, präsumptive Akquisitionsmöglichkeiten lanciert. So konnte ich eine der zwar nicht wertvollsten, aber attraktivsten Neuwerbungen nur deshalb tätigen, weil die Institution, der sie erst angeboten worden war, meinte, die passendere Adresse dafür sei das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde. Was auch aus meiner Sicht stimmte.

Apropos Vertrauen: Neben Wissen und Erfahrung, also Kompetenz, erwartet die Öffentlichkeit von einem Musik-Archivar Ernsthaftigkeit (altmodisch heißt das: Seriosität) und Vertrauenswürdigkeit. Weiß er all das zu vermitteln, so ist er anerkannt und erfolgreich, zum Nutzen der Institution, für die er verantwortlich arbeitet. Ich bemühe mich tagtäglich auf ’s Neue darum.


Radiotipp

Geschichten aus dem Archiv

Archivar und Komponist
05.06., 09.05 Uhr (DaCapo 07.06., 20.00 Uhr)