• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Oktober-Dezember 2021
  • S. 6-7

Premiere Maskerade

Rauschendes Fest der Sinne

Text: Konrad Kuhn

In: Magazin, Oktober-Dezember 2021, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]

»Früher schloss man früh den Laden, / Noch vor neun war alles leer, / Stille Straßen, dunkle Fassaden, / Man aß drinnen seinen Fladen, / ging zu Bett und samstags baden, / Ordnung fiel nicht schwer. / Weder Tee noch Schokolade, / Kaffeehaus, kein Verkehr! / Maskerade, Maskerade! / Frieden gibt’s nicht mehr.« Mit diesen Worten singt sich der alte Jeronimus in der neuen deutschen Fassung seinen Ärger von der Seele: Die gute, alte Zeit, sie droht unterzugehen! Hatte früher jeder seinen festen Platz in der Familie – »Sohn und Tochter, Frau und Mann, Knecht und Magd«; wobei der Hausherr selbstverständlich uneingeschränkt, das Sagen hatte –, so macht jetzt jeder was er will: »Nun sind alle gleich.« Schuld daran sind in Jeronimus’ Augen die Maskenbälle, die man seit Neuestem veranstaltet, im Theater auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber von seinem Stadthaus. Da darf jeder rein, sich verkleiden und in jede nur mögliche Person verwandeln. Die Standesunterschiede sind aufgehoben, und alle lassen der Lebensfreude (und Liebeslust) freien Lauf. 

Henrik, der gewitzte Diener von Jeronimus’ Sohn Leander, verteidigt die Maskenfeste: Sie machen »… die Herzen hell, den Himmel mild«; und der ist in Dänemark oft genug verregnet. Dagegen hilft es, »wenn ich mich bade in der Kaskade / Von Tanz, Gesang und Licht und Feuer, / Kurz: der Maskerade!« Und sein junger Herr Leander, der eigentlich mehr sein Kumpel ist, gerät ins Schwärmen, als die beiden sich spätabends aus dem väterlichen Domizil davon und ihrem Vergnügen entgegen schleichen: »Schau, Henrik, finst’re Nacht umklammert schrecklich das alte Haus / […] der tote Blick der blinden Scheiben schreckt mich. / Denn sieh doch da: das neue Haus, das weckt dich! / Aus off’nen Fenstern strahlt sein heller Blick! / Musik erklingt aus den Wänden voller Glück!«

Theaterinstinkt

Carl Nielsens komische Oper Maskerade von 1906 fußt auf einer Komödie gleichen Titels von Ludvig Holberg. Er gilt als Begründer der Theatertradition seines Landes und wird gern als der »dänische Molière« bezeichnet. Das Stück wurde 1724 uraufgeführt und reagiert mit scharfer Satire darauf, dass Maskeraden damals gerade vom pietistischen König Friedrich IV. verboten worden waren, da sie angeblich die Gesellschaft ins Verderben stürzten. Als Nielsen sich nach seiner ersten Oper Saul und David, basierend auf dem biblischen Stoff und uraufgeführt 1902, auf der Suche nach einem komischen Sujet Holbergs Komödie zuwandte, war es zunächst gar nicht so einfach, einen Librettisten dafür zu gewinnen; zu groß war der Respekt der meisten Literaten vor dem großen Vorbild Holberg. Überzeugen konnte er schließlich den Literaturprofessor Vilhelm Andersen – ein idealer Partner; jedoch nicht nur aufgrund seiner profunden Kenntnisse der dänischen Kultur und Literatur, sondern auch wegen seiner histrionischen Begabung. Nielsen hatte ihn in einer Studentenrevue auf der Bühne erlebt und war begeistert von seinem Theaterinstinkt. 

Dänische Nationaloper

Andersens Libretto, das Holbergs Komödie fortschreibt, aber sprachlich ganz andere Wege geht, wurde nach der Premiere durchaus kritisiert. Doch der Erfolg wischte bald alle Einwände beiseite. Maskerade gilt heute als dänische Nationaloper. Allein zu Lebzeiten Nielsens wurde das Werk am Königlichen Opernhaus in Kopenhagen 68 Mal gespielt. Außerhalb Dänemarks ist die Oper jedoch nach wie vor eine Rarität. Zeit, das Meisterwerk Nielsens, den man bei uns vor allem für seine aufregenden Sinfonien schätzt, neu zu entdecken! 

Der Komponist war bei der Arbeit zeitweise geradezu im Schaffensrausch: »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht ich selber bin – Carl August Nielsen –, sondern ein Rohr, durch das der Musikstrom läuft, von milden und starken Kräften in gewissen seelischen Schwingungen bewegt.« Die Partitur verbindet Volksliedhaftes mit Mozart’scher Leichtigkeit, schwelgerischen Kantilenen und schwungvollen Tänzen. Gerade der Rückgriff auf Tanzformen früherer Epochen erlaubte es dem Komponisten, den zeittypischen Schwulst der Spätromantik hinter sich zu lassen. Voller Esprit steckt schon die Ouvertüre, die – zusammen mit der Tanzeinlage des sogenannten »Hahnentanz« aus dem Dritten Akt – als einziges regelmäßig in Konzertprogrammen zu finden ist. Der Orchestersatz ist hochvirtuos und voller harmonischer und kontrapunktischer Überraschungen. Den barocken Stoff nutzt Nielsen, anders als Hofmannsthal und Strauss in ihrem fünf Jahre später uraufgeführten Rosenkavalier, nicht zu einer nostalgischen Rückschau, sondern zu einer energiegeladenen Feier der Gegenwart, aus der sich auch 100 Jahre danach Funken schlagen lassen. Wortwitz und Situationskomik kommen nicht zu kurz; zugleich durchweht ein sinfonischer Zug das Werk, in das auch lyrische Aufschwünge und Momente der Wehmut eingewoben sind. Vor allem für Vilhelm Andersen war das antike Bacchanal in seiner rituellen Verknüpfung mit der Tragödie Anknüpfungspunkt für das rauschhafte Geschehen. 

Für die Neuinszenierung haben wir bei dem Übersetzer und Regisseur Martin G. Berger eine neue deutsche Versfassung in Auftrag gegeben, fußend auf einer wörtlichen Übersetzung von Hans-Erich Heller. Sie überträgt die überbordende Reimflut des dänischen Librettos von 1906 in eine heutige, jedoch nicht platt aktualisierende Sprache und bringt die komischen Dialoge zum Blühen. Regisseur Tobias Kratzer hat an der Oper Frankfurt bisher zwei Inszenierungen mit starken konzeptionellen Setzungen geschaffen: Meyerbeers L’Africaine und Verdis La forza del destino. Diesmal setzt er ganz auf die Spiellaune der Sängerdarsteller*innen und Tänzer*innen. Ein hervorstechendes Kennzeichen der Oper ist für ihn, dass keiner der Charaktere denunziert wird. Der eingangs beschriebene Generationskonflikt wird klar exponiert, ohne eine Figur wie Jeronimus dabei umstandslos der Lächerlichkeit preiszugeben. Auch er macht auf der Maskerade ganz neue Erfahrungen; vielleicht zeigt sich erst, wenn man eine Maske aufhat, wer man wirklich ist.


MASKERADE
Carl Nielsen 1865–1931

Komische Oper in drei Akten / Text von Vilhelm Andersen nach Ludvig Holberg Uraufführung 1906, Königlich Dänisches Theater, Kopenhagen / Neue deutsche Fassung von Martin G. Berger auf der Grundlage der Linearübersetzung von Hans-Erich Heller / In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

FRANKFURTER ERSTAUFFÜHRUNG
Sonntag, 31. Oktober
VORSTELLUNGEN 4., 13., 20., 28. November / 2., 4. Dezember 

MUSIKALISCHE LEITUNG Titus Engel INSZENIERUNG Tobias Kratzer BÜHNENBILD, KOSTÜME Rainer Sellmaier LICHT Joachim Klein CHOREOGRAFIE Kinsun Chan CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Konrad Kuhn 

JERONIMUS Alfred Reiter MAGDELONE Susan Bullock LEANDER Michael Porter HENRIK Liviu Holender ARV Samuel Levine LEONARD Michael McCown LEONORA Monika Buczkowska PERNILLE Barbara Zechmeister EIN NACHTWÄCHTER / MEISTER DER MASKERADE Božidar Smiljanić EIN MASKENVERKÄUFER Danylo Matviienko EIN MAGISTER Gabriel Rollinson°

° Mitglied des Opernstudios

Mit freundlicher Unterstützung [Logo Ministry of Culture Denmark], [Logo Kgl. Dänische Botschaft], [Logo Patronatsverein]