„Die Verbundenheit mit etwas Größerem hilft den Menschen, Halt zu finden“
Interview: Jürgen Seeger
In: Programm, 2022, Gluck Festspiele, S. 30-35 [Programmheft]
In Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ geht es um den plötzlichen Tod Eurydikes durch einen Schlangenbiß und darum, wie ihr Gatte Orpheus – eingebettet in ein mythologisches Szenario – diesen schmerzlichen Verlust auf seine Weise zu bewältigen versucht. Christina Enöckl, Sie selbst mussten früh in Ihrem Leben den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen erleben. Ein Erleben, das letztlich entscheidend für Ihre Berufswahl wurde.
Der Tod meiner Schwester, die vor zehn Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, hat den Blick auf das, was ich tue im Leben, deutlich verändert. Ich habe mir damals Unterstützung gesucht bei einer Trauerbegleiterin, weil ich gemerkt habe, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie Trauern eigentlich geht. Ich habe mich in dieser Situation hilflos gefühlt und hatte große Sorge, dass ich irgendetwas falsch machen könnte. Man hat ja immer die Vorstellung davon, dass es ein richtig und ein falsch gibt. Durch die wunderbare und sehr hilfreiche Unterstützung durch die Trauerbegleiterin habe ich gemerkt, dass das Thema Trauern zwar etwas ganz Persönliches für mich war, dass es aber auch die Möglichkeit gibt, Menschen in dieser Situation gut zu unterstützen, so dass das Leben weitergehen kann. Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass ich mich beruflich noch einmal ganz neu orientiert habe.
Was war es, das Ihnen in der Arbeit mit Ihrer Trauerbegleiterin damals am meisten geholfen hat?
Mir hat in erster Linie geholfen, dass ich vorbehaltlos und ohne Rücksicht oder Angst alle Gedanken ausdrücken und alle Gefühle zeigen konnte – egal wie widersprüchlich, schmerzhaft oder grotesk diese waren. Dabei habe ich festgestellt, dass meine Trauerbegleiterin das alles aushielt mit mir. Es gab keine Bewertungen, dafür aber eine für mich sehr hilfreiche und erleichternde Orientierung, dass diese Gedanken und Gefühle einfach ein Teil meiner Trauer sind und dazugehören dürfen.
Heute helfen Sie Menschen, die sich in einem seelischen Ausnahmezustand befinden, die aufgrund des plötzlichen Todes eines Angehörigen im Schock sind. Unseren ersten Gesprächstermin mussten Sie verschieben, weil Sie – wie Sie am Telefon sagten – gerade einen „Notfall hereinbekommen“ hatten. Was ist bei einem solchen Notfall Ihre Aufgabe?
Notfall bedeutet hier, dass der plötzliche Verlust eines Familienmitglieds, einer nahestehenden Person gerade eingetreten ist. Ich arbeite bei einer Stiftung, die Familien, Kinder und Jugendliche dabei unterstützt, dieses traumatische Erleben zu verstehen und zu verarbeiten. Im akuten Notfall ist es meine Aufgabe, ein Lotse dafür zu sein, zunächst überhaupt erst Worte zu finden, die es möglich machen, über das Unaussprechliche zu sprechen und aus der Erstarrung herauszufinden. Ganz zu Beginn kann es für Angehörige sehr, sehr schwer sein, überhaupt auszusprechen, dass jemand gestorben ist, dass jemand tot ist. Für den Trauer- und Verarbeitungsprozess ist es aber ganz wichtig, dass man lernt, das auch wirklich auszusprechen. Dafür biete ich meine Unterstützung an. Es geht darum, Dinge wirklich so zu benennen, wie sie sind, oder auch – noch weitergehend - mögliche Erklärungen oder Wege anzubieten, wie man zum Beispiel kleinen Kindern erklärt, was tot sein bedeutet. Kinder verstehen das je nach Alter natürlich ganz unterschiedlich, weil es mit der kognitiven Reife und der Lebenserfahrung zu tun hat. Manchmal wissen Eltern nicht, wie sie einem Dreijährigen erklären sollen, dass die Oma gestorben ist.
Ein gängiges und oft zu hörendes Erklärungsmuster ist doch die Aussage, dass die Oma jetzt im Himmel sei…
Das wäre nicht mein erster Erklärungsschritt. Ich würde „tot sein“ erst einmal damit erklären, dass das Herz der Oma aufgehört hat zu schlagen. Und wenn das Herz aufhört zu schlagen, dann ist ein Mensch tot. Das ist etwas, was auch ein dreijähriges Kind an der Mama oder dem Papa selbst überprüfen kann, dass da ein Puls oder Herzschlag zu fühlen ist. Ältere Kinder verstehen natürlich schon viel mehr, was tot sein bedeutet. Dass ein Herz nicht mehr schlägt, dass bestimmte biologische Prozesse nicht mehr stattfinden. Sie verstehen auch, dass Tod etwas Irreversibles ist, etwas, das nicht rückgängig gemacht werden kann. Gemeinsam mit den Kindern zu überlegen, wo die Oma jetzt ist – wie etwa im Himmel -, wäre erst ein nächster Schritt.
Welche Erkenntnisse gibt es über den Verlauf von Trauerprozessen? Auch wenn sie in ihrer Ausprägung individuell verlaufen: gibt es womöglich Phasen, die von allen Trauernden durchlebt werden müssen?
In der Trauerforschung ging man anfangs davon aus, dass Menschen in ihrem individuellen Trauerprozess bestimmte Phasen durchlaufen. Eine Vertreterin dieser Theorie war die bekannte Sterbeforscherin und Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross. Ihr Modell der fünf Trauerphasen wurde im Laufe der Zeit um weitere Phasen erweitert. Jedoch stellte man fest, dass diese Phasen nicht linear verlaufen und Trauernde auch nicht vom Durchleben aller Phasen berichten. Aus diesen Erkenntnissen entstand ein neues Verständnis für den Trauerprozess. Heute spricht man eher von Traueraufgaben, die den Prozess des Trauerns kennzeichnen. Die erste Aufgabe, mit der die Auseinandersetzung mit dem Verlust beginnt, ist für jeden Trauernden gleich: die Realität des Verlustes muss begriffen und akzeptiert werden. Für manche Trauernde kann das der schwierigste Teil ihres Trauerprozesses sein.
In Glucks „Orpheus und Eurydike“ steht am Anfang die Beweinung des Verlusts Eurydikes und der Klagegesang von Orpheus. Für die Oper ist das ein naturgemässes Ausdrucksmittel, aber auch in anderen Kulturen gibt es die ritualisierte, mit der Stimme ausgedrückte Klage, etwa die Tradition der Klageweiber in der orientalischen Welt. Hingegen herrscht in unserer (Trauer-)Kultur eher Stille. Wie deuten Sie diesen signifikanten Unterschied, warum hat bei uns Trauer ganz überwiegend still stattzufinden?
Das ist eine spannende Frage und es entspricht auch meiner Beobachtung, dass bei uns die Stille zum gesellschaftlich erwünschten Trauern gehört. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass Trauern in unserer Kultur etwas sehr Privates ist. Und das hat auch mit unserer Erziehung zu tun, die den Ausdruck von negativen Gefühlen wie Schmerz, Wut und eben auch Trauer nicht zulässt, weil es schwieriger ist, mit solchen Gefühlen umzugehen.
Trauernde Menschen berichten immer wieder, dass der Ausdruck ihrer Trauer von ihrem Umfeld schwer zu ertragen und auszuhalten ist und sie das Gefühl haben, dass es nicht gewünscht ist, dass sie ihrer Trauer Ausdruck verleihen. Das könnte ein Grund dafür sein, dass Menschen eher still trauern oder ihre Trauer maskieren…
….was den Prozess der Trauerbewältigung eher blockieren als fördern dürfte.
Das wiederum hängt vom einzelnen ab. Denn es gibt durchaus Menschen, denen es hilft, sich in sich selbst zurückzuziehen, das Trauern erst einmal mit sich selbst anzugehen. Dennoch glaube ich, dass es wichtig ist, seiner Trauer Ausdruck zu verleihen und damit nach außen zu gehen. Ob das nun etwas Lautes ist wie Musik, über Singen und über das Spielen eines Instruments, das ist auch wieder etwas ganz Individuelles. Anderen Menschen tut es gut zu schreiben oder sich durch gestaltende Kreativität, durch Komponieren oder Theaterspielen auszudrücken. Wichtig ist, dass jeder Eindruck im Trauerprozess auch seinen Ausdruck erfährt. Das kann beim Trauern sehr hilfreich sein.
Die Musik kann also auch in unserer eher von der Stille geprägten Trauerkultur eine gewichtige Rolle spielen. Und letztlich tut sie das ja auch bei fast allen Abschieds- und Trauerfeiern…
Menschen, die eine Affinität zur Musik haben, können aus ihr ganz viel Kraft und Trost schöpfen. Musik ermöglicht und verstärkt das Wahrnehmen von Emotionen. Ich habe viele Menschen erlebt, denen Musik geholfen hat, mit ihren Gefühlen, ihrer Trauer und ihrem Schmerz anders umgehen zu können oder überhaupt erst einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Requiem-Komposition oder ein Popsong erklingt. Und Musik hat etwas sehr Verbindendes.
Die Trauer ist bei vielen Hinterbliebenen mit der Hoffnung verknüpft, auch über den Tod hinaus mit einem geliebten Menschen in Verbindung bleiben zu können – und letztlich steht dahinter ja auch die Idee der Auferstehung. Im Orpheus-Mythos und in der christlichen Heilsgeschichte wird diese Idee tatsächlich eingelöst. Wenn Orpheus die Gnade der Götter erfährt, spielt dabei Gott Amor die Hauptrolle: die Liebe triumphiert. Auch im Neuen Testament, in dessen Zentrum die Auferstehung Christi steht, heißt es: „Die Liebe ist stärker als der Tod“. Wie ist Ihre Erfahrung: haben es Trauernde leichter, die offen sind für solche Gedanken und Glaubenswelten?
Meine Erfahrung zeigt ganz deutlich, dass es Trauernde, die an eine größere religiöse oder spirituelle Idee glauben, leichter haben auf ihrem Weg durch diese schwierige Zeit. Die Verbundenheit mit etwas Größerem hilft den Menschen, Halt zu finden und mit ihrem Schmerz leichter umgehen zu können. Ob das die Hoffnung auf ein Wiedersehen ist oder die Hoffnung auf ein nächstes Leben, ein wie immer gearteter Glaube kann helfen, den Verlustschmerz auszuhalten. Dieser Schmerz des Verlustes muss aber von allen Trauernden durchlebt werden. Ich werde immer wieder gefragt, ob sich dieser Schmerz abkürzen oder vermeiden lässt. Ich meine, das Einzige, was gegen diesen Schmerz hilft, ist, ihn zuzulassen, anzunehmen und auszuhalten. Wie Trauernde damit umgehen und wie eine Linderung und Bewältigung gelingen kann, ist wiederum etwas sehr Individuelles. Den Verlustschmerz auszuhalten ist für den heilsamen Trauerprozess dabei die conditio sine qua non. Der Schmerz gehört unausweichlich dazu.
Jürgen Seeger
Kulturjournalist, langjähriger Wellenchef von BR-Klassik und Leiter der Redaktion „Musik und Theater“ beim BR-Fernsehen.
Christina Enöckl
Trauerpädagogin, Traumafachberaterin, Traumapädagogin und Mitarbeiterin der„AETAS-Kinderstiftung KinderKrisenIntervention“ in München.