Italiens Ringen um die «Alceste» und drei große Mozartsängerinnen
Text: Karl Böhmer
In: Programm, 2022, Gluck Festspiele, S. 50-59 [Programmheft]
Es war nie leicht, Glucks Alceste aufzuführen, diese „mühsame Oper“, wie Mozart sie nannte. Besonders schwer taten sich die Italiener mit Glucks Tragedia per musica. Dies bekamen jene drei Bühnen zu spüren, die das Werk als erste über die Alpen holten: das Teatro Comunale in Bologna im Mai 1778, das Teatro del Fondo di Separazione in Neapel im Oktober 1785 und das Teatro di via della Pergola in Florenz im Karneval 1787. Alle drei Theater stehen heute noch und bilden in ihrem seit dem 18. Jahrhundert kaum veränderten Zustand ein dreifaches Monument für das italienische Ringen um die Alceste. Gewonnen wurde es nur dank der Kunst dreier Primadonnen. Drei große Mozartsängerinnen übernahmen die Titelrolle: Anna de Amicis, Maria Marchetti Fantozzi und Adriana Ferrarese del Bene, Mozarts Giunia, Vitellia und Fiordiligi. Wie sie die große Gluckpartie gestalteten und wie sie damit die drei Opernproduktionen vor dem Fiasko bewahrten, soll in den folgenden Zeilen erzählt werden. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Eigenart des Werkes: Worauf kommt es an, wenn man der Alceste gerecht werden will? Genau auf jene Liebe zum Detail und jene Vision von der Oper als Gesamtkunstwerk, die den meisten Ausführenden in Italien fehlten. Schon Ranieri de‘ Calzabigi, der Textdichter der Alceste und ihr Regisseur in Neapel, meinte resigniert:
„Man will in Italien einfach nicht verstehen, dass für dieses dramatische Genre eine Gesamtheit nötig ist: Sologesang, Aktion, Chor, Ballett und alle anderen Elemente müssen gemeinsam dem Ganzen dienen, indem sie keine unnützen Anhängsel oder angeklebte Ausschmückungen sind, sondern wesentliche Teile und mit dem Gesamten verbunden.“ (Ranieri de‘ Calzabigi, Risposta, 1790)
An dieser Vision arbeiteten sich Bologna, Neapel und Florenz mit unterschiedlichem Erfolg ab.
Alceste in Bologna 1778
93 Jahre bevor sich das Teatro Comunale in Bologna durch die italienische Erstaufführung von Wagners Lohengrin an die Spitze der Avantgarde setzte, trug es sich bereits in die Annalen der Operngeschichte ein. Es ist keine Übertreibung, wenn man die italienische Erstaufführung der Alceste am 9. Mai 1778 als die ersten Gluck-Festspiele außerhalb Wiens bezeichnet. Halb Italien strömte in die Metropole der Romagna, um Glucks berühmte Oper zu sehen. Der Herzog von Parma und Erzherzog Ferdinand von Mailand mit Gemahlin führten ein Defilee hochadliger Opernkenner an, wie es sich in der ältesten Universitätsstadt der Welt nur selten einfand: „Zahlreiche Fremde, besonders aus dem Hochadel, strömen in unsere Stadt, um das schon mehrfach erwähnte großartige Spektakel der Alceste zu sehen.“ So meldete die Gazzetta di Bologna noch am 26. Mai. Schon zur Premiere am 9. Mai war der „concorso di Forestieri“ ganz außerordentlich gewesen. Bei ihnen wie bei den Einheimischen stieß die Oper auf „einhellige Begeisterung“:
„Die ausgezeichneten Darsteller verliehen der Schönheit, die dieser Handlung innewohnt, und der Erhabenheit der Musik die maximale Wirkung. Die vortreffliche Signora De Amicis wusste, den Augen der Zuschauer Tränen zu entlocken. Die Pracht des Bühnenbilds und der Kostüme, die Eleganz und Leichtigkeit der Ballette, die das Werk begleiten und beenden, trugen dazu bei, eine Gesamtheit zu formen, wie man sie auf unseren italienischen Theatern bislang nur selten gesehen hat.“ (Gazzetta di Bologna, 17. Mai 1778)
Diesem Bericht nach zu schließen, scheinen die Bologneser dem Gluckschen Ideal des Gesamtkunstwerks sehr nahe gekommen zu sein. Ob dies wirklich so war, werden wir gleich sehen. Unbestritten aber wurde die Hauptdarstellerin dem hohen Anspruch ihrer Partie gerecht: Durch ihre überragende Gesangs- und Darstellungskunst prägte Anna De Amicis den Italienern das Bild der Alceste tief in die Seele ein. Wie hatte schon 1765 der Wiener Hofdichter Metastasio an die hoch verehrte Sängerin geschrieben? „Wer eine so hohe Dosis an Fähigkeit besitzt wie Ihr, dem muss jede Rolle in Fleisch und Blut übergehen!“ Auch Charles Burney, der gestrenge englische Musikhistoriker, schrieb: „Es gab bei ihr keine einzige Bewegung, die das Auge nicht bezaubert hätte, und keinen einzigen Ton, der das Ohr nicht vergnügte.“ In Turin gelang ihr 1777 das Kunststück, das ans Schwätzen gewöhnte Publikum in allen ihren Arien zum Schweigen zu bringen. Die Neapolitanerin mit den hohen D’s und den ausdrucksvollen Kantilenen hatte selbst die Mozarts restlos begeistert und den jungen Wolfgang 1772 zur Partie der Giunia in Lucio Silla inspiriert. Seitdem hatte sie die größten tragischen Rollen aus Mythos und Epos auf den großen Bühnen dargestellt: die verlassene Armida in Jommellis Meisterwerk, Dido, Calipso und Iphigenie, auch Glucks Eurydike 1774 in Neapel. Von ihrer Alceste durfte man sich wahre Wunder versprechen.
Dass es um den Rest der Aufführung bei weitem nicht so glänzend bestellt war, wie es die lokalpatriotische Presse verkündete, geht aus mehreren Briefen in der Korrespondenz des Padre Martini hervor. Der berühmteste Musiktheoretiker Europas unterhielt von Bologna aus ein musikalisches Netzwerk wie kein anderer Italiener seiner Zeit. In seinem Briefwechsel findet sich am 22. Juni 1778 eine Anfrage von Giambattista Marini aus Wien, der sich im Auftrag Glucks nach der Bologneser Alceste erkundigte. Gluck habe in den italienischen Zeitungen noch keine Berichte entdeckt und nur gehört, dass der indisponierte Tenor Tibaldi die Rolle des Admeto hatte abgeben müssen und dass die Ballette bei der Premiere eine Katastrophe waren. Padre Martini antwortete, dass er die Oper gar nicht gesehen habe und deshalb keine Auskunft geben könne. Es findet sich aber in einem Konvolut mit Berichten zu Gluck in Paris eine anonyme Kritik der Alceste aus Bologna, die den widersprüchlichen Eindruck der Produktion bestätigt. Daraus geht hervor, dass man am Teatro Comunale vom Ideal des Gluckschen „Gesamtkunstwerks“ noch weit entfernt war:
„Da man mich gebeten hat, ernstlich meine Meinung über die Oper Alceste kundzutun, die man in Bologna aufführt, würde ich aus der praktischen Erfahrung heraus, die ich in Musik und Theater besitze, und nach intensivem Hören Folgendes sagen: Die Musik ist sehr expressiv, zu den Worten passend, harmonisch und sehr vernünftig geschrieben. Bezüglich der Ausführenden würde ich sagen, dass mit Ausnahme der Signora de Amicis, die ihre Rolle mit Bravour und Ausdruck vorgetragen hat, alle anderen indifferent gesungen haben. Die Chorsänger bestanden zum Großteil aus Ignoranten, die den Chören mehr schadeten als nützten, wobei sie zum Teil auch noch die Töne verfehlten. Vom Orchester kann man nur sagen, dass es rein materiell die Töne gespielt hat, aber es gab keinerlei Ausdruck oder Abstufung, weder in den Violinen, noch in den Bässen. Ich habe nicht einen einzigen Musiker gehört, der die Alceste mit jener Intention gesungen oder gespielt hat, die Signor Christoph Gluck beim Komponieren im Sinn hatte. Die Schönheit der Ballette bestand nur in der großen Zahl der Tänzer … Einige Dekorationen hätte man mit mehr Sorgfalt ausführen müssen, wie so manch andere Dinge, die aus ökonomischen Gründen fehlten oder besser gesagt: wegen des Geizes der Impresarios.“ (Anonymer Bericht, 1778)
Man sieht: Es war anno 1778 noch unmöglich, den Anspruch von Glucks Musiktragödie mit den Zwängen des italienischen Impresario-Theaters in Einklang zu bringen. Der Schlendrian der Choristen und Orchestermusiker tat ein Übriges, um tieferes Verständnis für die Partitur gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Alceste in Neapel 1785
An diesem Problem scheiterte auch das große Neapel im Herbst 1785, obwohl die erlauchte Accademia dei Signori Cavalieri schon am 16. November 1779 einen konzertanten Vorstoß in Richtung Alceste unternommen hatte – vermutlich mit Anna De Amicis in der Titelrolle. Erst 1785 aber wagte es der Conte Lucchesi Palli, ein Idealist der „Reformoper“, Glucks schwierigstes Werk für zahlendes Publikum szenisch auf die Bühne zu bringen. Da dies im Teatro San Carlo unmöglich war, musste er ins heutige Teatro Mercadante ausweichen. Dieses kleine Haus war 1779 aus Mitteln des Fondo di Separazione errichtet worden und war für seine trockene Akustik wie schlechte Sicht auf die Bühne berüchtigt. Es war freilich nicht der Raum alleine, der die Alceste in Neapel 1785 zum Kuriosum machte.
„Den 16ten dieses hat man in einem kleinen Theater, genannt Al fondo di seperatione, welches unter der hiesigen Theatral-Direcktion steht, die ernsthafte Oper Alceste vom Chevalier Gluck aufgeführt, dieß fürtrefliche Meisterstück, welches in ganz Europa mit allen erdenklichen Beyfall ist aufgenommen worden, hat in der berühmten Hauptstadt Neapel, dem vormaligen Wohnsitz der Musick, misfallen.“
So meldete Norbert Hadrava, Attaché bei der kaiserlichen Botschaft in Neapel und Klavierbegleiter der Königin Maria Carolina, am 29. Oktober 1785 dem deutschen Pastor Johann Paul Schulthesius in Livorno. Hadravas Schilderung gehört zu seinen 19 deutschen Briefen aus Neapel, die sich in Wien erhalten haben und von Giuliana Gialdroni ediert wurden. Der lange Brief über die Alceste ist ein Protokoll des Scheiterns:
„Man hat in Ansehnung der Decorationen, des Vestiariums und der großen Menge Comparsen, Tänzern etc. gar keine Kosten gespahrt, allein auf die Ausübung der Musick (ohnegachtet der besten darzu ausgewählten hiesigen Tonkünstlern) war man gar nicht bedacht. Ich sagte im voraus dem ersten Directeur des Theaters, Chevalier Lucchesi […], er sollte ein solches Werk hier aufzuführen nicht unternehmen, indem gar zu viele Eigenschaften zur Ausübung der Musick von Seiten deren Sängern, Choristen und des Orchesters erforderlich wären, die man hier nicht vereinigt finden kann.“
Der große neapolitanische Musikforscher Lucio Tufano hat aus Kontoauszügen und anderen Quellen die exakte Besetzung der Alceste am Teatro del Fondo ermitteln können. Es wurde tatsächlich an Nichts gespart: Das Orchester war mit 15 Geigen, zwei Bratschen, zwei Celli, drei Kontrabässen und den Bläsern für das kleine Haus ungewöhnlich groß besetzt. 16 Chorsänger wurden eigens vom Conservatorio della Pietà die Turchini engagiert. 12 Tänzerinnen und Tänzer umfasste das Ballett. Doch kaum einer der Mitwirkenden machte sich die Mühe, in den Geist der Musik einzudringen. In der Generalprobe fand Hadrava seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Der Textdichter und Regisseur Calzabigi hatte nur Augen für die junge Primadonna. Derweil taten der Conte Lucchesi, der Komponist Paisiello, der Kapellmeister Cipolla und die Sänger alles, um das Werk zu verderben. Zu viele künstlerische Leiter mischten sich ins Geschehen ein, hinter den Kulissen sogar der Kastrat Millico, der den Sängern einbläute, Glucks Rezitative müssten durchweg langsam und feierlich gesungen werden. Und natürlich konnten die neapolitanischen Orchestermusiker selbst in der Alceste das Verzieren nicht lassen:
„Der berühmte Dichter Calsabigi mit seinem Fernglas war nur beschäftigt, die Stellungen und Bewegungen der ersten Sängerin Marchetti zu beobachten und ihre weißen runden Arme zu richten; Paisiello saß ruhig in Gesellschaft […] also ganz unbesorgt und ohne Theilnehmung wusch er sich die Hände wie Pilatus. Luchesi war voll Feuer, schlug mit Händen und Füssen herum und schrie aus vollem Halse die ersten Worte des anstimmenden Chores. Der Capellmeister, welcher bey dem Clavier saß, war unbekümert auf den Zusammenhang, Tempo und Ausdruck, er spielte nur seinen Generalbass fort, ohne was zu erinneren [...] Wie der erste Akt zu Ende, wurde ich von dem Direckteur an meiner Seite in der Loge befragt, was ich davon hielte, ich erwiederte, daß ich nicht vermuthet hätte, daß der erste Ackt noch so gut ausfallen sollte, indem das Orchester ohne mindester Leitung und jeder einzelne Tonkünstler nach seinem Gutdünken fortspiele, auch die verschiedenen Manieren, um sich auf seinem Instrument hören zu lassen, mit aller Dreistigkeit anbringe. Weiters fragte ich, warum den der Tenor Rovedini und die erste Sängerin ihre Recitative, auch jene ohne Begleitung, mit gar so langsamer Ausdehnung deren Sylben die fast zum Eckel ist, sängen? Man sagte mir, Millico, der sonst berühmte Sänger, hätte sie insgesamt wie auch die Chorsänger abgerichtet, die Worte so nachdrücklich auszusprechen, also der fünfte Direkteur der Alceste.“
Unter diesen Voraussetzungen wurde die Premiere für den Gluck-Kenner aus Wien zur Qual:
„Nach zwey Tagen der gehaltenen Probe führte man die Oper auf, ich wählte mir einen nahen Platz am Orchester und schmeichelte mir, daß man in der Vorstellung wenigstens die Hauptfehler verbessern würde. Allein, es wurde alles auf nemliche Art, wie ich es in der Probe hörte, aufgeführt, und es sind noch mehrere Fehler mit eingeschlichen. Ohnegeachtet dessen gefiel der erste Akt dem Publikum und wurde mit lautem Beyfall aufgenommen, weil der letzte Chor des ersten Akts gut gerathen und besonders die Stelle Fugiamo, fugiamo eine fürtrefliche Wirkung macht. Der zweyte Akt hingegen misfiel jedermann und so bis zu Ende. Die Chöre des zweyten Akts wurden sehr schlecht abgesungen, und die Zwischentänze, wo ein Allegro vorgeschrieben ware, spielte man andante, und so weiter. Es ware kein Licht noch Schatten angebracht, und alles wurde in einer schleppenden Tacktart ohne Geist und Gefühl vorgetragen. Jeder Zuhörer wurde ermüdet und unzufrieden; der zweyte Akt endigte sich ohne den mindesten Beyfall des Publikums. Ich verließ meinen Platz im Parterre, im Fortgehen erblickte ich Paisiello, ich fragte ihn ganz laut: ‚Come vi piace questa musica?’ Er antwortete mir: ‚Io non comprendo la musica di Gluck.’“ (Norbert Hadrava, Brief an Schulthesius, Caserta, 29.10.1785)
Selbst der berühmteste Komponist Neapels, weitgereist bis nach Sankt Petersburg und später selbst ein Meister progressiver Musiktragödien, verstand Glucks Musik nicht. So weit klafften Anspruch und Wirklichkeit in Neapel auseinander. Freilich ist bei Hadravas Hasstiraden Vorsicht geboten: Königin Maria Carolina war eine Habsburgerin und hatte die Uraufführung der Alceste in Wien als Fünfzehnjährige miterlebt. Sie ließ die neapolitanische Produktion zum Geburtstag des Königs am 12. Januar 1786 im Schloss Caserta wiederholen, offenbar mit großem Erfolg. Noch 1810 spielte sich die Königin an einem Hammerflügel das Terzett aus der Alceste zum Trost vor. Ganz so abgeschmackt, wie sie der Wiener Hadrava fand, kann die neapolitanische Alceste nicht gewesen sein.
Dies war nicht zum geringsten Teil das Verdienst von Maria Marchetti Fantozzi. Calzabigi fand alle anderen Darsteller unerträglich schlecht, „die Frau aber, die Alceste darstellte, war die einzig Erträgliche.“ Wie sie sang, kann man sich angesichts der späteren begeisterten Berichte über ihre Stimme gut vorstellen: 1791 pries man sie in der venezianischen Presse als „una gran eccellente tragica declamatrice del Teatro Musicale“, eine große, ausgezeichnete Künstlerin der tragischen Deklamation. Mozart war begeistert von ihrer Darstellung der Vitellia in La clemenza di Tito im September 1791 in Prag, und Reichardt pries sie 1793 in den höchsten Tönen als Primadonna der Berliner Hofoper für ihre „herrliche Stimme“: „Es ist eine von den starken, vollen Stimmen, die im großen Raume, wo sie sich ganz ausgeben und ausbreiten können, von großer Wirkung sind.“ In der trockenen Akustik des kleinen Teatro del Fondo konnte sich Marchettis Stimme weniger entfalten, und auch ihre Gestik war eher auf die große Bühne berechnet. Schon 1785 in Neapel erregte sie damit einiges Aufsehen. „Welche Schönheit und welche Verrückte!“ rief der Komponist Gotifredo Ferrari aus, als er sie im selben Jahr im Oratorium La figlia di Jefte hörte und gestikulieren sah. Er erzählte, halb Neapel sei zusammengelaufen, „um die verrückte Marchetti zu hören und zu sehen, wie sie die Stimme erhebt, wie sie ihre Koloraturen singt, und wie sie die seltsamsten Haltungen und Gesten vollführt, nur um den schmachtenden Priestern im Publikum ein tändelndes Schauspiel zu bieten.“ Ob derlei übertriebens Gestikulieren der Alceste zuträglich war, steht dahin.
Alceste in Florenz 1787
Es blieb einer früheren venezianischen Studienkollegin von Maria Marchetti vorbehalten, in einer weitaus überzeugenderen Produktion der Alceste die Hauptrolle zu singen:
Adriana Ferrarese del Bene. Sie verkörperte die Titelpartie im Karneval 1787 im Teatro di via della Pergola in Florenz, dem ältesten heute noch erhaltenen Opernhaus Italiens, das für seine hervorragende Akustik gepriesen wurde. Dies war nicht der einzige Grund, warum es ausgerechnet am Hof des Großherzogs der Toskana zu einer mustergültigen Einstudierung der Alceste kam.
Großherzog Leopold, der zweitälteste Sohn von Maria Theresia und spätere Kaiser Leopold II., war 1768 der Widmungsträger des Werkes gewesen und im Gegensatz zu seinem Bruder, Kaiser Joseph II., ein glühender Anhänger der ernsten italienischen Oper. Zu seinen Lieblingswerken zählte die Ifigenia in Tauride von Traetta, die zuletzt 1782 in Florenz erklungen war. Eine Neukomposition desselben Librettos durch Angelo Tarchi wurde in der Herbstsaison 1786 am Teatro di via della Pergola zum großen Erfolg, mit Ferrarese in der Titelrolle und dem Kastraten Domenico Bedini als Oreste. Diese Produktion hatte die hohe Qualität des Chores und besonders des Balletts unter dem genialen Choreographen Francesco Clerico unter Beweis gestellt. Im Gegensatz zu Bologna und Neapel waren die Florentiner auf Glucks „Reformoper“ bestens vorbereitet. Der Schritt zur Alceste konnte also gewagt werden, zumal der Florentiner Konzertmeister Felice Mosell ein überaus gewissenhafter und erfahrener Orchesterleiter war.
All dies wäre umsonst gewesen, hätte man nicht in der gerade aus London zurückgekehrten Adriana Ferrarese eine ideale Alceste gefunden. Einige Missverständnisse zu dieser Sängerin sind dabei auszuräumen: Sie stammte nicht aus Ferrara, hieß nicht „Gabrieli“ und war auch nicht jene mittelmäßige Mezzosopranistin, zu der sie Mozart durch zwei schlecht gelaunte Äußerungen in seinen Briefen für die Nachwelt gestempelt hat. Sie hieß mit Nachnamen Ferrarese, stammte aus Udine im Friaul und wurde von der berühmten Gesangslehrerin Antonia Lukovic am Ospedale de’ Mendicanti in Venedig zur Spezialistin fürs pathetische Fach erzogen. Bevor sie 1788 nach Wien kam und dort die drei berühmtesten Jahre ihres Lebens verbrachte, hatte sie als Primadonna seria in London und Italien für einiges Aufsehen gesorgt.
Als die Ferrarese im Januar 1790 in Wien die Partie der Fiordiligi in Mozarts Così fan tutte aus der Taufe hob, lag ihr größter Triumph in Italien gerade erst drei Jahre zurück: die Alceste in Florenz. In den pathetischen Arien, die ihr Mozart auf den Leib schrieb, schwang noch etwas vom unbeugsamen Willen und der heroischen Größe der Gluckschen Heldin nach. Zum Dank dafür feierte man sie in Florenz mit einem langen Gedicht: „Al conosciuto merito della Signora Andriana Ferraresi“. So lautet der Kurztitel jener Canzone aus neun achtzeiligen Strophen, die auf Seidenpapier gedruckt und mit Goldfäden eingefasst war. In der letzten Vorstellung des Karnevals 1787 ließ man diese Gedichtdrucke von den höchsten Rängen des Pergola-Theaters auf das Publikum herabregnen, wie es in Florenz der Brauch war. Glücklicherweise hat sich ein Exemplar dieses Gedichts bis heute erhalten. Schon der lange Titel preist die Ferrarese als Alceste in überschwänglichen Ausdrücken: „Auf das wohlbekannte Verdienst der Signora Andriana Ferrarese, die zum Vergnügen und zur Bewunderung aller die Partie der Primadonna in der Musiktragödie Alceste so glorreich ausführt.“ In zwei Strophen heißt es dazu ausführlich:
Ja, Adriana, mit solchem Feuer
Entzündest Du beim Singen uns’re Herzen,
Und füllst sie bis zum Rand
Mit übermächt’gem Brand,
Dass man wohl sagen müsste:
Der Himmel ist in deinem Busen aufgehoben,
Und selbst der große Jupiter
Wohnt dort, in deiner schwachen Brust.
Wenn du mit tragischem Kothurn
Den Fuß umkleidest und auftrittst
Auf der Bühne, oh Gott, wie qualvoll
Leiden wir mit dir in deinem Schmerz.
Und wenn du uns der liebenden Alceste
Großmüt’ges Opfer dann vor Augen führst,
Was weckst du nicht in uns für Furcht
Und Schrecken durch dein Spiel.
Man sieht: Nicht nur Anna De Amicis in Bologna vermochte dem Publikum Tränen der Rührung und des Mitleids zu entlocken. In der Florentiner Produktion mit Ferrarese erreichte die Alceste in Italien endlich jenes Niveau, das auch einen Wiener Kenner wie Leopold von Toskana überzeugte.
Dr. Karl Böhmer
Musikwissenschaftler aus Mainz, wissenschaftlicher Direktor der Landesstiftung Villa Musica Rheinland-Pfalz und Hauptautor von www. kammermusikfuehrer.de. Forschungsschwerpunkte: die italienische Opera seria der Mozartzeit und Sängerforschung