- Magazin
- Oper Frankfurt
- November/Dezember 2011 (Scan)
- S. 14-15
Die Götter im Exil
Musiktheater und Mythos
Text: Albert Gier
In: Magazin, November/Dezember 2011 (Scan), Oper Frankfurt, S. 14-15 [Publikumszeitschrift]
»Machen wir mythologische Opern, es ist die wahrste aller Formen. Sie können mir glauben.« So beschließt der Dichter ein fiktives Gespräch mit seinem Komponisten, das Hugo von Hofmannsthal zur Uraufführung der Ägyptischen Helena (1928, Musik Richard Strauss) konzipierte. Die Operngeschichte scheint ihm Recht zu geben: Seit den Anfängen um 1600 in Italien sind die großen Figuren der antiken Mythologie - Orpheus, Daphne, Odysseus, Paris und Helena, Ariadne, Venus, Adonis, Proserpina, Apollo und viele andere - ständig auf dem europäischen Musiktheater präsent gewesen. Richard Wagner hat dort auch die Götter und Helden der germanischen Tradition eingebürgert. Im Musiktheater des 20. und 21. Jahrhunderts wird gelegentlich auf außereuropäische Mythen Bezug genommen.
Das Verhältnis zum mythologischen Stoff wird wesentlich durch die Dialektik von Statik und Dynamik bestimmt. Das kollektive Gedächtnis reduziert die auf eine Figur bezogene Überlieferung gewöhnlich auf eine emblematische Situation, Handlung, Geste oder Eigenschaft. Orpheus vermochte durch Gesang und Saitenspiel wilde Tiere zu zähmen und Flüsse zum Stillstand zu zwingen. Er nahm am Argonautenzug teil und soll alle Künste und Wissenschaften erfunden haben. Dieses Wissen besitzen heute nur noch Spezialisten. Seit der Antike ist Orpheus vor allem der Mann, der in die Unterwelt hinabstieg, um seine verstorbene Gattin zurückzuholen. Medea ist die Frau, die ihre eigenen Kinder ermordete, um sich für den Verrat ihres Gatten Jason zu rächen. Don Quijote, eine der relativ wenigen mythischen Figuren, die die Neuzeit (in Gestalt des Romanautors Miguel de Cervantes) schuf, ist und bleibt der Ritter, der gegen Windmühlen kämpfte.
Gerade weil die Figuren so scharf umrissen sind, können ihre Geschichten im Lauf der Zeit immer wieder anders erzählt und gedeutet werden. Der Orpheus-Mythos ist so beliebt, weil Orpheus die Verkörperung des Gesangs, also gleichsam eine Allegorie der Kunstform Oper ist (der Gang der Handlung gehorcht seiner Stimme, die die Götter der Unterwelt gnädig stimmt). In der frühen Neuzeit galt er als Exempel treuer Gattenliebe. Viele Orpheus-Opern entstanden anlässlich von Fürstenhochzeiten. Oft ließ man die Geschichte glücklich enden (so noch Christoph Willibald Gluck, 1762/74) - nicht nur, weil ein tragischer Schluss dem festlichen Anlass wenig angemessen gewesen wäre: Der absolute Herrscher beansprucht das Recht, sich über die Gesetze hinwegzusetzen, die er selbst erlassen hat; er kann Unschuldige einkerkern oder gar hinrichten lassen, aber eben auch Schuldige freisprechen. Glucks Amor, der Eurydike ein zweites Mal zum Leben erweckt, obwohl Orpheus das Verbot, sich auf dem Weg zurück in die Oberwelt nicht umzudrehen, übertreten hat, handelt wie ein Fürst, der durch die Begnadigung eines sympathischen Verbrechers seine eigene Popularität steigert.
Der Ethnologe Claude Levi-Strauss sprach von der Bastelarbeit (bricolage) des mythischen Denkens: Elemente aus den vielen unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Lesarten eines Mythos werden immer wieder neu arrangiert, bis sich eine Antwort auf für die jeweilige Gesellschaft und Epoche drängende Fragen ergibt. Die Medea des Euripides handelt kalt berechnend: Weil Jason sie verlassen hat, will sie seine Zukunft (d. h. seine Nachkommenschaft) zerstören, also tötet sie die gemeinsamen Kinder (die sie liebt!) und die Frau, die Jason weitere Kinder hätte gebären können. Bei Seneca, dessen Medea-Tragödie den meisten Opernversionen der frühen Neuzeit zugrunde liegt, ist sie rasend vor Schmerz und führt die Tat aus, weil sie weiß, dass sie Jason dadurch hier und jetzt das größtmögliche Leid zufügt. Oft wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass Medea eben keine Griechin, sondern eine Barbarin (aus Kolchis an der Schwarzmeer küste) ist. Franz Grillparzer insistiert in seinem Drama auf ihrer Fremdheit, die die Beziehung zu Jason belastet; dieser so aktuelle Aspekt steht auch in Aribert Reimanns Medea-Oper nach Grillparzer (2010) im Vordergrund.
In der mythologischen Oper (so Hofmannsthal) kann der Dichter - anders als im negativ beurteilten »psychologischen Konversationsstück« - »vermöge der Erfindung seiner Handlung etwas übermitteln, ohne es mitzuteilen«. Seine Helena - der aufmerksame Zuschauer wird es begreifen, obwohl es nicht ausgesprochen wird - »liebt eben den Mann, dem sie gehört, ausschließlich - solange sie ihm gehört«. Helena handelt nicht und trifft keine Entscheidungen; es ist weit eher diese Passivität als ihre Schönheit, die sie zur idealen Projektionsfläche für Männerfantasien macht.
Diese Helena ist (wie alle Mythenfiguren) kein reales oder fiktives Individuum, sondern der Archetyp einer bestimmten Konzeption von Weiblichkeit, also eine Abstraktion. Die Kunst des Dichters besteht darin, eine solche Abstraktion so lebendig werden zu lassen, dass wir ihren Schmerz oder ihre Freude mitempfinden. Dessen ungeachtet weist das, was die Figur sagt oder tut, über sich hinaus, es bedeutet etwas (ein Allgemeines). Weil das der reizenden Zerbinetta (in Ariadne auf Naxos) nicht klar ist, versteht sie den Komponisten nicht, der ihr zu erklären sucht, warum Ariadne Bacchus auf sein Schiff folgt:
KOMPONIST: Sie hält ihn für den Todesgott. In ihren Augen, in ihrer Seele ist er es, und darum, einzig nur darum -
ZERBINETTA: Das will sie dir weismachen.
Zerbinetta reduziert den Mythos (das, »was niemals geschah, aber dennoch immer ist«, H. Blumenberg) aufs Anekdotische. Mit Recht fährt der Komponist sie gleich darauf an: »Sie (=Ariadne) ist nicht Ihresgleichen!« Sie ist vielmehr »das Sinnbild der menschlichen Einsamkeit« - was freilich nicht verhindert, dass für diesen von seiner Sendung durchdrungenen Künstler die lebendige Zerbinetta im Handumdrehen wesentlich realer wird als die sinnbildliche Ariadne...
Transponiert man mythisches Geschehen in die menschliche Sphäre, wird vieles absurd oder lächerlich. Im zweiten Akt der Walküre stehen sich zwei Götter, also zwei Prinzipien gegenüber: Fricka vertritt die traditionelle Ordnung, Wotan stehtfür Freiheit von jeglichem Zwang (bis hin zur Aufhebung des Inzest-Tabus). Er unterliegt, weil er seine Position durch vergangenes Unrecht (den Schwindel-Vertrag mit den Riesen, den Raub des Rings) und fragwürdige Versuche, die Folgen abzuwenden (Siegmund als nur scheinbar freier, in Wirklichkeit von seinem Gott-Vater gelenkter Held) selbst entscheidend geschwächt hat. Blendet man die weltgeschichtliche Dimension der Auseinandersetzung aus, bleibt ein Pantoffelheld übrig, der vor seiner xanthippenhaften Ehefrau kuscht.
Heinrich Heine bezeichnete als das »Exil« der alten Götter ihr Fortleben als Dämonen im christlichen Volksglauben. Eine Art Exil ist aber auch der Anachronismus, der die Theatergötter unter die modernen Menschen versetzt, wo sie unweigerlich komisch wirken müssen.
Seit dem 17. Jahrhundert wird die mythologische Oper travestiert. Erstes Zentrum war die Republik Venedig, wo man die Kaiser und Könige des Altertums weit weniger ernst nahm als an den Höfen. Aus der Perspektive des Librettisten Matteo Noris (II Greco in Troia, Musik G.M. Pagliardi, 1688) kann sogar der europäische Gründungsmythos vom Trojanischen Krieg ein glückliches Ende nehmen: Nachdem die Griechen Troja mittels des hölzernen Pferds eingenommen haben, werden sie unaufmerksam, so können die geflohenen Trojaner sie gefangennehmen und die Stadt zurückerobern. Im Bewusstsein, dass das jetzt ewig so weitergehen könnte, beschließt man, sich doch lieber zu versöhnen.
Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hat die Mythentravestie ihren Platz z. B. im Wiener Volkstheater. Von Jacques Offenbach (Orpheus in der Unterwelt, 1858) bis zu Franz Lehär (Der Göttergatte, eine Variante des Amphitryon-Stoffes, 1904) und darüber hinaus hat die Operette die alten Geschichten radikal ins (Klein-)Bürgerliche übersetzt: Offenbachs Orpheus hat seine Ehe schon lange satt und bejubelt Eurydikes Tod wie Wilhelm Büschs Sauerbrod. Nur die öffentliche Meinung (mit der es sich ein Musikprofessor nicht verderben darf) zwingt ihn zum Gang in die Unterwelt.
In der Zeitoper der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts stoßen Mythos und moderner Alltag hart aufeinander: Stefan Wolpes »musikalische Groteske« Zeus und Elida (1928/29) lässt den Göttervater auf der Suche nach Europa am Potsdamer Platz in Berlin auftauchen. Er glaubt, die Gesuchte im »Elida-Mädchen« einer Seifenreklame zu erkennen (Produkt und Plakat gab es wirklich), und wird verhaftet. Der Staatsanwalt beschuldigt Zeus aller nur denkbaren Vergehen (bis hin zur »Lästerung der weiland angestammten Götter Griechenlands«).
Bis heute werden ständig neue mythologische Opern »gemacht«. Derzeit scheint sich die Aufmerksamkeit der Komponisten auf die dunkle, triebhafte, destruktive Seite des Mythos zu konzentrieren - dafür sprechen neben etlichen Medea-Opern der letzten Jahre die Präsenz des Minotaurus bei Harrison Birtwistle oder Hans Werner Henze (Phaedra, 2010) oder Dionysos von Wolfgang Rihm (nach Nietzsche, 2010). Die Geschichte der »wahrsten aller Formen« ist noch längst nicht zu Ende.
Prof. Dr. Albert Gier, Librettoforscher
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