• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • September-November 2006 (Scan)
  • S. 9-10

Freiheit heißt Vernichtung

Caligula - Eine Frankfurter Uraufführung

Text: Norbert Abels

In: Magazin, September-November 2006 (Scan), Oper Frankfurt, S. 9-10 [Publikumszeitschrift]

Camus' vieraktiges Schauspiel, das von der Geschichte eines Selbstmordes auf höherer Ebene spricht, wurde 1945 in Paris uraufgeführt. Es ist ein Ideenstück, dessen Spiegelbild - die Katastrophenlandschaft des Zweiten Weltkrieges - in ihm aufbewahrt ist. Es ausschließlich als die Schilderung totalitärer Herrschaft zu sehen, scheint indessen so unzureichend wie seine Interpretation als Psychopathologie des Tyrannen. Camus stellt die Frage nach einem Daseinssinn angesichts der Zertrümmerung der Werte. Sein Protagonist scheitert an diesem Punkt. Wenn die Wahrheit darin besteht, die Götter zu leugnen, so besteht Caligulas Irrtum darin, die Menschen zu leugnen. Caligula, so Camus, »hat nicht begriffen, dass man nicht alles zerstören kann, ohne sich selbst mitzuzerstören. Caligula ist die Geschichte des menschlichsten und des tragischsten aller Irrtümer.« Der Wahrheitssucher wird zum monströsen Zerstörer. Die Ausrottung der falschen Vernunft avanciert zum Staatsprogramm. Dabei gelingen Caligula Erkenntnisse, deren Gültigkeit wohl auch heute kaum anfechtbar sein dürfte, etwa: »Es ist nicht unmoralischer, die Bürger direkt zu bestehlen, als indirekte Steuern in den Preis von Lebensmitteln zu schmuggeln, deren sie nicht entraten können. Regieren heißt stehlen, das weiß jedes Kind.«

Caligula macht seine Existenz zu einem öffentlichen Schaustück, einer Lektion des von allen Phantomen einer vorgegebenen Ordnung befreiten Einzelnen: »Ich werde ihnen zeigen, was sie noch nie gesehen haben: den einzigen freien Menschen in diesem Reich.«

Freiheit aber heißt hier Vernichtung, ist »entsetzliche Freiheit«. Am Ende sinkt Caligula - wie auch anders - in die Dolchstöße des Kollektivs, weil er erkannt hat, »dass kein Mensch sich allein zu retten vermag«. Schritt für Schritt vernichtet er alles, was sich als Wert aufspreizt und doch nichts anderes sein kann als die Fiktion von Sicherheit. Das einzig noch zu leistende sinnvolle Geschäft besteht für ihn in der Zerstörung dieses Scheins. Unversehens entpuppt er sich dabei als Wahrheitssucher, dessen grenzenlose Grausamkeit nichts anderes ist als die radikalste Zuspitzung des letzten, der Sinnlosigkeit entgegengesetzten Daseinsprinzips. Nachdem er das von nun an immer wieder verwendete Axiom »Die Menschen sterben und sie sind nicht glücklich« ausgesprochen hat, formuliert er seinen Kampf: »Dann ist eben alles um mich Lüge. Ich aber will, dass in der Wahrheit gelebt wird! Und ich habe auch die Mittel, die Menschen zu zwingen, in der Wahrheit zu leben.«

Der Tod der Schwester, der Caligula in inzestuöser Zuneigung verfallen war, löst die Wandlung aus. Caligula entflieht dem Palast. Sein Hofstaat ist ratlos über einen Kaiser, der sich restlos dem Liebeskummer ergibt und der, als er endlich wieder erscheint, die erste seiner großen absurden Forderungen stellt. Verstört, schmutzig, mit triefendem Haar und kotbespritzten Beinen betritt er seinen Palast und verkündet, dass er nunmehr den Mond zu besitzen gedenke. Die Begründung dieses Anliegens stützt er auf die Misslungenheit der Dinge: »Die Welt in ihrer jetzigen Gestalt ist nicht zu ertragen. Darum habe ich den Mond nötig oder das Glück oder die Unsterblichkeit, etwas, das vielleicht unsinnig ist, aber nicht von dieser Welt.« Die Dramaturgie der nun folgenden Geschehnisse folgt dem Prinzip der immer universeller werdenden Negation.

Bereits 1939 formuliert Camus: »Wonach der Eroberer der Rechten oder Linken trachtet, ist nicht die Einheit, denn die Einheit besteht vor allen Dingen aus der Harmonie der Gegensätze, sondern die Totalität, denn sie bedeutet die Ausmerzung der Unterschiede.« Wie so viele Schauspiele der finsteren Zeiten des europäischen Totalitarismus greift auch Camus' Stück zum Genre des historischen Dramas, um im Medium der Vergangenheit die Gegenwart zu begreifen. Caligula spielt im Jahre 38 nach Christi Geburt. Camus' Kaiser zählt kurz vor seiner Ermordung - das Stück schließt mit dem Ausspruch »noch lebe ich« - noch nicht einmal dreißig Jahre. Milde und Klugheit haben, so heißt es in den Berichten des Historiographen Sueton, seine ersten Regierungsjahre bestimmt. Das Stück beginnt mit einer kategorischen Verweigerung. Der römische Kaiser Caligula entschließt sich dazu, den Tod seiner Schwester Drusilla nicht zu akzeptieren. Vom Beginn der langen Entstehungs- und Überarbeitungsgeschichte des Werkes bis zu seinem Abschluss bleibt dieses Verweigerungsmotiv beherrschend. Schon 1937 findet sich der Arbeitstitel: Caligula oder der Sinn des Todes. Am Schluss der ersten Version sollte sich gegen Ende der Vorhang öffnen und sich Caligula direkt an das Publikum wenden: »Caligula ist nicht tot. Er ist hier und da. Er ist in jedem von uns. Wenn auch die Möglichkeit gegeben wäre, wenn ihr Mut hättet, wenn ihr das Leben liebtet, würdet ihr ihn sich losmachen sehen, dieses Monster oder diesen Engel, den ihr in euch tragt.«

Monster oder Engel? Im Verlauf des sich in den nächsten Jahren vertiefenden existenzialphilosophischen Denkens geraten solche, vom Moralurteil geprägten Begriffe immer mehr außer Kraft. An ihre Stelle rückt die Kategorie des Absurden, die in Camus' Werk wohl nach Kierkegaard ihren tiefsten Ausdruck gefunden hat. - Der historische Hintergrund, vor dem Caligula entsteht, könnte indessen kaum eine größere politische Monstrosität aufweisen. Mussolini und Franco, Hitler und Stalin bewiesen die Virulenz der Tyrannis unter den Bedingungen des modernen Massenzeitalters. In den deutschen und sowjetischen Schauprozessen wurden die Angeklagten dazu gezwungen, die ungeheuerlichsten Unwahrheiten zu behaupten. Der Personenkult der Diktatoren befand sich auf dem Höhepunkt. Willfährige Demagogen und Poeten priesen den zum System gewordenen Wahnsinn: die Verfolgung und schließlich Vernichtung des europäischen Judentums, die sibirischen Arbeitslager oder den totalen Krieg.

Zum Objekt so gigantischer wie wahnwitziger Experimentalprozeduren verkümmerte der Einzelne. Das Ende der Diktatoren aber war bei diesem Experiment von Anfang an vorgegeben.

Christian Pade, der Regisseur der Uraufführung, formuliert: Caligula bleibt als Kaiser nur die Tyrannei, den Versuch gegen das Schicksal zu führen - ein Künstler als Kaiser, das geht nicht... Die Versuchsanordnung wird wissentlich zur Implosion, zur Auslöschung gebracht, NOCH LEBE ICH ist der größte absurde Theater-Witz, der Abgang hinter die Bühne, an den Kantinentisch zu Beckett... Und für ihn selbst galt letzten Endes den ganzen Selbstversuch über: Der Mensch ist nicht glücklich und stirbt nicht; muss weiterleben ohne einen Grund zu erfahren, sowenig es einen guten Grund für das Sterben gab.

»Leben ist das Gegenteil von Liebe«, heißt es bei Camus.

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