• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • November / Dezember 2022
  • S. 12-13

Premiere Die Zauberin

Magie einer Außenseiterin

Text: Zsolt Horpácsy

In: Magazin, November / Dezember 2022, Oper Frankfurt, S. 12-13 [Publikumszeitschrift]

Die deutsche Übersetzung (Die Zauberin) des Originaltitels (Tscharodeika) von Tschaikowskis siebter, leider selten gespielter Oper ist irreführend. Denn die Protagonistin Nastasja (Kuma) verführt oder verzaubert niemanden, sie ist vielmehr eine charismatische, emanzipierte und vor allem bezaubernde Frau. Eine, die zu ihren Gefühlen steht und dafür mit ihrem Leben bezahlen muss. Ihre Magie besteht in der Kraft einer authentischen, unbestechlichen Persönlichkeit. Sie repräsentiert mit ihrem Wirtshaus am Rande der Stadt Nischni Nowgorod eine Welt von Offenheit, Freiheit und Vielfalt. Verschiedene Menschen einer gespaltenen Gesellschaft treffen hier friedlich zusammen.

Gespaltene Gesellschaft

Die Handlung verbindet ein Liebes- und Eifersuchtsdrama mit politischen Ränkespielen und religiösen Verstrickungen, zeigt die Ohnmacht der Mächtigen ebenso wie den Opportunismus des Volkes. Obwohl Tschaikowski Die Zauberin für sein bestes Werk hielt, bediente es – im Gegensatz zu anderen russischen Opernerfolgen der Zeit – keine nationalistischen Interessen, und das Libretto von Ippolit W. Schpaschinski (nach dessen gleichnamigem Theaterstück) basierte nicht auf einer prominenten literarischen Vorlage wie Eugen Onegin oder später Pique Dame. Die Publikumsreaktionen in der Uraufführung 1887 blieben höflich, die Pressestimmen waren vernichtend. Mag sein, dass die Öffentlichkeit noch nicht bereit war, die Tragödie einer Frau aus der Unterschicht zu akzeptieren. Tschaikowski weigerte sich, das Stück zu kürzen und zu überarbeiten, um weitere Aufführungen zu ermöglichen. Er selbst prophezeite, dass seine Lieblingsoper »bald in den Archiven verbleiben« würde. Erst in den letzten Jahren wurde das Stück auch außerhalb Russlands erfolgreich aufgeführt und rehabilitiert.

Authentizität

Obwohl die Handlung ursprünglich im 15. Jahrhundert spielt, kommentiert der Stoff die Verhältnisse im Russland des 19. Jahrhunderts. Die selbstbewusste, am Rande eines autokratisch geführten Spitzelstaates mutig agierende Nastasja scheut sich nicht, sich zu ihrer Liebe zum Prinzen Juri zu bekennen. Sie verteidigt ihre Position als Außenseiterin mit Authentizität und Charisma und hat die nötige Intelligenz dazu. Kuma kämpft, bis sie Opfer einer zerrütteten Familienstruktur wird. Ihre Haltung, die sich gegen die Doppelmoral von Gesellschaft und Kirche richtet, unterscheidet sie grundsätzlich von der Fürstin, die als Teil eines korrupten und verlogenen Systems agiert. Tschaikowski zeichnet die beiden Frauenporträts mit scharf kontrastierenden Mitteln: Der durch lyrischen, volksliedhaften und mit weichem Holzbläser- und Streicherklang porträtierten musikalischen Welt von Nastasja sind metallisch-scharfe, schneidende Akzente der Fürstin gegenübergestellt.

Tschaikowskis Hass auf die Kirchenmoral seiner Zeit ist nicht nur in der Handlung präsent, sondern auch musikalisch vernehmbar: Den Glocken zum Gottesdienst wird eine Volksweise entgegengesetzt, Nastasjas Tod mit einer Kirchenweise beklagt. Dieses Mittel war als Affront gegen die zeitgenössische Kirche gemeint und wurde vermutlich auch so verstanden. Demgegenüber wirkt das Porträt des alten Fürsten eher blass und farblos. Im Sinne der Figurenkonstellation dominieren bei ihm die konventionellen, an italienische Opern angelehnten kompositorischen Mittel. Seine Charakterschwäche und sein Schwanken zwischen Welten und Gefühlen führen zum Schluss folgerichtig zum Wahn.

Eruptive Energie

Musikalisch betrachtet, kann man Die Zauberin als vier Opern in einer bezeichnen, da jedem Akt eine andere Klangsprache zugeordnet ist. Der erste Akt gehört zum Genre der russischen Legenden. Wie der Fluss bei Nischni Nowgorod »vom Eise befreit« dahinströmt, bewegt sich auch Tschaikowskis Musik. Die Klangfarben sind sanft, die Musik fließt unaufhaltsam, in ständiger Bewegung, hoffnungsvoll und ganz im Sinne der russischen Volksmusik. Der Ton ändert sich im zweiten Akt grundsätzlich. Plötzlich stockt die Musik: Durch impulsive Akkorde und dramatische Ausbrüche vermittelt sie verdrängte Gefühle und erstarrte, um sich kreisende familiäre Verstrickungen. Im groß angelegten Duett der Fürstin mit ihrem Sohn spitzt sich die eruptive Energie des zweiten Aktes zu: Ihre »gefrorenen Tränen« kündigen den endgültigen Zerfall der Strukturen an. Im dritten Akt dagegen rückt ein leidenschaftlicher Ton ins Zentrum. Die Musik fließt wieder, und die Sehnsucht nach erfüllter Liebe und frei ausgelebten Leidenschaften steht hier im Mittelpunkt. Dieser Akt, vor allem das Liebesduett von Nastasja und Juri, sucht seinesgleichen und weist autobiografische Züge des Komponisten auf. Er lässt die Liebenden die Macht des freien Willens und der Empathie preisen und zeigt Tschaikowskis verzweifelte Suche nach menschlichen Beziehungen, in denen sich Intimität mit Öffentlichkeit und Freiheit verbinden lässt. Für ihn sollte dieser Wunsch letztendlich eine Utopie bleiben: Ein Leben lang hatte er mit gesellschaftlicher Ächtung und Kriminalisierung seiner Homosexualität zu kämpfen.

Macht der Empathie

Der letzte Akt ist mit den dramaturgischen Zutaten eines Schauerdramas gewürzt: Giftmord aus Eifersucht, zwei Liebende auf der Flucht, verfolgt von Feinden und beschützt von treuen Dienern. Auch hier entsprechen Tschaikowskis stilistische Mittel der Dramatik der Handlung. Seine Musik strömt, bebt und klagt, wartet mit illustrativen Elementen (Gewitter, Donner) auf – wobei er mit einer kleinen, zarten Melodie von Nastasja im Volksliedton einen gewaltigen Kontrast setzt. Ein düsteres Bild schließt nach der Sturmmusik die Oper, diese faszinierende Mischung aus Sittengemälde und Kammerspiel, ab. Der Prinz ist tot, doch seine Eltern leben noch. Die Fürstin trauert um ihn und wird dahinvegetieren. Sein Vater und Mörder driftet in Wahn ab. Auch die »Bezaubernde« muss sterben, doch ihr Freiheitsdrang, die tragende Kraft von Tschaikowskis Lieblingsoper, bleibt lebendig in Erinnerung: Kumas Geschichte gewinnt Tag für Tag an Aktualität.

 


 

DIE ZAUBERIN
Peter I. Tschaikowski (1840–1893)

Oper in vier Akten / Text von Ippolit W. Schpaschinski / Uraufführung 1887, Mariinski-Theater, Sankt Petersburg / In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

FRANKFURTER ERSTAUFFÜHRUNG Sonntag, 4. Dezember
VORSTELLUNGEN 11., 14., 18., 21., 30. Dezember / 8. Januar

MUSIKALISCHE LEITUNG Valentin Uryupin INSZENIERUNG Vasily Barkhatov CHOREOGRAFIE Gal Fefferman BÜHNENBILD Christian Schmidt KOSTÜME Kirsten Dephoff LICHT Olaf Winter VIDEO Christian Borchers CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Zsolt Horpácsy

NASTASJA Asmik Grigorian DER FÜRST Iain MacNeil PRINZ JURI Alexander Mikhailov DIE FÜRSTIN Claudia Mahnke MAMYROW / KUDMA Frederic Jost NENILA Zanda Švēde IWAN SCHURAN Božidar Smiljanić FOKA Dietrich Volle POLJA Nombulelo Yende° BALAKIN Jonathan Abernethy POTAP Pilgoo Kang LUKASCH Kudaibergen Abildin KITSCHIGA Magnús Baldvinsson PAISI Michael McCown

° Mitglied des Opernstudios

Mit freundlicher Unterstützung [Logo Patronatsverein]