• Turing
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Anno Schreier, Uraufführung, Saison 2022/23
  • S. 22-25

Zum Libretto

Text: Georg Holzer

In: Turing, Oper von Anno Schreier, Uraufführung, Saison 2022/23, Staatstheater Nürnberg, S. 22-25 [Programmheft]

Im Jahr 1973, fast 20 Jahre nach Alan Turings Tod, durfte das britische Staatsgeheimnis Bletchley Park aufgedeckt werden. Knapp 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde damit der enorme Beitrag bekannt, den Alan Turing und die anderen „codebreakers“ zum Sieg der Alliierten und der Niederlage Nazi-Deutschlands geleistet hatten. Doch die Rehabilitation und die Anerkennung der historischen Bedeutung Alan Turings erfolgten nicht umgehend. Ein bekennender Homosexueller wie Alan Turing weckte auch noch in den 1970er Jahren erhebliches Unbehagen. Der Undank seines Heimatlandes sollte noch einige Zeit anhalten.

Quellen

Maßgeblich bestimmt hat das Bild Turings für die Nachwelt die Biografie „Alan Turing – The Enigma“ von Andrew Hodges, die 1983 erschien und 1989 auch in deutscher Übersetzung herauskam. Hodges, heute emeritierter Professor für Theoretische Physik der Universität Oxford, war in den 1970er Jahren in der britischen Schwulenbewegung aktiv, woraus die Idee entstand, von Turings Leben zu berichten. Durch seine manchmal auch ermüdende Akribie – Hodges hat wirklich alles zusammengetragen, was von oder über Turing überliefert war – hat er ein Standardwerk geschaffen, das immer eine Referenz für Turing-Interessierte bleiben wird. Natürlich bildet es auch die Grundlage aller biografischen Fakten, die ins Libretto unserer Oper eingeflossen sind.

Seit den 1980er Jahre sind viele Bücher über Turing geschrieben worden, sowohl wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit seiner Forschung als auch literarische und künstlerische mit seinem Leben. Die deutschen Schriftsteller Rolf Hochhuth und Hans Magnus Enzensberger haben sich von Turing inspirieren lassen, ebenso wie Robert Harris in seinem Roman über die Codeknacker in Bletchley Park („Enigma“). 2015 wurde posthum die Biografie veröffentlicht, die Turings Mutter Sara nach dessen Tod über ihren Sohn verfasst hatte.

Die sicher wirkmächtigste künstlerische Bearbeitung von Turings Lebensgeschichte war der Film „The Imitation Game“ von 2014. Durch diese international erfolgreiche Produktion wurde Alan Turing einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Der Film hat vorgemacht, was nun auch unsere Oper versucht: durch die Fiktionalisierung seiner Biografie ein am Ende möglichst getreues und nachvollziehbares Bild von Turings Leben und Ideen zu entwerfen.

Ein interessantes musikalisches Projekt zu Turing war das Konzert „A Man From the Future“ des Pop-Duos Pet Shop Boys. Die Aufführung fand am 23. Juli 2014 mit dem BBC Concert Orchestra und den BBC Singers im Rahmen der BBC Proms in der Londoner Royal Albert Hall statt. Die Musik dieses Pop-Oratoriums ist trotz der Ankündigung der Band bis heute nicht auf Tonträger verfügbar.

Wahrheit und Fiktion

„Turing“ ist keine vertonte Biografie Alan Turings, sondern der Versuch, sich seiner Persönlichkeit fiktional zu nähern. Trotzdem orientiert sich das Stück an wichtigen Stationen seines Lebens: dem Tod Christopher Morcoms, dem Studienaufenthalt in Princeton, der Arbeit in Bletchley Park, der verhängnisvollen Affäre mit Arnold Murray, der Verurteilung wegen homosexueller Handlungen, dem Selbstmord. Die Einführung der Figur Madame KI schafft ein Gegengewicht zur einsamen Gestalt Turings. Sie ist Spielmacherin, Erzählerin, ein Wesen aus einer Zukunft, in der man Mensch und künstliche Intelligenz nicht mehr unterscheiden kann. Sie ist die einzige, die Turing verstehen und mit der er sich auf Augenhöhe unterhalten kann. Madame KI ist auch eine Allegorie der Mathematik und der Wissenschaft und als solche wahrscheinlich Alan Turings einzige wirklich große Liebe. Allerdings hat sie auch ihre eigene Agenda: Sie möchte von Turing „erfunden“ und in die Welt gebracht werden, um dann die Abschaffung des Menschen zu bewirken. Sie hat eine Vorstellung von Turings psychosozialer Verfassung, aber letztlich kein Interesse daran.

Ebenso wenig festgelegt wie Madame KI ist die Funktion des Chors, der mal als Erzähler, mal als Sparringspartner für Turing, aber auch als Gemeinschaft Schiffbrüchiger und als Codeknacker auftritt. Die Geschichte der Verlobung mit Joan ist authentisch, hatte für Turings Leben aber viel weniger Bedeutung, als es die Oper behauptet. Mir ging es darum, dadurch den immer wiederkehrenden Versuch Turings zu illustrieren, sich mit einer Wirklichkeit zu arrangieren, die er als zutiefst unvernünftig und unlogisch wahrnimmt, und sein sehr nachvollziehbares Scheitern an dieser Wirklichkeit.

Die Szene „Bletchley Park 3“, in der Max (der Name gehört einem realen Kollegen und Freund Turings, die Figur aber ist Fiktion) versucht, die Versenkung eines Schiffs zu verhindern, auf dem sich sein Bruder befindet, ist reine Erfindung. Die Codebreaker von Bletchley Park hatten sicher keinen Einfluss darauf, wie die militärische Führung die von ihnen gelieferten Informationen verwertete. Diese Szene ist aber wichtig, um zu verstehen, wie sehr moralische und emotionale Probleme den Logiker Turing unter Druck setzten.

Die Anekdoten mit der Gasmaske gegen Pollenflug und der defekten Fahrradkette sind ebenso historisch verbürgt wie Turings Leidenschaft für Marathonläufe, Fahrräder und das Schachspiel. Die Szene, in der die Polizisten Turing davon abhalten wollen, sich selbst zu belasten, soll sich in dieser Weise zugetragen haben. „Schneewittchen“ war ein Märchen, das Turing sehr liebte; deshalb steht auch die These im Raum, er könne seinen Selbstmord mit einem vergifteten Apfel als Reverenz an diese Geschichte inszeniert haben. Aus den Fakten und ihrer fiktionalen Bearbeitung soll am Ende ein Bild der Persönlichkeit Alan Turings entstehen, das ihrem realen Vorbild möglichst nahe kommt und gerecht wird.

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