• Anna Nicole
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Mark-Anthony Turnage, Saison 2018/19 (Auszug)
  • S. 29-33

Berühmt dafür, berühmt zu sein

Text: Georg Holzer

In: Anna Nicole, Oper von Mark-Anthony Turnage, Saison 2018/19 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 29-33 [Programmheft]

Im Kino erfreut sich das „Biopic“ großer Beliebtheit, also die verfilmte Lebensgeschichte historischer Figuren. Vielleicht drückt sich darin die Sehnsucht nach größeren Zeiten aus, in denen noch einzelne Figuren zu Ikonen wurden und die Träume einer ganzen Epoche auf sich vereinigen konnten. Marilyn Monroe, das große Vorbild von Anna Nicole Smith, hat diesen Kult-Status erreicht – nicht, weil sie eine so außerordentliche Schauspielerin war, sondern weil ihre Art aufzutreten, ihr Gesicht und ihr Körper, ihr glamouröses Leben die Sehnsüchte vieler Menschen befeuerte. Anna Nicole selbst, das tragisch früh verstorbene Busenwunder und Partygirl, ist keine solche Ikone geworden. Vermutlich, weil sie nichts Bleibendes hinterlassen hat, nichts,

was einen Mythos begründen könnte: keinen Song, keinen nennenswerten Film, nicht mal eine Ghostwriter-unterstützte Autobiografie. Nur das gnadenlose Internet, das nichts vergisst, wird noch für lange Zeit die Erinnerung an Anna Nicole wach halten – die hinreißenden Bilder eines wandlungsfähigen Fotomodells, aber noch mehr die fürchterlich peinlichen Auftritte einer zugedröhnten und verfetteten jungen Frau, die nach Aufmerksamkeit und Geld giert. In ihren letzten Lebensjahren war es die Faszination der Peinlichkeit, der Fremdscham, die Smith noch ein Millionenpublikum erhielten. Als die Yellow Press nach ihrem Tod keine neue Nahrung mehr bekam, verschwand ihr Name aus dem Prominentenzirkus. Ein paar Berichte noch über Erbstreitigkeiten, über das Schicksal ihrer kleinen Tochter: mehr ist nicht geblieben. In einem von vielen als abfällig empfundenen Nachruf auf Anna Nicole Smith stellte die New York Times 2007 fest: „Sie war dafür berühmt, berühmt zu sein.“ Dieser Satz ist wahr, auch wenn die Häme, die in ihm steckt, völlig fehl am Platz ist. Anna Nicole Smith war keine Künstlerin, nicht intelligent, sie war attraktiv auf eine etwas ordinäre Weise, und ihre mächtigen Brüste hatte ihr nicht die Natur geschenkt. Doch was ihr Leben und Sterben uns gezeigt und hinterlassen haben, ist ein menschliches Drama unserer Zeit. Nicht in dem Sinne, dass sich solche Geschichten oft zutrügen und Anna Nicole beispielhaft für das Leben vieler Menschen steht – dafür ist ihr Schicksal zu extrem und zu monströs. Sondern wirklich als Drama: Welcher Theaterautor hätte sich eine solche Handlung besser ausdenken können, den märchenhaften Aufstieg und tiefen Fall eines Provinzmädchens? Man meint, einen solchen Stoff müsste das Theater nur noch vom Boden aufheben. Und das haben Mark-Anthony Turnage und Richard Thomas getan.

Deines Glückes Schmied

Das Thema ihrer Oper sind der amerikanische Traum und seine Kehrseite, dargestellt am Beispiel einer jungen Frau. Die Perspektive wirkt aber in vielerlei Hinsicht sehr europäisch. Denn die Idee des amerikanischen Traums, der zufolge jeder die Möglichkeit zum unbegrenzten gesellschaftlichen Aufstieg hat, ist von Europa aus schon immer misstrauisch beäugt worden. Der viel weniger dynamische alte Kontinent mit seinen – je nach Blickwinkel – festgefahrenen oder altbewährten Strukturen hatte immer Angst vor zu viel Offenheit und vor allem vor dem Geld als alleiniger Richtschnur sozialen Erfolges. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, zumindest nicht in der europäischen Denkkultur. Was unsere tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse angeht, ist die Amerikanisierung dagegen ein gutes Stück vorangekommen. Das spiegelt sich sogar weniger in der tatsächlichen Reduzierung von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten wider als in einer neuen Mentalität, die die Eigenverantwortung des Einzelnen für sein Schicksal betont. Denn die Umkehrung des amerikanischen Traums ist ja einfach: Wenn jeder aus eigener Kraft die sozialen Grenzen sprengen und ganz nach oben kommen kann, heißt das im Umkehrschluss, dass jeder, der unten bleibt, zu faul, zu dumm oder zu ungeschickt ist, um das zu schaffen. In der Oper „Anna Nicole“ steht die Titelfigur vor genau dieser Frage, als sie in der Praxis des Schönheitschirurgen den übergroßen Möglichkeiten begegnet, die sich für ihren Vorbau auftun. Der Arzt sieht ihre Situation klar: Ihr Talent und ihre Optionen sind sehr begrenzt. Nur mit einer spektakulären Oberweite hat sie eine Chance, ihre Lage grundlegend zu verbessern. Trotzdem bleibt Anna vorsichtig: „I’ll take the tits but let’s start small“ („Ich nehme die Titten, aber fangen wir erstmal klein an“). Erwartbare Antwort des Doktors: „If you start small why bother at all“ („Für was Kleines lohnt sich der Aufwand nicht”), und Annas Einsicht: „Oh whatever supersize me“ („Ach, was soll’s, blasen Sie mich auf!“). Das Brustimplantat ist das perfekte Symbol für die uneingeschränkte Selbstverantwortung des Individuums. Wo man in alten Zeiten sein Unglück noch auf eine Laune der Natur schieben und damit von der eigenen Persönlichkeit fern halten konnte, ist man jetzt selbst schuld, wenn man sein Schicksal nicht korrigiert; die Möglichkeit dazu hat schließlich jeder. Natürliche Anlagen sind keine unveränderlichen Tatsachen mehr. Wer arm, hässlich und dumm bleibt, wer krank wird oder stirbt, hat sich eben nicht ausreichend optimiert. Die Selbstoptimierung ist der gesellschaftliche Imperativ des amerikanischen (und immer mehr auch europäischen) Traums.

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