• Don Carlos
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Giuseppe Verdi, Saison 2019/20 (Auszug)
  • S. 21-27

Schiller, Verdi und die Geschichte

Text: Georg Holzer

In: Don Carlos, Oper von Giuseppe Verdi, Saison 2019/20 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 21-27 [Programmheft]

Ein Zeitreisender im Geschichtsdrama

Als Friedrich Schiller im Jahr 1787 seinen „Don Karlos“ zur Uraufführung bringt, ist er noch keine 30, aber schon seit Jahren ein Liebling des deutschen Theaterpublikums. Mit den „Räubern“, der „Verschwörung des Fiesko“ und „Kabale und Liebe“ hat er Maßstäbe gesetzt, was die Dramatisierung bürgerlicher Lebenswelten und die Expressivität auf der Bühne angeht. Man schätzt ihn zwar als jungen und fortschrittlichen, aber kaum als politischen Autor ein. So wird sein neuestes Stück erst einmal skeptisch aufgenommen: Er, der mitgeholfen hat, das Theater von Königen und Klerikern zu befreien und die Lebenswirklichkeit seiner Zeitgenossen für die Bühne zu entdecken, erzählt nun eine Geschichte vom spanischen Königshof im 16. Jahrhundert! Soll etwa doch die gute alte Haupt- und Staatsaktion auf die deutschen Bühnen zurückkehren? Doch wer das glaubt, hat die Rechnung ohne Schiller gemacht.

Sicher, die Figuren seiner Tragödie sind Könige, Herzöge, Marquis, Prinzen und Prinzessinnen. Um Politik geht es auch, aber nicht in erster Linie. Die Verfallserscheinungen des spanischen Weltreichs und die Unruhen in den niederländischen Provinzen sind eine wichtige Folie, vor der sich das eigentliche Geschehen entfalten kann. Denn im Gewand eines Mantel-und-Degen-Stücks handelt Schiller von den allerpersönlichsten Gefühlen seiner Figuren, von verbotener Liebe, Rache und brennendem Ehrgeiz. Auch die erhabensten Ideen wie Bürgerrechte und politische Freiheit, so scheint Schiller uns sagen zu wollen, müssen in den Hintergrund treten, wenn Menschen um Liebe kämpfen.

Dennoch ist Schiller ein zu sehr politisch und historisch denkender Mensch, um sich ganz der sentimentalen Tragödie hinzugeben. Sein Gedankenexperiment besteht darin, im Marquis von Posa eine Art Zeitreisenden auf die Bühne zu bringen. Am fundamentalistisch-katholischen, von der Heiligen Inquisition bestimmten spanischen Hof Philipps II. taucht um das Jahr 1559 plötzlich ein Mann auf, der von Gedankenfreiheit spricht, von Religionsfreiheit und von Menschenrechten, kurz: ein Abgesandter der Aufklärung, ein Botschafter aus Schillers Zeit. „Das Jahrhundert/ Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe/ Ein Bürger derer, welche kommen werden“, sagt Posa bei Schiller. Die Szene zwischen diesem Zukunftsmenschen und dem (übrigens noch gar nicht so alten) König Philipp ist eine der berühmtesten und erstaunlichsten der Theaterliteratur; Verdi räumt ihr in seiner Oper ungewöhnlich viel Zeit und Musik ein. Mit dem Sendungsbewusstsein eines Menschen, der sich seiner Sache vollkommen sicher ist, marschiert Posa ins Gemach des Königs, wie alle Fanatiker überzeugt davon, dass jeder Mensch die Wahrheit verstehen muss, wenn er sie nur zu hören bekommt. Aber der König versteht nicht nur gar nichts, er versteht sogar etwas ganz anderes: Dieser junge Mann hat zwar verworrene Ideen, die mit der Realität des spanischen Weltreichs nichts zu tun haben, aber er scheint unerschrocken und ehrlich zu sein. Philipp, abgeschlossen in seinem Palast, abgeschirmt von der Inquisition und umgeben mit Speichelleckern, verliebt sich in den Spinner. Und wird bitter von ihm enttäuscht, weil Posa, so vertrauenswürdig er auch scheint, doch im Dienst seiner Sache ein doppeltes Spiel spielt und das Vertrauen des Königs missbraucht. Posa pokert zu hoch: Er will seinen Freund Carlos an der Spitze einer Armee in die spanischen Niederlande schicken, wo er den dortigen Aufstand gegen die Zentralmacht nicht brutal niederschlagen, sondern in eine Freiheitsbewegung verwandeln soll. Da der Thronfolger zum Heerführer offensichtlich ungeeignet ist, ist Posas Plan zu leicht durchschaubar. Schiller benötigt dennoch eine komplizierte Brief-Intrige und die Wachsamkeit des Großinquisitors, um Posa beim König in Ungnade fallen zu lassen.

Verdi als Schiller-Komponist

Giuseppe Verdi hat vier Dramen von Friedrich Schiller als Grundlagen für seine Opern verwendet. Das ist viel; trotzdem kann man nicht so leicht von einer Vorliebe Verdis für Schillers Dramatik sprechen. Nur eines dieser vier Stücke, „Kabale und Liebe“ („Luisa Miller“) hat sich Verdi selbst als Opernsujet ausgesucht, die anderen waren Vorschläge von Theaterdirektoren und Librettisten. Die Librettisten waren es auch, die „Giovanna d’Arco“ („Die Jungfrau von Orléans“), „I Masnadieri“ („Die Räuber“) und „Luisa Miller“ nach dem italienischen Operngeschmack zugerichtet haben. So entstehen aus einer historischen Tragödie, einem Sozialdrama und einem bürgerlichen Trauerspiel drei Melodramen, die nicht zu den beliebtesten Opern Verdis gezählt werden – vermutlich, weil ihnen der schillersche Geist einigermaßen ausgetrieben wurde und nur Rührstücke übrig geblieben sind. Im „Don Carlos“ ist das anders. Sicher, „Don Karlos“ ist ein überlanges, hochkompliziertes Drama, in dem es auf jedes Wort und jeden Winkelzug genau ankommt. Verglichen damit ist das Libretto des „Don Carlos“ eher schlicht und leicht nachvollziehbar, wie ja die Meisterschaft eines guten Opernlibrettos immer in Klarheit und Wirkungsbewusstsein besteht. Aber es ist den Autoren der Erstfassung, Joseph Méry und Camille Du Locle, doch gelungen, aus Schillers genialem, aber sehr redseligen Text eine packende und überzeugende Opernhandlung zu bauen.

Das gelingt auch deshalb, weil gegenüber Schillers Drama die politische Handlung noch einmal weiter in den Hintergrund tritt. Politik ist eben im 19. Jahrhundert noch keine geeignete Inspirationsquelle für dramatische Musik. Verdis „Don Carlos“ ist durch und durch eine Liebesgeschichte. Im Mittelpunkt steht das Paar, das nicht zueinander kommen kann: Elisabeth von Valois und Don Carlos, der Thronfolger von Spanien, waren füreinander bestimmt, bis der verwitwete König Philipp die französische Königstochter aus Staatsraison selbst heiratet. Dass diese unerfüllbare Liebe der Kern der gesamten Aktion ist, zeigt schon der 1. Akt: Er spielt einige Zeit vor dem Einsetzen der Haupthandlung im französischen Fontainebleau. Don Carlos ist dorthin gereist, um sich seine Zukünftige inkognito anzusehen. Die beiden treffen sich, erkennen und verlieben sich. Doch noch während sie von ihrem künftigen gemeinsamen Glück träumen, erreicht sie die Nachricht, dass Elisabeth Philipps Gattin werden soll. Im 2. Akt ist Carlos schon ein gebrochener Mann. Erst das Auftauchen seines Jugendfreundes Rodrigue Posa gibt ihm den Lebensmut zurück. Eine weitere Liebe in dieser Oper also: die zwischen Carlos und Posa, die durch Posas Manöver immer wieder auf harte Vertrauensproben gestellt wird. Vernarrt in Posa ist aber auch König Philipp, der in ihm endlich einen ebenbürtigen Geist erblickt, einen, der durch seine innere Unabhängigkeit genauso stark ist wie der mächtigste Herrscher der Welt. Verliebt in Carlos – oder zumindest sehr angezogen von seiner Zukunft auf dem spanischen Thron – ist die Prinzessin Eboli, die zugleich die Mätresse des Königs und die Vertraute der Königin ist.

Nur zwei der Hauptfiguren dieser Oper lieben keinen Menschen, sondern eine Idee: Posa, der im Freiheitskampf der Flamen den Gedanken der politischen Freiheit liebt, und der Großinquisitor, der in der Macht der Kirche das einzige Mittel zum Glück und Heil der Menschen erkennt. Zwischen diesen beiden, die auf der Szene nie miteinander sprechen, spielt sich der große politische Kampf um die Zukunft der Menschheit ab. Der Großinquisitor gewinnt ihn, weil er die Macht noch auf seiner Seite hat. Aber Schiller, der sich bald zu den Idealen der Französischen Revolution bekennen wird, und Verdi, der auf seine Weise gegen die Unterdrückung Italiens durch die verkrusteten Monarchien der Habsburger, der Bourbonen und des Papstes gekämpft hat, wissen, dass den Diktaturen in der Weltgeschichte die Stunde längst geschlagen hat.

Auf dem Weg zum Spätwerk

Musikalisch beschreitet Verdi mit dem „Don Carlos“ Wege, die für ihn nicht radikal neu sind, aber eine weitere Bewegung von der Nummernoper der „Trilogia popolare“ („Rigoletto“, „Der Troubadour“, „La Traviata“) hin zu seinen Spätwerken Otello“ und „Falstaff“ markieren. Die Oper hat eine bewegte Bearbeitungs- und Aufführungsgeschichte: 1867 wird sie in französischer Sprache in Paris als Auftragswerk der Opéra uraufgeführt. Schon damals wird sie, obwohl sie ausdrücklich als Grand Opéra bestellt ist, als zu lang empfunden; noch vor der Premiere nimmt Verdi einige Kürzungen vor. Trotzdem ist der Komponist mit dieser Version nicht zufrieden. „Don Carlos“ verfolgt ihn als ein unabgeschlossenes Projekt. Durch ein Zerwürfnis Verdis mit dem Librettisten Du Locle, der im Hauptberuf Direktor der Pariser Opéra ist, ruht die Bearbeitung der Oper für lange Zeit. Erst 1882, also 15 Jahre nach der Uraufführung, fragt Verdi bei Du Locle eine neue Textfassung an. Diese Neufassung in französischer Sprache, die Verdi 1884 vollendete, bildet die Grundlage der Nürnberger Aufführung. Sie wurde kurze Zeit später ins Italienische übersetzt und um den 1. Akt erleichtert, sodass das Geschehen in Fontainebleau nur noch in einer Rückblende erhalten blieb. Dieser Verzicht auf die Vorgeschichte ist oft als Verlust empfunden worden und wurde von Verdi für eine Aufführung in Modena 1886 wieder korrigiert.

Die Musik der Oper lässt Verdi in allen Farben schillern: Es gibt klassische Opernformen, aber auch Folkloristisches (wie die Schleier-Arie der Eboli), Anklänge an Kirchenchoräle, Leitmotive wie das Freundschaftsmotiv von Carlos und Rodrigue, das insgesamt viermal auftaucht, und eine Behandlung der Singstimmen und der Orchestrierung, die von üppigsten Klangfarben bis zu düstersten, hoffnungslosesten Passagen reicht.

Spanien im 16. Jahrhundert

Und die historische Wahrheit? Zwar ist Friedrich Schiller der leidenschaftlichste Historiker unter den großen europäischen Dramatikern, trotzdem ist sein Grundsatz, dass Geschichte nur dann den Weg auf die Bühne finden kann, wenn sie deren Bedürfnissen angepasst wird. Tatsächlich hätten die wirklichen Ereignisse am spanischen Hof um das Jahr 1559 keine besonders spannende Bühnenhandlung ergeben. Nach dem Rückzug Karls V. ins Kloster 1556 und seinem Tod zwei Jahre darauf schafft es sein Sohn Philipp noch eine Weile, den von Karl eroberten Machtbereich zu halten und sogar zu vergrößern. Doch schon in Philipps über 40-jähriger Herrschaft beginnt der Niedergang des spanischen Reichs: Die Wirtschaft stagniert, das Flandern-Problem ist nur mit Gewalt zu lösen, Philipp isoliert sich zunehmend von den anderen europäischen Mächten. Dazu kommt seine persönliche Tragödie, so der frühe Tod seiner jungen Ehefrau Elisabeth von Valois (die Heirat mit ihr hat die Auseinandersetzungen mit Frankreich beendet, weshalb sie in Spanien „Isabel de la Paz“ genannt wird) und die geistige Umnachtung des Kronprinzen Carlos, der 1568 unter ungeklärten Umständen in Kerkerhaft stirbt. In seinem Schicksal deutet sich schon an, was den spanischen Habsburgern in den nächsten 100 Jahren blüht: Um das Reich nicht teilen zu müssen, heiratet man in der Familie, was zu immer offensichtlicheren geistigen und körperlichen Erbschäden führt, bis das Herrscherhaus Anfang des 18. Jahrhunderts ausstirbt und Europa in einen blutigen Erbfolgekrieg stürzt. Ein Marquis von Posa, der die Könige vor der eigenen Unfähigkeit und vor ihren korrupten Räten hätte retten können, hat in der Wirklichkeit leider nicht existiert.

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