- La Calisto
- Staatstheater Nürnberg
- Oper von Francesco Cavalli, Saison 2019/20 (Auszug)
- S. 23-27
Die Erfindung des großen Bären
Text: Georg Holzer
In: La Calisto, Oper von Francesco Cavalli, Saison 2019/20 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 23-27 [Programmheft]
Bären-Schicksale
In der Version des Mythos um die Nymphe Kallisto, wie sie Ovid in seinen „Metamorphosen“ darstellt, gibt es beinahe ein entsetzlich tragisches Ende. Arkas, Kallistos und Jupiters gemeinsamer Sohn, zieht jagend durchs Gebirge und begegnet dabei einer Bärin, die seine Mutter ist, aber das kann er nicht erkennen. Er würde sie töten, wenn Jupiter nicht rechtzeitig eingriffe, auch Arkas in einen Bären verwandelte und die beiden ans Firmament schleuderte, wo sie seitdem als Großer und Kleiner Bär stehen. Um den Rachedurst von Jupiters Gattin Juno zu stillen, darf Kallisto also nicht gleich zum Himmel fahren, sondern muss noch einige Jahre als Tier durch die Welt ziehen, bevor ihr die vom Göttervater versprochene Ehre zuteil wird.
Heute finden wir Bären süß, nicht zuletzt deshalb, weil wir sie in Europa nicht mehr in freier Wildbahn antreffen. Das Bären-Bild früherer Zeiten ist aber weniger das vom Teddy, tapsigen Honigräuber und Winnie the Pooh, sondern eher das eines gefährlichen Raubtiers von eher geringen Geistesgaben und vor allem von unersättlichem sexuellem Appetit. Im Zusammenhang mit dem Kallisto-Mythos erscheint es deshalb als besonders perfide, dass die Nymphe in einen Bären verwandelt wird. Der unstillbare Drang findet sich schließlich nicht auf ihrer Seite, sondern bei ihrem Verführer Jupiter. Indem Juno die Geliebte ihres Mannes in eine Bärin verwandelt, meint sie eigentlich ihren Sau-Bären von Gatten, doch über den hat sie keine Macht; sie kann nur gegen das vorgehen, was er liebt.
Venezianische Oper
Für das venezianische Theater des 17. Jahrhunderts war die Geschichte von Kallisto (Calisto) und Jupiter (Giove) ein Geschenk. Hier waren alle Zutaten vorhanden, um das anspruchsvolle Publikum zu befriedigen: Travestie, Sex und Eifersucht, Götter mit sehr menschlichen Verhaltensweisen und eine Sterbliche, die mit reinem Herzen und besten Absichten in den Intrigen höherer Mächte untergeht. Das Opernleben in Venedig hing nicht an der Gunst eines großzügigen Fürsten, sondern musste sich durch Kartenverkäufe finanzieren. Die Kosten waren beträchtlich: Auch wenn das Orchester noch sehr klein war, waren die Gagen für gute Sängerinnen und Sänger in den Hauptpartien hoch, und auch der Komponist ließ sich gut bezahlen.
Im explodierenden venezianischen Opernbetrieb um die Mitte des Jahrhunderts war Francesco Cavalli sowohl der versierteste Komponist als auch der geschickteste Unternehmer. Im Hauptberuf und für ein eher schmales Gehalt war Cavalli Chordirektor an St. Markus, dem damals renommiertesten Ort für Kirchenmusik in Italien. Sein Lehrer Claudio Monteverdi war dort Kapellmeister gewesen und hatte sich ebenfalls um die Oper bemüht, in beidem folgte Cavalli ihm nach.
Monteverdi hatte der Oper mit seinen Stücken, von denen leider nur drei vollständig erhalten sind, den Weg gezeigt. Sein „Orfeo“ vom Anfang des Jahrhunderts steht noch in der Tradition, die die Gründerväter der Oper Ende des 16. Jahrhunderts etablieren wollten: Oper als eine eher akademische Idee davon, wie das Theater der Antike ausgesehen haben könnte. In seinen beiden letzten Stücken „Il ritorno d’Ulisse in patria“ und „L’incoronazione di Poppea“ hatte er die Oper zum Unterhaltungstheater weiterentwickelt. Die antiken Mythen und Historien durften nun ausgeschlachtet werden, um ein zahlendes Publikum zu begeistern. Jede Art von Purismus, literarisch oder historisch, hatte hier nichts mehr zu suchen.
An diese Vorstellung knüpfte Cavalli noch zu Lebzeiten seines Meisters an. Nach dem Tod des betagten Monteverdi 1642 war Cavalli Venedigs unumstritten führender Opernkomponist. Zu verdanken hatte er das auch geschickten Librettisten wie Giovanni Faustini, der zugleich Opern-Unternehmer war. Das Repertoire an brauchbaren Geschichten aus der antiken Mythologie und der römischen Geschichte war unerschöpflich, aber sie mussten entsprechend bearbeitet werden, um den Zuschauern zu gefallen. Wichtig war dabei, dass die Liebe nicht nur als edles Gefühl, sondern auch als handfestes erotisches Interesse dargestellt wurde, und dass die Komik nicht zu kurz kam, weshalb meist mehrere komische Nebenfiguren erfunden wurden. Am beliebtesten war die schräge Alte, die trotz ihrer Jahre noch hinter kräftigen jungen Männern her ist und oft von einem Mann gesungen wurde. In „La Calisto“ nutzen Faustini und Cavalli auch die unanständigen Waldgottheiten Pan, Silvano und Satirino, um ungebremstes sexuelles Begehren in die Handlung zu bringen. Trotzdem bleiben die Figuren nicht in dem simplen Rahmen, die ihnen die Tradition zuweist. So ist Linfea bei aller Komik eine Frau, die sich ernsthaft fragt, wie sie leben möchte, Pane ist ein zurückgewiesener Liebhaber, und den kleinen Satirino kann man in seinem erwachenden sexuellen Drang auch irgendwie ernst nehmen.
Ein weiteres Konstruktionsprinzip des venezianischen Theaters ist es, sich nicht nur auf eine Haupthandlung zu verlassen, sondern noch mindestens einen weiteren Handlungsstrang aufzumachen, der mit dem Hauptthema meist nur lose verbunden ist. In „La Calisto“ besteht die zentrale Erzählung in der Liebesgeschichte zwischen Calisto und Giove, Giunones Rache an Calisto und deren Erhebung zum Sternbild. Nicht viel weniger Raum nimmt die Liebe zwischen Diana und Endimione ein, die eigentlich unmöglich ist, weil Diana sich für die Jungfräulichkeit entschieden hat. Der Mythos löst diesen Widerspruch, indem Diana (in den älteren Überlieferungen ist es die Mond-Göttin Semele) ihren Geliebten Endymion in ewigen Schlaf versetzt und dann allnächtlich als Mond zur Erde niedersteigt, um den Schlafenden zu küssen. Das Gelingen der Beziehung zwischen der keuschen Göttin und dem verträumten Hirten ist sehr unwahrscheinlich, trotzdem scheitern sie am Ende nicht, sondern verlassen das Stück als Paar, während Calisto an ihrer Liebe zugrunde gegangen ist. Ob es auch bei den komischen Figuren klappt, lässt die Oper offen. Linfea verschwindet aus dem Stück, ohne dass ihr Wunsch nach einem Mann in Erfüllung gegangen wäre. Ob sie schließlich doch noch Pane oder Silvano verführen kann oder dem Werben des hartnäckigen Satirino nachgibt, bleibt unserer Fantasie überlassen.
Musikalische Entwicklungen
Noch wichtiger als die Perfektionierung der Textbücher waren für die Zukunft der Oper die musikalischen Neuerungen, die Cavalli einführte. Bei Monteverdi gab es nur sehr wenige Musikstücke, die man als „Arien“ bezeichnen konnte, Cavalli wertete diese Stücke auf. Zwar erinnern sie meistens eher an Strophenlieder als an das, was einige Jahrzehnte später Arie genannt wurde, aber die Trennung von Rezitativen, Ariosi und Arien wird immer sichtbarer und weist damit voraus auf die Oper des 18. Jahrhunderts. Besonders die Arien der beiden liebenden Menschen Calisto und Endimione machen Gefühle und innere Bewegungen hörbar. Dabei bleiben sie relativ kurz, um den Fluss der Handlung nicht zu lange aufzuhalten. Denn wie bei Monteverdi steht auch in Cavallis Opern die Musik noch im Dienst des Textes. Eine lebendige Geschichte wird erzählt, die Figuren laden dazu ein, mit ihnen zu fühlen oder sich auch gegen sie zu positionieren. „Normale“ menschliche Affekte und Verhaltensweisen werden bühnenfähig: Calistos Not, als sich die geliebte Lehrerin scheinbar von ihr abwendet; Gioves Egoismus und Genusssucht; Mercurios Arroganz, aber auch seine schwierige Stellung als Diener und Spielmacher; Diana, die sich verliebt, obwohl sie sich das selbst verboten hat; Giunones hilflose Eifersucht, die sich statt gegen den unangreifbaren Ehemann gegen das Objekt seiner Begierde richtet; Linfeas Einsamkeit und ihr Traum von einer Paarbeziehung; Panes unerwiderte Liebe zu Diana; Satirinos sexuelle Frustration. All das begleitet Cavallis Musik, ohne sich je in den Vordergrund zu drängen. Mit ihren breiten Ausdrucksmöglichkeiten schafft es das kleine Orchester, alle Farben des Textes schillern zu lassen und in wenigen Takten Atmosphären zu etablieren. Das wirkt auch heute noch, nachdem uns das 19. und 20. Jahrhundert längst an einen opulenten und hochdifferenzierten Orchesterklang gewöhnt haben.
Unglücklich, aber berühmt
Ein Moment der Irritation in der Oper ist Calistos sehr demütige und dankbare Haltung gegenüber Giove, nachdem sie von Giunone in einen Bären verwandelt wurde. Hatte sie seine Avancen am Anfang des Stücks nicht entschieden zurückgewiesen? Und hat er sich nicht in dessen Verlauf genau so gezeigt, wie sie es vermutet hatte, nämlich rücksichtslos und frauenverachtend? Hat sie sich vielleicht sogar in den verliebt, der ihr so viel angetan hat? Wahrscheinlicher ist, dass der Göttervater sie mit einem Preis kapert, der in der antiken Mythologie einen unschätzbaren Wert besitzt: dem Nachruhm. Für die griechischen Heldinnen und Helden geht es – man denke an den Krieg um Troja – in erster Linie darum, das kurze und meist unerfreuliche irdische Leben im ewigen Gedächtnis der Nachwelt zu transzendieren. Was uns heute als ein schlechtes Geschäft erscheint – ein trauriges und kurzes Leben gegen ewige Berühmtheit –, ist für ein antikes Publikum und wohl auch noch für die Venezianerinnen und Venezianer des 17. Jahrhunderts sehr plausibel. Was das Publikum und Cavalli selbst wohl mehr überrascht hätte, wäre die Tatsache gewesen, dass seine Opern auch mehr als 350 Jahre später noch gespielt werden. Darauf hatte es ein Cavalli, der für den aktuellen Opernbetrieb komponierte und sich nicht einmal um den Erhalt seiner Partituren sorgte, sicher nicht abgesehen. Umso besser für uns, dass es trotzdem so gekommen ist.
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