• The Rape of Lucretia
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Benjamin Britten, Saison 2020/21 (Auszug)
  • S. 21-27

Lehrstück ohne Lehre

Text: Georg Holzer

In: The Rape of Lucretia, Oper von Benjamin Britten, Saison 2020/21 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 21-27 [Programmheft]

Als Benjamin Britten Anfang 1946 mit der Komposition zu „The Rape of Lucretia“ beginnt, ist er der aufsteigende Stern der britischen Musik. Seine Oper „Peter Grimes“, uraufgeführt im Juni 1945 in London, erweist sich schnell als ein weltweiter Erfolg, wie er englischen Komponisten trotz aller Bemühungen seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten nicht gelungen ist. Die Erwartungen an den 33-Jährigen sind riesig, und er macht nicht den Eindruck, als würden sie ihn erdrücken. Im Gegenteil: Mit großer Konzentration und Geschwindigkeit macht er sich an die Komposition der nächsten Oper. Sie soll aber einen ganz anderen Charakter haben als „Peter Grimes“, das Drama um einen Außenseiter. Brittens neue Oper nimmt sich einen häufig bearbeiteten Tragödienstoff aus der römischen Antike vor, die Vergewaltigung der Römerin Lucretia durch den Etrusker Tarquinius und ihren darauf folgenden Selbstmord. Auch musikalisch sind die Unterschiede groß. Auch wenn vieles in der Musik an „Peter Grimes“ erinnert, ist „The Rape of Lucretia“ eine Kammeroper für kleines Orchester und acht Solistinnen und Solisten ohne Chor. Kein großes Tableau, sondern ein Kammerspiel, ausgerichtet auf die Möglichkeiten des damals noch kleinen Festivals in Glyndebourne und vor allem auf die folgende Tournee durch Großbritannien.

Episches Theater

Grundlage für das Libretto war das Stück „Le Viol de Lucrèce“ (1930) des Dramatikers André Obey, der heute vergessen ist, zu seiner Zeit aber eine wichtige Figur des französischen Theaters war. Was Obeys Stück für eine Vertonung attraktiv machte, war seine epische Grundanlage: Nicht die Dialoge stehen im Vordergrund, sondern die Schilderung des Innenlebens der Figuren. Britten interessierte auch die christliche Wendung, die Obey der Geschichte von Lucretia gab. Durch die beiden Chor-Erzähler bekommt das Geschehen eine neue Dimension: Lucretia ist nicht nur eine Frau, die eher in den Tod geht, als ihre Ehre befleckt zu sehen; sie wird auch zu einer vor-christlichen Heiligen, die das christliche Martyrium noch nicht kannte und es dennoch schon erlitten hat. Von seinem Librettisten Ronald Duncan verlangte Britten sogar, die Bedeutung dieses aus einer Sängerin und einem Sänger bestehenden Chors noch zu vergrößern. Abgesehen davon, dass er Brittens Wünsche erfüllte, war Duncan als Librettist sicher nicht der glücklichste Griff. Allzu gerne ließ er seinem Hang zu – manchmal im Wortsinn – blumiger Lyrik, süßlichem Sprach-Schwulst und schiefen poetischen Bildern freien Lauf. Durch das von Obey übernommene Handlungsgerüst und die starken Figuren schuf er aber eine Vorlage, in der Britten alles fand, was er für eine intensive, spannende Oper brauchte. Das Erstaunlichste an diesem Stück ist sicher, wie Britten aus einem nur 13-köpfigen Orchester so viele Klangfarben und Schattierungen gewinnen konnte, dass es gemeinsam mit den Sängerinnen und Sängern einen unaufhaltsamen Sog in den Abgrund entwickelt – auch wenn die Erzähler schließlich verkünden, dass alles vielleicht doch nicht so schlimm gewesen sei.

Moral und Wirklichkeit

Das Rom, das in „The Rape of Lucretia“ geschildert wird, ist ein schrecklicher Ort. Gleich zu Anfang hören wir vom Chor-Erzähler eine fremdenfeindliche Suada gegen die etruskischen Eindringlinge, die Rom gekapert haben und es auf den Hund bringen. Gleich in der ersten Szene wird allerdings deutlich, dass es mit Roms Größe ohnehin nicht weit her ist und die Tarquinier, das etruskische Königshaus, ziemlich gut zu dieser Stadt passen. Heldenhafte Männer und ihre treuen Ehefrauen sind zwar ein Idealbild, das man dort hochhält, doch die Realität sieht anders aus. Das Bild, das die drei saufenden Generäle von den Zuständen in Rom zeichnen, sieht eher nach einem Swingerclub aus als nach einer moralischen Weltmacht. Und auch die drei sind sich bei aller Unterschiedlichkeit ziemlich ähnlich. Sicher ist Tarquinius, der Sohn und Kronprinz des regierenden Königs Tarquinius Superbus, eigentlich ein Fremder und Usurpator. Aber auf der Ebene von Alkohol, Aggression und Frauenverachtung versteht man sich bestens. Die anständige Lucretia wird in so einer Welt vom bestaunten Ideal zum Kollateralschaden. Wo die Herren sich verbrüdern, zählen Frauen wenig. Die römische Gesellschaft ist tief gespalten zwischen einem hohen moralischen Anspruch an sich selbst und den in Wirklichkeit ziemlich verkommenen Sitten. Nur so ist zu erklären, dass zwar einerseits sexuelle Freizügigkeit an der Tagesordnung ist, eine öffentlich tugendhafte Frau wie Lucretia aber zum Idol des Volkes aufsteigt. Sittenstrenge wird also nicht gelebt, dafür umso mehr gefeiert. Immerhin ist die moralische Ideologie so stark, dass sich ein Mann wie Collatinus vom guten Ruf seiner Ehefrau auch politische Vorteile erhoffen darf. Lucretia selbst ist offenbar damit überfordert, die Diskrepanz zwischen zur Schau gestellter Moral und realem unmoralischem Verhalten zu erkennen oder zu ertragen. Sie pocht darauf, dass das, was gepredigt wird, auch wahr sein muss. Das ist ihr tödlicher Fehler.

Drei Männer gegen Lucretia

Nur vor dem Hintergrund der Szene zwischen den drei Männern wird die Perfidie des Verbrechens deutlich. Es ist fast so, als würden die drei sich verabreden, um das leuchtende Vorbild Lucretia in den Dreck zu ziehen. Tarquinius sucht in Lucretia den größtmöglichen Gegensatz zu den käuflichen Frauen, mit denen er sonst seine Zeit verbringt. Ihn reizt weniger sie selbst als ihr makelloser Ruf. Junius redet ihm die Vergewaltigung ein, er ist der üble Ohrenbläser, der Tarquinius überhaupt erst auf den teuflischen Gedanken bringt. Möglich, dass Junius damit eine politische Agenda verfolgt und das Verbrechen an Lucretia nutzen will, um einen Volksaufstand gegen die Fremdherrschaft loszutreten und sich selbst an die Spitze des Staates zu setzen. Vielleicht befördert er die Tat auch nur aus der Bierlaune eines gekränkten Mannes heraus, der es schlecht ertragen kann, dass seine Frau wegen ihrer sexuellen Eskapaden Stadtgespräch ist, während die Gattin seines Rivalen von der öffentlichen Meinung als Symbol von Anstand und Treue gefeiert wird.

Und Collatinus, Lucretias Mann und ihre große Liebe? Auf den ersten Blick ist ihm nichts vorzuwerfen, denn an Tarquinius‘ Plan, in sein Haus einzudringen, ist er nicht direkt beteiligt. Trotzdem gibt es Gründe, ihm zu misstrauen. Warum verlässt er die weinselige Runde, als sich die Stimmung dort gegen Lucretia wendet? Warum kümmert er sich nicht darum, was in dieser Nacht weiter geschieht, und ermöglicht so Tarquinius, das Lager zu verlassen und nach Rom zu reiten? Als die tödlich beleidigte Lucretia ihm später erzählt, was Tarquinius mit ihr gemacht hat, will er es am liebsten nicht hören. Er speist sie mit schwachen Worten des Trostes ab, beschwört die gemeinsame Liebe, obwohl er sieht, dass sie in dieser Nacht erloschen ist, und würde die ganze unangenehme Sache lieber vertuschen, weil er sein öffentliches Ansehen nicht verlieren und sein bequemes Leben weiterführen will. Im entscheidenden Moment erweist er sich als Schwächling, der seine Frau weder beschützen noch ihr Halt geben kann. So bilden die drei Männern in verteilten Rollen ein Kartell, um die Frau zu demütigen und zu unterwerfen.

Lucretias Abgrund

Als Titelfigur einer Tragödie hat Lucretia das Problem, irgendwie zu edel, zu märtyrerhaft zu sein, als dass sie durch innere Widersprüche zu einer wirklich interessanten Figur werden könnte. So haben es jedenfalls viele Interpreten der Oper empfunden und sich deshalb bemüht, in Lucretia einen Abgrund zu entdecken. Ist die Vergewaltigung durch Tarquinius vielleicht das, was sie heimlich wünscht? Ist er nicht das Gegenbild zu dem bürgerlich-schlappen Collatinus, der in fallenden Intervallen singt, wenn er von seiner Frau berichtet? Es gibt ein paar Hinweise im Stück, die sich in diese Richtung verstehen ließen. Zum Beispiel, dass Tarquinius sie vor der Vergewaltigung als begehrende Frau beschreibt, was sie entschieden verneint. Will sie es sich selbst nicht eingestehen, oder ist es eine Projektion von Tarquinius‘ eigenem Begehren in die Frau, die sich heftig gegen ihn wehrt? Schließlich möchte kein Mann ein Vergewaltiger sein, wie Virginie Despentes es in ihrer „King Kong Theorie“ schreibt: „Denn die Männer verurteilen die Vergewaltigung. Das, was sie selbst tun, ist immer etwas anderes.“

Britten hat Musik aus dem Gespräch zwischen Lucretia und Tarquinius in ihrem Bericht über die Vergewaltigung zitiert, den sie später Collatinus gibt. Aber kann das wirklich ein Indiz für ihre heimlichen Wünsche sein? Und es gibt noch eine viel diskutierte Textstelle: „In the forest of my dreams, you have always been the tiger“ („Im Dickicht meiner Träume warst du immer der Tiger“), sagt Lucretia zu Tarquinius, als er sie bedroht. Der Tiger ist ein schönes, wildes Tier, aber auch eines, vor dem ein Mensch Angst haben sollte, weil es ihn verschlingt. Diese Textstelle so zu deuten, als sei Tarquinius eigentlich Lucretias heimlicher, innerster, uneingestandener Traum, ist möglich, aber sicher ist das nicht die einzig denkbare Interpretation. Es könnte auch ein Bild für Lucretias namenlose Angst vor dem aggressiven, unbeherrschbaren Mann sein. Und selbst wenn es irgendwo in ihr eine solche sexuelle Fantasie gäbe, weist Despentes doch sehr zu Recht darauf hin, dass eine Fantasie zu haben nicht bedeuten müsse, dass man sie auch verwirklicht sehen wollte. Dass Lucretia als Gegenbild zum weichlichen Collatinus auch an Tarquinius denken mag, ist sicher kein Beweis dafür, dass sie vergewaltigt werden will. Mit der klassisch männlichen (und von Tarquinius zitierten) Unterstellung des „Du willst es doch auch“ wird man dieser Figur sicher nicht gerecht. Umso weniger, als Brittens Musik vor und während der Vergewaltigung Lucretias nicht von unterdrücktem Begehren handelt, sondern deutlich hörbar von brutaler Gewalt.

Ist das alles?

Aber wo wollen Britten und Duncan hin mit diesem Stück? Am Ende haben wir eine hochherzige Frau, die sich um ihrer Ehre willen umgebracht hat, einen gebrochenen Mann, vielleicht einen Volksaufstand. Sicher sind Tragödien nicht dafür gemacht, die Zuschauer mit einem guten Gefühl nach Hause zu schicken, aber die Geschichte von Lucretia wirkt besonders trost- und sinnlos. An dieser Stelle des Stücks, als den Figuren außer „Is this it all? It is all!“ nichts mehr einfällt, besinnt sich Britten auf seine beiden Erzählerfiguren. Sind sie nicht dazu ausersehen, dem Geschehen einen Sinn zu geben? Die beiden Fernsehprediger lassen den Komponisten nicht im Stich. Wo sie sich vorher an einer theologischen Frage des Mittelalters abgearbeitet haben, nämlich was mit den Seelen der Gerechten passiert, die vor Jesus Christus gelebt haben und deshalb nicht zur Seligkeit gelangen können, haben sie jetzt die Lösung: Lucretias Tod war nicht umsonst, weil Christus für uns alle am Kreuz gestorben ist und seine „Great love“ über uns ausgießt. Das hilft Lucretia und den anderen Figuren der Oper zwar nicht mehr, tröstet aber vielleicht das Publikum. Vielleicht auch nicht. Denn der angeklebte Schluss, den Britten von Duncan verlangt hat, offenbart mehr Ratlosigkeit als Heilsgewissheit. So wird „The Rape of Lucretia“ zum, wie es Max Frisch formuliert hat, „Lehrstück ohne Lehre“. Lernen kann man daraus etwas über Männer und Frauen, aber leider nicht viel Gutes.

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