• L'Orfeo
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Claudio Monteverdi, Saison 2020/21 (Auszug)
  • S. 21-25

Es tanzt auch die Musik

Text: Wiebke Hetmanek

In: L'Orfeo, Oper von Claudio Monteverdi, Saison 2020/21 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 21-25 [Programmheft]

Der Orpheus-Mythos war der Stoff der Stunde: Die anti - ke Geschichte um den Sänger, der mit seiner Musik die Gemüter berühren und selbst wilde Tiere beruhigen konnte, war eng mit der Entstehung der Gattung Oper vor über vierhundert Jahren verbunden. Die Tatsache, dass eine Figur auf der Bühne singt, statt zu sprechen, würde bei einem Sänger wie Orpheus viel - leicht nicht so sehr ins Gewicht fallen – mutmaßten zumindest die Theoretiker. Nun wurde die Oper aber nicht im akademischen Studierzimmer erfunden, sondern entstand aus dem Aufeinan - dertreffen von verschiedenen musikalischen Pfaden mit wissen - schaftlichen Irrwegen und musikbegeisterten Mäzenen.

Theorie

Um 1570 versammelte Giovanni Bardi, selbst ein universal gelehrter Adliger aus Florenz, eine Reihe von Akademikern und Musikern um sich. Die exklusive Gruppe, die später als „Florentiner Camerata“ in die Musikgeschichte einging, beschäftigte sich mit der Wiederbelebung des antiken Dramas, von dem sie glaubten, dass es gesungen worden war. Damit lagen sie zwar falsch, doch aus diesem Irrtum folgte ihre Suche nach dem möglichen Gesangsstil der Antike, einem Gesangsstil, der die Verständlichkeit der Tragödientexte garantierte – kein leichtes Unterfangen in der Renaissance, in der die Polyphonie, die Mehrstimmigkeit, den Ton angab.

Praxis

Musik gehörte im 16. Jahrhundert selbstverständlich zu einer Theatervorstellung. Tragödienaufführungen etwa waren ohne die Intermedien, die musikalischen Zwischenspiele, kaum denkbar. Ursprünglich dienten die Musikeinlagen lediglich zur Markierung der Aktschlüsse, etwa geschmackvoll in Szene gesetzte Allegorien, aber sie verselbständigten sich und wurden bald zur eigentlichen Attraktion für das Publikum. Sie wurden zu kleinen Szenen ausgebaut und entwickelten sich schließlich zu aufwändigen Inszenierungen mit Bühnenpomp und Musikbegleitung.

Prunkvolle Ausstattung und Musik waren auch die Zutaten der „Trionfi“, der Triumphzüge, die beim Karneval oder bei fürstlichen Hochzeiten zum Einsatz kamen. Auf Festwagen wurden in prächtigen Kostümen kleine Geschichten dargestellt, die von einem Chor erzählt und kommentiert wurden, die Schauspieler selbst blieben stumm. Die Rolle des außenstehenden Betrachters übernahm der Chor auch bei den Madrigalen, einer der wichtigsten Gattungen der Renaissance. Madrigale waren mehrstimmige, zum Teil sehr komplexe Vertonungen von weltlicher Lyrik. In den Madrigalkomödien wiederum griff man nicht auf die hohe Literatur zurück, sondern auf Stoffe der Commedia dell’are. Das italienische Stegreiftheater hatte seine Heimat ursprünglich auf den Marktplätzen. Auch hier gab es selbstverständlich Gesangs- und Tanzeinlagen, deren Musik allerdings improvisiert wurde. In den Madrigalkomödien wurden die Geschichten vom Chor erzählt. Manchmal wurden verschiedene Personen von unterschiedlichen Stimmgruppen gesungen, aber einen Sologesang gab es auch bei dieser rein konzertanten Komödienform nicht.

Florentiner Camerata

Die personelle Zusammensetzung der „Florentiner Camerata“ veränderte sich im Laufe der Jahre und damit auch die inhaltliche Ausrichtung. Die Praktiker hatten die Theoretiker abgelöst. Es ging nun nicht mehr um eine Renaissance der Antike, sondern um eine neue musikalische Kunstform. Neben der fortschreitenden Dramatisierung von Madrigalen oder Intermedien kam ein zusätzlicher Impuls ausgerechnet von der Kirchenmusik.

Denn auch das geistliche Mysterienspiel entwickelte eine zunehmend dramatische Erzählweise. Emilio de’ Cavalieri war nicht nur einer der wichtigsten Komponisten dieser Gattung, die Episoden aus der Bibel nacherzählte, sondern er gehörte auch zur „Florentiner Camerata“ und hatte entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Monodie. In seiner „Rappresentatione di Anima et di Corpo“ setzte er 1600 zum ersten Mal den neuen monodischen Stil neben Ensemble- und Chorsätzen ein. Mit Monodie wird ein solistischer Gesang bezeichnet, der nur von einem oder wenigen Instrumenten akkordisch begleitet wird. Sie ist eine Mischung aus Gesang und Rezitation: Die Gesangslinie folgt eng dem Sprachduktus, Verzierungen sind tabu, lediglich das Ende eines Verses wurde in der Regel kadenzartig verbreitert. Monteverdi bezeichnete den Stil als „parlar cantando“ – „singend sprechen“. Damit war die Suche nach einem geeigneten Gesangsstil vorerst beendet. Blieb noch das Problem mit der Wahrhaftigkeit.

Pastoralen

Statt auf die antiken Tragödien richtete die „Camerata“ nun ihr Augenmerk auf das Pastoraldrama, die Schäferdichtung, ebenfalls eine Tradition aus der Antike. Pastoraldramen waren eine Mischung aus Tragödien und Komödien, sie spielten überwiegend im idyllischen Arkadien zwischen Hirten, Nymphen und Göttern. Allerdings waren nur wenige Werke überliefert, und so konnte man seiner Phantasie freien Lauf lassen: War es nicht denkbar, dass sich die Figuren in einer solch utopischen Umgebung singend verständigten? 1598 wurde „Dafne“ von Jacopo Peri in Florenz uraufgeführt, 1600 folgte seine „L’Euridice“, die erste vollständig erhaltene Oper.

Der Librettist der ersten Orpheus-Opern, Ottavio Rinuccini, hatte den Stoff nach Art der Pastoralen von Thrakien nach Arkadien verlegt. Formal folgte er dem bewährten fünfaktigen Aufbau der liturgischen Dramen – statt eines Engels übernahm Götterbote Hermes den Prolog. An den Schluss setzte er ein Happy End: Die Oper wurde anlässlich der Hochzeit von Heinrich  IV. und Maria de’ Medici uraufgeführt, und so verzichtet Pluto auf seine Bedingung und entlässt Orpheus und Eurydike ungehindert in die Oberwelt. Fast zeitgleich vertonte Giulio Caccini dasselbe Libretto.

Alessandro Striggio

Monteverdis Dienstherr Vincenzo Gonzaga war ein kunst- und v.a. musikinteressierter Mann. Er hatte die Entwicklung in Florenz verfolgt, war vermutlich auch bei einer Aufführung von Peris „L’Euridice“ dabei gewesen, und so bekam sein mantuanischer Hofkapellmeister Claudio Monteverdi den Auftrag, ebenfalls eine Oper zu komponieren.

Auch Monteverdi entschied sich für den Orpheus-Mythos. Ihm wurde Alessandro Striggio als Textdichter zur Seite gestellt, ein Beamter am Hof von Mantua. Die Affinität zur Musik hatte dieser von seinem Vater geerbt, einem Komponisten, dessen Werke er posthum editierte.

Die Zusammenarbeit erwies sich als Glücksfall; denn Striggio verfügte über ein ausgeprägtes dramatisches Gespür. Jeder Akt ist klug aufgebaut und steuert auf einen Höhepunkt zu – sei es der Botenbericht, der die ausgelassene Feier unterbricht, Orfeos Gesang vor dem Eingang des Hades oder der Aufstieg aus der Unterwelt. Striggio fokussierte die Geschichte auf die Titelfigur, achtete zudem darauf, Monteverdi eine Vielfalt von Formen anzubieten und variierte die Metrik seiner Verse, so dass allein dadurch schon Abwechslung garantiert war.

Monteverdi

Wie eng Striggio bei der Entwicklung des Librettos mit Monteverdi zusammengearbeitet hat, ist nicht bekannt. Sicher aber ist, dass es Monteverdi in seinen Kompositionen stets ein Anliegen war, den Text mit Hilfe seiner Musik auszudeuten. Schon in seinen zahlreichen Madrigalkompositionen hatte er die Möglichkeiten ausgelotet, den emotionalen Gehalt eines Textes in seiner Musik zu spiegeln. Dass er dabei zuweilen die Regeln des Kontrapunktes verletzte, brachte ihm einen musiktheoretischen Streit mit Giovanni Artusi ein. Dabei war Monteverdi kein Neutöner, sondern ein Praktiker. Polyphonie und Monodie waren für ihn keine Gegensätze, sondern musikalische Mittel, auf die er je nach Bedarf zurückgreifen konnte.

L’Orfeo Mit dieser undogmatischen Herangehensweise komponierte er auch seinen „L’Orfeo“. Polyphone Chöre, die ihren kontrapunktischen Höhepunkt in den kunstvoll gesetzten, fünfstimmigen „Coro di Spiriti“ der Unterwelt haben, stehen neben monodischen Gesang – die Vertonung des Botenberichts ist ausschließlich vom Text ausgehend gedacht und gespickt mit „verbotenen“ Dissonanzen. Dem Sänger Orpheus stehen alle Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung: Die wie improvisiert wirkende Liebeserklärung an Eurydike „Rosa del Ciel“ ebenso wie das ausgelassene Lied „Vi ricorda“, dessen Tanzcharakter Striggio bereits in seinen Versen angelegt hat, was von Monteverdi aufgegriffen wurde. Im Gegensatz zu Peri und Caccini wird bei Monteverdi nicht nur vom Tanzen gesprochen, es tanzt auch die Musik.

Zentrum der Oper ist Orpheus’ Bittgesang vor dem Fährmann Caronte. Monteverdi lässt sich die Chance nicht nehmen, an diesem Punkt – wie es die Handlung verlangt – auf die Musik, auf die Überzeugungskraft des Gesangs zu setzen. Beschränken sich seine Vorgänger auch hier auf monodischen Gesang, versucht sein Orpheus mit reich verzierten Melodien Caronte zu überzeugen. Flankiert wird er dabei von den instrumentalen Ritornellen, die nicht minder kunstvoll und abwechslungsreich instrumentiert sein Anliegen unterstützen. Ein Moment äußerster Konzentration auf die Musik, deckungsgleich mit der Handlung.

Die Uraufführung

Die Uraufführung von „L’Orfeo“ fand am 24. Februar 1607 in einem kleinen Saal des herzoglichen Palasts in Mantua statt. Die Zuschauer waren Mitglieder des mantuanischen Pendants der „Florentiner Camerata“, der „Accademia degli Invaghiti“, der auch der Thronfolger Francesco Gonzaga und der Librettist Alessandro Striggio angehörten. Die Uraufführung war ein großer Erfolg, so dass die Aufführung, vermutlich im größeren Hoftheater, wiederholt wurde. Zwei Jahre später erschien die Oper in Druck.

Monteverdis „L’Orfeo“ ist das einzige Werk aus dem ersten Jahrzehnt der Operngeschichte, das heute regelmäßig aufgeführt wird. Für manchen gilt die Uraufführung von „L’Orfeo“ als die eigentliche Geburtsstunde der Oper, denn erst Monteverdi hat es verstanden, der Gattung kraft seiner Musik dramatisches Leben einzuhauchen.

PDF-Download

Artikelliste dieser Ausgabe