• Bajazet (Il Tamerlano)
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper in drei Akten von Antonio Vivaldi, Saison 2021/22 (Auszug)
  • S. 17-26

Kofferarien und Pasteten

Text: Wiebke Hetmanek

In: Bajazet (Il Tamerlano), Oper in drei Akten von Antonio Vivaldi, Saison 2021/22 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 17-26 [Programmheft]

Der Opernbetrieb im 18. Jahrhundert war ein gnadenloses Geschäft: Komponiert wurde eine Oper für ein bestimmtes Theater und eine bestimmte Besetzung. Fiel sie durch, wurden nur einige wenige Vorstellungen gespielt; war sie erfolgreich, konnte sie sich eine ganze Saison halten. Spätestens dann aber war sie obsolet, und es musste eine neue Oper her. Dass ein und dieselbe Oper an verschiedenen Theatern gespielt wurde, war eher die Ausnahme. Das Repertoiresystem wie wir es heute kennen – mit überwiegend alten Werken und kaum Uraufführungen – war im 18. Jahrhundert undenkbar.

Hochzeit der Italienischen Oper

Es war das Zeitalter der Italienischen Oper. An fast allen europäischen Höfen wurde sie aufgeführt und diente in erster Linie der Repräsentation – kein Fest ohne eine neue Oper aus der Feder des Hofkapellmeisters! Die Komponisten hatten einen immensen Output, die Zahl der Opernuraufführungen im 18. Jahrhundert liegt im fünfstelligen Bereich. Da ist es kein Wunder, dass nicht jede neue Oper auch gleich eine neue Komposition bedeutete. Komponisten griffen gern auf frühere Werke zurück und verwendeten einmal erfolgreiche Arien mehrfach. Und wenn die Zeit nicht ausreichte, bediente man sich auch schon mal bei den Kollegen. Das war weder verwerflich noch illegal – das Urheberrecht gab es noch nicht –, dieser Praxis lag lediglich ein anderer Werkgedanke zugrunde.

Als Schöpfer einer Oper galt, wenn überhaupt, der Librettist. Das Libretto war ein eigenständiges literarisches Werk und hatte auch ohne Musik künstlerischen Bestand. Der Komponist rangierte im Ansehen weit unter dem Librettisten, wurde auf den Besetzungszetteln auch eher in der Rubrik Bühne und Kostüme genannt und war vielen Theaterbesuchern gar nicht bekannt. Heutzutage hat sich dieses Verhältnis ins Gegenteil verkehrt. Libretto und Komposition entstanden damals nicht durch die enge Zusammenarbeit zweier Künstler, die an derselben Idee feilen, sondern in der Regel unabhängig voneinander. Insofern war es auch gang und gäbe, ein Libretto mehrfach zu vertonen. Damit lieferte man quasi nur eine weitere Interpretation des Textes.

Zeitmangel und Pragmatismus

Die Komponisten durften den Text für ihre Zwecke bearbeiten. Eingriffe galten nicht als ehrenrührig, so lange sie in den gedruckten Libretti gekennzeichnet wurden. Überhaupt ging es weniger darum, eine bestimmte Oper zu präsentieren, als eine gute Aufführung zustande zu bringen. Die Werke wurden den Bedingungen angepasst, nicht umgekehrt. Für die Uraufführung anlässlich einer Hochzeit zum Beispiel konnte man kurzerhand ein tragisches Ende im Libretto in ein lieto fino auf der Opernbühne verwandeln. Oder wenn sich die Gelegenheit bot, dass einer der Gesangsstars in einer Oper auftreten würde, arbeitete man selbstverständlich für ihn oder sie die entsprechenden Arien um. Selbst Mozart pflegte diese Praxis noch am Ende des 18. Jahrhunderts. Viele Sänger und Sängerinnen hatten ihre Lieblings-Arien mit im Reisegepäck. Sie bestanden darauf, ihre Bravourstücke präsentieren zu können und hatten stets das nötige Notenmaterial zur Hand. „Kofferarien“ wurden diese Arien deswegen genannt.

Aus Zeitmangel oder simplen pragmatischen Gründen gab es zudem noch die Form des Pasticcio, italienisch: Pastete. Pasticci sind Werke, die aus verschiedenen Kompositionen unterschiedlicher Komponisten zusammengesetzt wurden – wie z. B. „Bajazet“ von Antonio Vivaldi. Ermöglicht wurde diese Praxis dadurch, dass die Oper, namentlich die Opera seria im 18. Jahrhundert weitgehend standardisiert war: Die Arien waren zumeist Da-Capo-Arien und folgten dem Aufbau ABA; Rezitativ und Arie waren streng voneinander getrennt und hatten unterschiedliche Funktionen: Die Rezitative trieben die Handlung voran, die Arien beschrieben eine Emotion. Dabei unterschieden sich die Arien des ersten Aktes an Aufbau oder Intensität nicht von denen des dritten Aktes. Insofern waren die meisten von ihnen austausch- und wiederverwendbar. Manchmal musste ein neuer Text unterlegt werden, manchmal war selbst das nicht nötig; denn auch die Figuren und ihre Konstellationen folgten oftmals demselben Schema.

Bajazet und Tamerlan

1735 war Antonio Vivaldi Impresario am Teatro Filarmonico in Verona. Für die Saison hatte er sich zwei Uraufführungen vorgenommen: „L’Adelaide“ und ein Pasticcio. Als Text für letzteres wählte er das bekannte und bewährte Libretto „Tamerlano“ von Agostino Piovene. Dieser hatte sein Drama ursprünglich für Francesco Gasparini geschrieben, der seine Oper 1711 in Venedig zur Uraufführung gebracht hatte und damit auf der Erfolgswelle der so genannten „Türkenopern“ mitgeschwommen war.

1699 ging mit dem Frieden von Karlowitz der Große Türkenkrieg zu Ende, an dem auch die Republik Venedig beteiligt gewesen war. Als Tor zum Orient fühlte sich die Lagunenstadt schon immer gleichermaßen fasziniert wie bedroht vom Osmanischen Reich. Dem Friedensschluss, der das Vordringen der Osmanen nach Europa vorerst beenden sollte, folgten zahlreiche Schauspiele und Opern, die ein türkisches Sujet behandelten. Einer der beliebtesten Stoffe waren die Geschehnisse um die historischen Persönlichkeiten Bajazet und Tamerlan.

„Tamerlan“ oder „Tamburlaine“ ist eine Verkürzung des Namens „Timur Lenk“ – Timur der Lahme. Er wurde 1336 als Sohn eines mongolischen Lokalfürsten in Kasch bei Samarkand (heute in Usbekistan) geboren. Gern berief er sich auf seine Abstammung von Dschingis Khan, die tatsächlich bestehende „Verwandtschaft“ erreichte er allerdings nur durch Heirat mit zwei Prinzessinnen aus der Nachkommenschaft des legendären Mongolenherrschers.

Timur gelang es, seine Heimat Transoxanien in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zum Zentrum eines mit raschen Schlägen gezimmerten Riesenreiches zu machen, das im Westen bis Ankara, im Nordwesten bis nach Russland, im Südosten bis Delhi reichte. 1402 traf er auf einen seiner wichtigsten Gegner, den türkischen Sultan Bajazet. 800.000 Mongolen überwältigten in der Schlacht von Ankara halb so viele Türken.

Bajazet wurde gefangengenommen und in Timurs Residenz verschleppt, wo er ein Jahr später starb. Der Fürst selbst kam 1405 auf dem Vorstoß gegen China ums Leben. Timurs verheerende Feldzüge – begünstigt durch die innere Schwäche und den Zerfall der Nachbarreiche – ließen seinen Namen im Orient wie im Abendland zum Synonym blinder Zerstörungswut werden. Aber es gab auch eine andere Facette des maßlosen Herrschers: Auf die Eroberungsfeldzüge folgte rasch eine Periode der kulturellen Blüte. Timur bemühte sich, Handwerker und Künstler für Transoxanien zu gewinnen – notfalls mit Gewalt. Teilweise beschäftigte er mehr als 150.000 Arbeiter, um seine ehrgeizigen Projekte durchzusetzen. Die Großbauten der Timuriden-Zeit prägen das Bild von Samarkand – seit 1369 die Hauptstadt von Timurs Reich – und Buchara bis heute.

Tamerlans literarisches Weiterleben

Schon kurz nach Timurs Tod erschienen die ersten Chroniken seines Lebens. Zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze spiegeln dabei die politisch gespaltene Situation seiner Zeit wider: Seine Anhänger betrachteten Timur als legitimen Herrscher, den besonnenen Verteidiger seines muslimischen Glaubens und Volkes, und stilisierten ihn zum Herrscherideal. Seine Gegner stattdessen (zweifellos die spannenderen Berichte) konzentrierten sich auf die Schilderung seiner Grausamkeit und Willkür, dichteten ihm niedere Herkunft von einem mongolischen Nomadenvolk sowie ein Hirten- und Räuberleben an. Besonders die Bezwingung und Gefangennahme des türkischen Sultans Bajazet boten dabei Anlass für die wildesten Spekulationen.

Grundlage für die zahlreichen Opern, die Timur – oder besser Tamerlan – in den Mittelpunkt ihrer Handlung stellten, war ein Schauspiel des als eher durchschnittlich talentiert geltenden französischen Dramatikers Jacques Pradon, „Tamerlan ou La mort de Bajazete“ (1675). Pradon kümmerte sich wenig um historische Tatsachen; er war vielmehr daran interessiert, eine spannende Tragödie zu schreiben, bei der selbstredend eine Liebesgeschichte nicht fehlen durfte. Pradon verdanken wir die Figur des griechischen Fürsten Andronico, der nach dem Tod seines Vaters bei Tamerlan Asyl und Hilfe erbittet und sich dort in die Tochter Bajazets, Asteria, verliebt. Auch Prinzessin Irene, die Verlobte Tamerlans, geht auf eine Erfindung von Pradon zurück. Damit gibt er die Grundkonstellation der Protagonisten vor, die ein Vierteljahrhundert später die Opernbühnen Europas bevölkern sollten.

Antonio Vivaldi

In den 1730er Jahren war der Tartarenfürst auf den Opernbühnen immer noch gefragt. Seit Gasparinis Version hatten bereits neun weitere Komponisten (über 20 sollten noch folgen) Piovenes Libretto vertont, darunter auch Georg Friedrich Händel. Vivaldi hatte Gasparini 1703 am Ospedale della Pietà kennengelernt, einem Waisenhaus für Mädchen in Venedig. Vivaldi war damals Gasparinis Assistent und stand am Anfang seiner Karriere: Gerade erst zum Priester geweiht, war er im Waisenhaus zunächst als Lehrer für Violine und Gesang angestellt, später als eine Art Hauskomponist. Die meisten seiner Instrumentalkonzerte, für die er heute berühmt ist, schrieb er für das Mädchenorchester, das weit über Italien hinaus bekannt war. Sein Priesteramt legte Vivaldi schon bald nieder, vermutlich wegen gesundheitlicher Probleme. Sein Spitzname überlebte dennoch bis heute: „Il prete rosso“ – der rote Priester.

Neben seinen Verpflichtungen am Ospedale streckte Vivaldi seine Fühler auch in Richtung Oper aus: 1713 gab er sein Debut mit „Ottone in Villa“ in Vicenza. Seine eigentliche Heimatbühne wurde allerdings das Teatro Sant’Angelo in Venedig. 18 seiner Opern wurden an diesem Haus uraufgeführt, an dem zwar nicht die ersten Kräfte der Lagunenstadt auftraten, dafür aber der hoffnungsvolle Nachwuchs. 1718 kehrte er der Pietà und Venedig den Rücken und ging nach Mantua. In Diensten von Prinz Philipp von Hessen-Darmstadt war er für die musikalische Ausgestaltung der höfischen Feste und für die Oper zuständig. Vermutlich lernte er in Mantua auch die junge Sängerin Anna Girò kennen, die er weiter ausbildete und förderte, sie wurde eine der Gesangsstars ihrer Zeit. Vivaldi schrieb ihr regelmäßig Partien in die Kehle, in „Bajazet“ sollte sie als Asteria mitwirken.

Konkurrenz aus Neapel

Nach drei Jahren in Mantua kehrte Vivaldi nach Venedig zurück. Dort erwartete ihn eine Satire von Benedetto Marcello über das „moderne Theater“, die auch auf Vivaldi und seine Kompositionspraktiken zielte. Dessen ungeachtet setzte er seine Opernkompositionen fort, Anfragen kamen nun auch aus anderen norditalienischen Städten: Florenz, Mailand und schließlich auch aus Rom. Mitte der 1720er Jahre war der Höhepunkt seines Opernschaffens erreicht. Dann griff allerdings eine neue Opernmode um sich, die nicht nur ihm, sondern auch der bis dato unangefochtenen Opernstadt Venedig Konkurrenz machte. Aus Neapel kamen neue Töne: Komponisten wie Leonardo Leo, Leonardo Vinci, Nicola Porpora oder Johann Adolph Hasse setzten auf gefällige Melodien und prägnante Rhythmen. Der neapolitanische Librettist Pietro Metastasio prägte mit seinen knapp 30 Libretti die italienische Oper der nächsten Jahrzehnte, und Sänger aus der neapolitanischen Schule – allen voran die berühmten Kastraten Farinelli und Caffarelli – setzten neue Maßstäbe an Virtuosität. Alle gemeinsam verdrängten die einheimischen Künstler von den venezianischen Bühnen. Auch Vivaldi wich aus, u.a. nach Verona, wo er 1732 mit seiner Oper „La fida ninfa“ das Teatro Filarmonico einweihte. In der Saison 1734/35 wurde er Impresario dieses Theaters, eine Mischung aus Geschäftsführer und künstlerischem Leiter.

Bajazet (Il Tamerlano)

Es spricht einiges dafür, dass Vivaldi in seinem Pasticcio „Bajazet“ ganz bewusst auf die Situation des damaligen Opernbetriebs und die Konkurrenz aus Neapel Bezug genommen hat. Alle Arien, die er neben seinen eigenen in „Bajazet“ verwendet hat, stammen von neapolitanischen Komponisten. Das geschah sicherlich auf Druck der damaligen Mode, das Publikum verlangte nach diesen neuartigen Kompositionen. Auffällig ist jedoch, dass Vivaldi die positiven Figuren wie Bajazet und Asteria (und auch Idaspe) mit seinen eigenen Arien versehen hat, während der grausame Tamerlano, die ehrgeizige Irene und der wankelmütige Andronico mit den Arien der neapolitanischen Kollegen bestückt wurden.

Dieser kleine Seitenhieb auf die neapolitanischen Kollegen hinderte ihn aber nicht daran, die Arien gewissenhaft auszuwählen. Sie gehören zum Besten, was die damalige Opernwelt zu bieten hatte: Nicola Porpora, Johann Adolph Hasse, Riccardo Broschi und Geminiano Giacomelli waren die führenden Komponisten ihrer Zeit. Die Qualität von „Bajazet“ gründet aber nicht nur auf den exquisiten Arien, sondern auch auf der Sorgfalt, mit der Vivaldi die Rezitative vertont hat. Sie sind das verbindende Element, treiben die Handlung voran und sorgen für den ein oder anderen dramatischen Höhepunkt: Etwa das orchesterbegleitete Rezitativ „Odi perfida“, in dem Bajazet seine vermeintlich treulose Tochter zur Rede stellt; oder Asterias kämpferisches Plädoyer gegen den Tyrannen nach dem Tod ihres Vaters: „È morto, si“. Vivaldi ist es dadurch gelungen, dass – neben all den Bravourarien – die Handlung, die Figuren und ihre Schicksale im Vordergrund stehen.

Die Uraufführung von „Bajazet“ fand in der Karnevalssaison 1735 statt. (Der Doppeltitel, den der Verlag heute verwendet, ist der Tatsache geschuldet, dass das Werk in der Partitur zwar „Bajazet“ genannt wurde, im gedruckten Libretto allerdings „Tamerlano“.) Ob die Premiere ein Erfolg gewesen ist, können wir nur indirekt ablesen: Immerhin wurde Vivaldi ein zweites Mal als Impresario in Verona engagiert. 1737 führte er dort eine seiner letzten Opern auf. Die Mode hatte ihn endgültig überholt.

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