• Carmen
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Georges Bizet, Saison 2021/22 (Auszug)
  • S. 17-24

Liebe kennt kein Gesetz

Text: Georg Holzer

In: Carmen, Oper von Georges Bizet, Saison 2021/22 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 17-24 [Programmheft]

Um die Oper „Carmen“ und ihren Komponisten ranken sich viele Legenden. Dabei bietet Georges Bizets Leben gar nicht viel Raum für abgründige Erzählungen: ein Sohn aus bürgerlichem Pariser Haus, dessen Vater vom Handwerker zum Berufsmusiker avanciert ist; eine musikalische Begabung, gefördert und ausgebildet von den Kapazitäten seiner Zeit; ein uneheliches Kind mit einer Hausangestellten; schließlich Schwiegersohn seines Lehrers, des Opernkomponisten Jacques Fromental Halévy; einige kleine und größere musikalische Erfolge, die ihm das Wohlwollen von Kollegen wie Berlioz, Gounod und Rossini einbringen; eine durchgefallene Oper mit dem Titel „Carmen“ und kurz darauf sein Tod mit gerade 36 Jahren. Gerade der Zusammenhang dieser letzten Ereignisse hat die Fantasie der Nachwelt beflügelt. Denn hat man es hier nicht mit dem idealtypischen Fall eines verkannten Genies zu tun? Ein Komponist schreibt auf der Höhe seiner Schaffenskraft eine geniale Oper, die aber in ihrer Bedeutung zunächst nicht erkannt wird, und stirbt einige Monate später. Hat ihm der Misserfolg seines Meisterwerks das Herz gebrochen? Der Kurzschluss liegt nahe, und vielleicht ist auch etwas Wahres dran. Aber wer sich darauf ausruht, verkennt nicht nur die Gesetzmäßigkeiten des Pariser Operngeschäfts im 19. Jahrhundert, sondern auch die Neuartigkeit und Besonderheit der Oper „Carmen“ selbst.

Zwischen den Stühlen

Sicher kann man nicht sagen, dass die Qualität eines Werks für seinen Erfolg oder Absturz im französischen Opernbetrieb zu Bizets Zeit völlig egal gewesen wäre. Aber sie war eben nur einer von vielen Faktoren, und kaum der entscheidende. Wichtiger war es für den Komponisten, genügend ihm gewogene Kollegen in der Premiere zu haben, und für den Theaterdirektor, unter hohem finanziellen Einsatz die Kritiker zu bestechen und eine Claque zu organisieren, die für gute Stimmung im Saal zuständig war. All das scheint 1875 geschehen zu sein: Der umgängliche Bizet hatte viele Freunde unter den Pariser Musikern, und der Direktor der Salle Favart, Camille du Locle, war ein abgebrühter Profi. Der Grund für die durchgefallene Premiere von „Carmen“ muss also woanders liegen und findet sich am ehesten in den enttäuschten oder irritierten Erwartungen des Publikums, das eine solche Handlung nicht ins übliche Raster der in Paris gegebenen Opern einordnen konnte. Schließlich waren zu Bizets Zeit die Grenzen zwischen den verschiedenen Operngattungen noch einigermaßen klar abgesteckt. Im größten Haus, der Opéra, wurden die „Grands Opéras“ gespielt, die Ausstattungsschlachten mit großen Sängerbesetzungen und Orchestern. Auch wenn es um 1870 für einen Komponisten immer noch prestigereich war, dort aufgeführt zu werden, kam die große Form langsam aus der Mode. Immer wichtiger wurde dafür die Opéra-comique, ursprünglich ein leichtes Genre, das sich im 18. Jahrhundert aus den Vorstadtkomödien entwickelt hatte, inzwischen aber zu einer sehr ernst zu nehmenden Theaterform geworden war. „Ernst zu nehmen“ im wörtlichen Sinn, denn mit Komik hatte die Opéra-comique erst einmal nichts zu tun. Eher als Komödien wurden dort Rührstücke mit sentimentalen Handlungen gegeben. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Grand Opéra sind die gesprochenen Dialoge, eine Tradition aus einer Zeit, als in den volkstümlichen Theaterformen Sprechen und Singen noch weniger streng voneinander getrennt waren. Manchen damaligen Theatermachern ist die Opéra-comique immer noch zu streng, sie entwickeln sie weiter in Richtung Operette, die treibende Kraft hierin ist Jacques Offenbach. So nehmen die Opéra-comique und ihre Heimstatt, die Salle Favart im 2. Pariser Arrondissement, in den Augen des Publikums einen immer bedeutenderen Platz ein: nicht so schwer und feierlich wie die Opéra, aber anspruchsvoller als die musikalischen Komödien. Das Pariser Bürgertum, in dieser Zeit immer mehr die tonangebende Klasse der Stadt und des Landes, findet sich in diesen Stücken wieder.

Ein wenig volksnäher und realistischer als auf der großen Opernbühne darf es also sein, aber bitte nicht zu sehr! Schließlich möchte man sich vor allem gepflegt unterhalten. Und das dürfte „Carmen“ zunächst zum Verhängnis geworden sein. Denn wer da auf der Bühne stand, waren, wie es die Soldaten am Anfang singen, „drôles de gens que ces gens-là“ – ziemlich seltsame Leute. Verbrecher, Schmuggler, korrupte Militärs, Frauen im Grenzbereich zur Prostitution: Das war unmoralisch, das mochte man nicht. Bizets Musik gefiel trotz ihrer farbigen Stilistik und ihrer Uneinheitlichkeit, die damals kritisiert wurde und heute so geschätzt wird, weil sie die Oper zu einem abwechslungsreichen Feuerwerk musikalischer Einfälle macht. Aber mit dem Sujet seiner Oper konnte das Publikum nichts anfangen. Schon kurze Zeit nach Bizets Tod wird sich das ändern. Durch Werke von Ambroise Thomas und Jules Massenet, durch den italienischen Verismo, vor allem aber durch den Welterfolg von „Carmen“ sprengt die Gattung Oper ihre Grenzen und stürmt ins 20. Jahrhundert. Bizet, der sich mit der Uraufführung von „Carmen“ noch zwischen alle Stühle gesetzt hat, wird zum Vorbild einer ganzen Generation von Komponisten. Schade, dass er es nicht mehr erlebt hat.

Eine Ideologin der Freiheit

Vielleicht ist es auch die Titelfigur, die Bizets Zeitgenossen nicht weniger verwirrt hat als die Mitspieler auf der Bühne. Eine junge Frau, die die Freiheit liebt, sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient, auf ihre Unabhängigkeit pocht und sich ihre Liebhaber frei aussucht, das war in Prosper Mérimées Novelle von 1845 noch durchgegangen, aber als Bühnenhandlung war das irritierend. Mérimée, gestorben 1870, ein hoher Beamter mit literarischen Ambitionen, war ein Günstling der Kaiserin Eugénie und brachte es zum inoffiziellen Hofdichter Napoleons III. Außer seinen Novellen, zu denen „Carmen“ zählt, waren seine Werke allerdings schon zu seinen Lebzeiten vergessen. Die Novelle „Carmen“ ist rückblickend aus der Sicht Don Josés erzählt, der kurz vor seiner Hinrichtung von seiner zerstörerischen Leidenschaft für Carmen berichtet. Hier ist es eine Rivalität zwischen drei Männern: Zum Torero Lucas (der in der Oper zu Escamillo wird) kommt noch Carmens Ehemann, der von José in einem Streit getötet wird. Um die Geschichte zuzuspitzen, haben die Librettisten für die Oper auf diese Figur verzichtet. Überhaupt haben Henri Meilhac und Ludovic Halévy (ein Cousin von Bizets Frau Geneviève), damals ein Erfolgsduo des Pariser Boulevards, die Erzählung sehr geschickt zum Libretto umgearbeitet. Die Herkunft der Textdichter vom Sprechtheater hat sich indirekt auch auf die musikalische Gestaltung ausgewirkt: Als Experten für Dialoge sind sie weniger interessiert an Arien, die ja meist einen veräußerten inneren Monolog der Figur darstellen. „Carmen“ dagegen ist bestimmt von Duetten, Ensembles und Chören, was Bizet die Chance zu einer sehr abwechslungsreichen und lebendigen Musik gegeben hat, die nie zum Stillstand kommt. Obwohl das Stück klar auf das zentrale Paar ausgerichtet ist, gelingt es so, auch den anderen Figuren eine Kontur zu geben und sie als eigenständige Charaktere zu etablieren. So wird etwa Leutnant Zuniga, die ranghöchste Figur in diesem Ensemble aus Kriminellen, Armen und Abgehängten, in den beiden ersten Akten zum wahren Gegenspieler Carmens. Er steht für alles, was sie ablehnt: Zwang, Unfreiheit, militärischer Gehorsam und männliche Dominanz. Seine Niederlage im Kampf der Schmuggler mit dem Militär ist auch ein Triumph für Carmen und ihre Weltanschauung.

Zwei Männer, zwei Frauen

Die Personenkonstellation der Oper ist raffiniert. Denn es geht um eine Frau, die zwischen zwei Männern steht, und einen Mann, der sich zwischen zwei Frauen entscheiden muss. Das hört sich ähnlich an, doch die Situationen sind komplett verschieden. Carmen lernt in Don José einen jungen Mann kennen, der für sie seine Stellung riskiert und ins Gefängnis geht. Diese Opferbereitschaft interessiert sie eine Zeit lang, aber Josés erdrückende Liebe bedeutet für sie einen Freiheitsentzug, den sie nicht akzeptieren kann. An Escamillo fasziniert sie, dass er ihr überlegen ist, dass er begehrter ist als sie. Die Wahl fällt ihr nicht schwer. Für José stellt sich die Frage existenzieller. Carmen und Micaela sind für ihn zwei Lebensmodelle, die einander absolut ausschließen. Micaela steht für das Leben, das er führen sollte: ein braver Soldat mit einem anständigen Mädchen, das er nach dem Willen seiner Mutter heiratet. Carmen ist das Gegenteil: eine gefährliche Liebe, die ihn aus der bürgerlichen Existenz katapultiert, ihn zum Verbrecher macht und sicher keine langfristige Perspektive hat. Aber auch er hat keine Wahl. Seine Leidenschaft für Carmen fegt jede vernünftige Überlegung hinweg. Die vollkommen unfreie Lebensform des Militärs ist mit Carmens Freiheitsdrang nicht vereinbar, also gibt er sie so gründlich auf, dass es für ihn kein Zurück gibt. Die Stelle, an der er sich entscheidet, unwiderruflich zum Deserteur zu werden, ist dramaturgisch eine der interessantesten des Stücks: Es bleibt offen, ob er sein altes Leben pulverisiert, weil er nicht von Carmen lassen kann, oder ob er unglücklicherweise in diesem ganz falschen Moment seinem Vorgesetzten Zuniga über den Weg läuft, was ihm den Rückzug unmöglich macht. Dass wir das nicht erfahren, zeigt deutlich, welche Kräfte in Don José streiten. Er hat durch Carmen die rasende, verzehrende Leidenschaft kennen gelernt, das heißt aber nicht, dass die Beharrungskräfte einer soliden Existenz damit weggefegt wären. José mag die Schmuggler nicht und arbeitet nur notgedrungen für sie. Der blasierte Escamillo ist ihm zuwider – vielleicht nicht nur deshalb, weil er sein Rivale um Carmens Herz ist. Mit Carmens Welt kann er nichts anfangen, mit Micaelas dagegen alles. Bis zum Schluss peinigt ihn der Gedanke an seine Mutter, bis zum Schluss weiß er, dass Micaela für ihn die Richtige gewesen wäre. Vielleicht ist es am Ende nicht nur enttäuschte Liebe, die ihn zum Mörder macht, sondern auch die Wut darüber, dass Carmen ihm vom rechten Weg abgebracht hat. Sein Mord an Carmen ist in all seiner Grausamkeit und Sinnlosigkeit eine logische Folge aus dem, was er – aus seiner Perspektive – für sie geopfert hat. Wo sollte sein Weg nach dieser Erfahrung von Leidenschaft noch hinführen, wenn nicht in eine Verurteilung zum Tod?

„Eine Carmen kannst du nicht töten“

Verglichen mit den Seelenqualen Don Josés ist Carmens Innenleben leicht durchschaubar. Wie jede wirklich überzeugende Theaterfigur ist Carmen ein starkes Individuum, eine außergewöhnliche Frau, aber auch bestimmt durch die Gesellschaft, die sie umgibt. Sie hat die Liebe als etwas kennen gelernt, auf das man nicht zählen kann. Sie weiß um ihre Schönheit und weiß, dass sie sie zu ihrem Vorteil nutzen kann. Von Männern hält sie nicht viel, trotzdem sonnt sie sich in der Bewunderung ihrer Verehrer. Liebe ist für sie eine Frage von Macht: Derjenige, der weniger liebt, hat in einer Beziehung die Oberhand, deshalb versucht sie, nicht mehr Gefühle als nötig zu investieren. Das ist für sie keine Spielerei, sondern eine Überlebensstrategie, auch ökonomisch. Als Arbeiterin mit Verbindungen ins kriminelle Milieu steht sie in der Gesellschaft ganz unten. Die meisten Männer, die sie trifft, sind Schweine wie Leutnant Zuniga. Also will sie die Chancen ergreifen, die sich daraus ergeben, dass die Liebe, wie sie singt, „noch nie ein Gesetz gekannt hat“. In dieser Gesetzlosigkeit fühlt sie sich wohl, denn dort wird nach ihren Regeln gespielt. Ihre Regel ist die Forderung nach unbedingter Freiheit. Eine ungeklärte Frage des Stücks ist, ob es einen Zeitpunkt gibt, zu dem Carmen in Don José verliebt ist, oder ob sie sich nur aus Berechnung mit ihm einlässt. Der Anfang ihrer Begegnung im 2. Akt in der Kneipe von Lillas Pastia legt nahe, dass Carmen etwas für Don José fühlt, dass sie aber bald zurückweicht, weil ihr das Besitzergreifende seiner Liebe zuwider ist. Obwohl sie am Leben hängt und der Tod ihr Angst macht – das hört man deutlich im Karten-Terzett –, kalkuliert sie den Tod als möglichen Preis der Freiheit mit ein. Vielleicht auch deshalb, weil sie ahnt, dass die radikale Befreiung von allen Zwängen für einen Menschen kaum durchzuhalten ist. Der Lyriker Wolf Wondratschek hat sich in seinem Gedicht „Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre“ eine gealterte Carmen vorgestellt, die nach allen Eskapaden schließlich mit einem Bauern auf einem einsamen Hof lebt und dort ihr Glück findet. Damit tritt sie als Figur aus der Geschichte heraus, doch ihr Bild bleibt zurück, das Bild einer Frau, die sich aus Lust und aus Notwendigkeit zur Herrscherin über die Männer gekrönt hat. Ob Escamillo der Mann gewesen wäre, der sie gezähmt hätte? Oder wäre auch er nur eine Affäre mit funkelndem Beginn und schäbigem Ende geblieben? Das Stück verrät es uns nicht, Carmens Tod macht diese Frage überflüssig. Aber man kann darüber nachdenken. Denn, wie Wondratschek schreibt: „Eine Carmen kannst du nicht töten.“

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