Premiere Bianca e Falliero
Zerreißproben in geschlossener Gesellschaft
Text: Zsolt Horpácsy
In: Magazin, März/April 2020, Oper Frankfurt, S. 8-9 [Publikumszeitschrift]
Hinter Mauern spielt die ungewöhnliche Handlung von Rossinis letztem für die Mailänder Scala komponierten Melodramma: Die Republik Venedig, ein Zwergstaat mit Anspruch auf die Weltherrschaft, feiert sich durch militärische Siege. Man versucht die scheinbare Stabilität des verkrusteten Systems durch Angriffe, erfundene Feindbilder, Verschwörungstheorien, Misstrauen und Verschärfung der Gesetze zu zementieren. Zwanghaft will sich der Staat behaupten und agiert größenwahnsinnig. Seine Mauern werden immer höher, die Neigung zur Selbstverherrlichung verstärkt sich und führt unaufhaltsam zu extremer nationalistischer Isolation. Eine Hybris, die Manipulation und Psychoterror auch in familiären Kreisen nach sich zieht.
Verbarrikadierung
Die um 1800 bejubelte französische Tragödie Les Vénétiens ou Blanche et Montacassin von Antoine Vincent Arnault diente dem Komponisten-Star Rossini und seinem Vielschreiber-Librettisten Felice Romani als Vorlage.
Rossini, bereits auf der Höhe seines Ruhms, galt als Mailänder Publikumsmagnet und konnte sich um 1819 Experimente erlauben. Die düstere Liebesgeschichte und die Darstellung einer in sich verstrickten venezianischen Gesellschaft gaben ihm und Romani Gelegenheit zur Erweiterung ihrer musikdramaturgischen und poetischen Mittel. Dem Zeitgeschmack entsprechend verwandelte das Autorenteam das ursprünglich tragische Finale des Schauspiels, die Hinrichtung Fallieros, in ein publikumsfreundliches Schlussbild: die Eheschließung der Protagonisten. So bleibt Bianca am Ende zwischen ihrem Vater, der sie als Geisel der Familienfehde missbraucht hat, und ihrem geliebten Falliero hin- und hergerissen. Ein wahres Eheglück verspricht dieses Lieto fine nun wirklich nicht. Vielmehr bedeutet es für sie die Verlängerung ihrer tragischen Situation: einen endlos zermürbenden Schwebezustand.
Zwangsehe
Nach der Mailänder Uraufführung von Bianca e Falliero folgten trotz mäßiger Kritiken und gemischter Publikumsreaktionen immerhin noch 39 Vorstellungen. Das Werk wurde anschließend von einigen Häusern europaweit übernommen, um dann bis 1986 in der Versenkung zu verschwinden. Doch nicht einmal seine »Wiederentdeckung« in Pesaro, eine Produktion mit Starbesetzung, konnte es nachhaltig auf den Spielplänen etablieren.
Auch in der Rossini-Literatur wurde Bianca e Falliero wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zu Unrecht. Man ließ sich von den ersten Publikumsreaktionen und der zeitgenössischen Kritik beirren und verkannte hinter der Fassade der traditionellen Form der Opera seria die Modernität des Werks. Rossini camouflierte die Kritik an verkrusteten, um sich selbst kreisenden Strukturen eines selbstherrlichen und menschenverachtenden Regimes mit musikalischen Mitteln. Wie gewohnt besteht seine Partitur aus den üblichen geschlossenen Nummern, aus Arien, Duetten, Ensembles, einer Sinfonietta und einem Finale nach jedem Akt. Aber: Die einzelnen Bausteine des Melodrammas sind überdimensional angelegt und sprengen durch Vergrößerung die gewohnte und erwartete Struktur einer Belcanto-Oper. Denn die geradezu hypertroph angelegten Szenen der vier Protagonisten (der beiden Titelpartien sowie Contareno und Capellio), der Ensembles und Chöre sowie die zwei ausgedehnten Finali bilden innerhalb der gesamten, dramaturgisch genau geplanten Struktur eigenständige musikalische Inseln. Sie entsprechen damit der Isolation der handelnden Protagonisten hinter hohen Mauern. Auf diese vier facettenreich gezeichneten Psychogramme fokussiert sich die Partitur und lässt die Nebenrollen ohne eigene Arien agieren.
Psychogramm
Rossinis sonst übliche Selbstzitate und Rückgriffe auf frühere Opern halten sich in der Partitur des zweiaktigen Melodramma in Grenzen. Lediglich die letzte Szene Biancas ist eine weiterentwickelte Form des Schlussrondos der Elena aus der kurz zuvor noch für Neapel entstandenen Walter Scott-Vertonung The Lady of the Lake.
Dass Bianca e Falliero trotz des klug konzipierten Textbuchs, des Reichtums an feinen kompositorischen Mitteln und komplexer Charakterstudien doch kein durchschlagender Erfolg wurde, lag – neben der oberflächlichen Einschätzung der Musik – vermutlich auch an der Brisanz der Handlung. Das Porträt eines Politikers (Contareno), der versucht, seiner eigenen Pleite und dem drohenden gesellschaftlichen Abstieg durch die Zwangsverheiratung der Tochter (Bianca) zu entkommen, ließ wohl einige adlige Logenbesitzer im Premierenpublikum Parallelen zur eigenen Familie erkennen. Trotz eines aufgesetzten Happy Ends wurde die Premiere von Rossinis neuem Werk für manche Mailänder Politiker und Patriarchen zu einer durchaus verstörenden Angelegenheit – mit unangenehmem Spiegel-Effekt.
BIANCA E FALLIERO
Gioachino Rossini 1792–1868
MELODRAMMA IN ZWEI AKTEN / URAUFFÜHRUNG 1819
Text von Felice Romani nach Antoine Vincent Arnault.
In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
FRANKFURTER ERSTAUFFÜHRUNG Sonntag, 5. April
VORSTELLUNGEN 9., 12., 18., 25. April / 3., 9., 15. Mai
MUSIKALISCHE LEITUNG Giuliano Carella INSZENIERUNG Tilmann Köhler BÜHNENBILD Karoly Risz KOSTÜME Susanne Uhl LICHT Joachim Klein VIDEO Marlene Blumert CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Zsolt Horpácsy
BIANCA Heather Phillips FALLIERO Elizabeth DeShong CONTARENO Bruce Sledge CAPELLIO Kihwan Sim DOGE VON VENEDIG Attila Mokus EIN KANZLER / EIN OFFIZIER / EIN GERICHTSDIENER Michael Petruccelli°
° Mitglied des Opernstudios