• Orpheus
  • Verlag Kulturbüro
  • 06/2018, Nov/Dez (Auszug)
  • S. 14-19

Die Weltenreisende

Die Sopranistin Marlis Petersen zählt zu den größten Sängerdarstellerinnen unserer Zeit. Der Liedgesang nimmt in ihrer Karriere einen immer wichtigeren Stellenwert ein

Text: Stephan Burianek

In: Orpheus, 06/2018, Nov/Dez (Auszug), Verlag Kulturbüro, S. 14-19 [Magazin]

Es war einer dieser unerwarteten Momente, wegen denen wir in Konzerte gehen: Die Ergriffenheit im Brahms-Saal des Wiener Musikvereins lag förmlich in der Luft, niemand regte sich im Publikum, kein Huster störte die Stille. Gerade eben hatte Marlis Petersen, von Stephan Matthias Lademann am Klavier begleitet, Robert Schumanns Vertonung des berühmten Eichendorff-Gedichts »Mondnacht« gesungen. Wobei »gesungen« nur bedingt zutrifft – Petersen hauchte ihre bewusst schlank geführte Stimme in geradezu transzendente Höhen, wo sie mit Lademanns zart angeschlagenen Pianotönen regelrecht verschmolz.

Als begnadete Sängerdarstellerin mit der Fähigkeit zu gleichermaßen expressivem Spiel wie Gesang hat sich Petersen in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf den großen Bühnen der Welt immaterielle Denkmäler gesetzt. Der Liedgesang ist eine vergleichsweise neue Erscheinung in ihrer Karriere. Im vergangenen Jahr erschien das Konzeptalbum »Welt«, als erster Teil einer Trilogie, die Petersen »Dimensionen« getauft hat. Ihre Liedgestaltung zeichnet sich darin durch einen melancholisch fließenden Duktus, zart geführte Kantilenen und metallisch durchdringende Höhen aus.

Ich treffe Petersen in einem Kaffeehaus am Bauernfeldplatz im neunten Wiener Gemeindebezirk, unweit der ORPHEUS-Redaktion. Sie ist frisch in diese Gegend gezogen und hat das von ihr selbst entworfene Haus in Athen aufgegeben. »Ich war ohnehin kaum dort.« Ohne Griechenland kann die Schwäbin allerdings nicht sein – nach wie vor besitzt sie auf dem Peloponnes eine Olivenfarm und wird im Herbst an der Ernte mitwirken.

Wien ist schon länger Petersens musikalische Heimat, und das Theater an der Wien ist in den letzten Jahren zu einem ihrer Stammhäuser geworden. Sie schätzt das vielseitige Programm auf hohem Niveau, außerdem ist man dort als Sänger näher am Publikum als in den großen Häusern, was eine kammerspielartige Atmosphäre schafft. »Intendant Roland Geyer versteht es sehr gut, seine Leute immer wieder mit interessanten Aufgaben an sein Theater zu locken. Für mich ist es wie eine Familie.«

Mit Lulu in die Welt

Als Petersen erstmals beruflich nach Wien kam, wurden in diesem Theater allerdings noch Musicals gespielt. Ihr Debüt in der Bundeshauptstadt feierte sie 2002 gleich im größten Haus, der Wiener Staatsoper, und noch dazu in einer Titelrolle: Talentescout Ioan Holender setzte sie als Lulu in Alban Bergs gleichnamiger Oper ein. Kritik und Publikum reagierten begeistert, Petersen war ganz oben angekommen.

Die Lulu, die sie 18 Jahre lang in den unterschiedlichsten Inszenierungen verkörperte, bezeichnet Petersen heute rückblickend als ihre »Lebensrolle«. Bereits in ihrem ersten Festengagement kam sie mit dieser Partie in Berührung: In den 1990er-Jahren war sie in Nürnberg engagiert, dort leitete Eberhard Kloke die Opernsparte. »Kloke war ein Projektmensch mit großen Ideen.« Er setzte Modernes wie Schönbergs »Erwartung« und »Glückliche Hand«, Morton Feldmans »Neither«, aber auch historische Raritäten wie Gesänge von Hildegard von Bingen auf den Spielplan – und fand in Petersen eine dankbare Interpretin. Hinzu kamen spannende Regisseure und Ausstatter wie beispielsweise Annegret Ritzel oder Rosalie. »Für Kloke war es keine leichte Zeit, weil ein großer Teil des Publikums konservativ veranlagt war und zu kämpfen hatte. Aber für mich war das toll.«

In Nürnberg wurde sie zum »Musiktheater-Freak«, wie sie selbst sagt: »Ich mag es, wenn ein Regisseur einen eigenen Zugang zum Stück hat und einen bestimmten Aspekt des Werks erleuchtet. Schlicht die Handlung erzählen kann man ohnehin immer. Wir Sänger sind dazu da, ein Konzept eines Regisseurs mit Leben zu erwecken. Auf der anderen Seite sollte ein Regisseur natürlich gut vorbereitet sein und uns Sänger durch sein Konzept führen können. Innerhalb des dadurch geschaffenen Gerüsts kann ich als Sängerin dann die Figur mit meinem eigenen Potenzial ausfüllen.« Als beispielhafte Regisseure, die ihr das geben können, nennt sie Christof Loy, Claus Guth und Peter Konwitschny.

Ihre Neugier macht sie zu einer unglaublich vielseitigen Sängerin, die quer durch den musikhistorischen Gemüsegarten reüssiert. Mozart war ihr stets wichtig, einerseits als stimmhygienischer »Messstab für die Stimme, um zu sehen, ob alles noch gesund ist – wenn die Intonation nicht stimmt oder die Stimme nicht gut greift, dann hört man das in seinen Werken sofort.« Auch ist bei ihm »die musikalische Personenführung grandios. In seinen Quartetten und Quintetten, beispielsweise, kann man den emotionalen Istzustand der jeweiligen Figur immer verstehen.« Auch Barockmusik spielt in ihrer Karriere eine Rolle, arbeitete sie doch häufig mit Helmuth Rilling, natürlich auch mit anderen Spezialisten wie René Jacobs, Trevor Pinnock und Ton Koopman. »Das liegt wahrscheinlich daran, dass meine Ausbildung so reichhaltig war.«

Daheim in Tuttlingen (Baden-Württemberg) lernte Petersen als Teenager zunächst Flöte und – durchaus mit Erfolg – Klavier, wo sie neben dem klassischen und romantischen Repertoire auch mit Hindemith und Bartok in Berührung kam. Über einen Kirchenchor kam sie zum Gesang, doch die Eltern hatten wenig Vertrauen in den Sängerberuf, also begann sie ein Schulmusikstudium. Parallel betätigte sie sich als Sängerin in einer Rockband, die damalige Hits nachspielte. Wiewohl die langen Nächte und die kurzen Tage neben Spaß auch Geld brachten, ergriff sie nach Preisen beim Bundeswettbewerb Gesang Berlin ihre Chance in Nürnberg. Dort warteten neben der Königin der Nacht und Zerbinetta eben auch Lulu und Schönberg auf die junge Koloratursopranistin. Von Nürnberg aus ging es über die Deutsche Oper am Rhein in die weite Opernwelt.

Ein Komponisten-Glücksfall

Aufgrund ihrer Offenheit bei der Rollenwahl ist sie prädestiniert für Uraufführungen. »Es ist toll, gemeinsam mit einem Komponisten in dessen Werk hineinzuwachsen.« Aribert Reimann schrieb ihr die Titelrolle seiner »Medea« auf die Stimmbänder (2010, Wiener Staatsoper), ebenso wie Hans Werner Henze in »Phaedra« (2007, Lindenoper, Berlin) und Manfred Trojahn die Hauptpartie der Marta Di Spelta in »La grande magia« (2008, Semperoper Dresden).

Sie ist sei »bewegter Mensch«, sagt sie – und meint das körperlich. Schon als Jugendliche war der Sport ein Teil ihres Lebens: Basketball, Turnen, Tanzgymnastik, Stepptanz. Bewegung ist nach wie vor sehr wichtig, was ihr expressives Spiel auf der Bühne zweifellos unterstützt – wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Eigenschaft wurde sie von der Zeitschrift Opernwelt dreimal zur »Sängerin des Jahres« gekürt. Wiewohl Petersen immer noch gerne die Susanna (»Le nozze di Figaro«) singen würde, befindet sie sich naturgemäß in einem kleinen Fachwechsel. »Jetzt wollen die Leute von mir lieber die Gräfin oder die Marschallin (»Der Rosenkavalier«) hören.« Als nächstes steht die Salome an der Bayerischen Staatsoper in München an. Schon lange war der Wunsch da, diese Rolle einmal zu verkörpern. »Ich hätte das aber jetzt noch nicht gewagt, wenn nicht Kirill Petrenko am Pult stünde, der das Orchester vom leisesten Pianissimo zum großen Forte führen und mich auf dieser Welle, in der ich gestalten darf ohne brüllen zu müssen, mitnehmen kann.« Die Marietta in der »Toten Stadt« (Korngold) wird auch kommen.

Leben!

Und sonst? Im Olymp längst angekommen, möchte die Sopranistin künftig »bewusst mehr leben«: Reisen, die Welt sehen und dabei auch immer wieder zur Ruhe kommen. »Ich bin jetzt seit 25 Jahren in diesem Beruf, und er ist doch ziemlich anstrengend.« Man wird schließlich nicht jünger, aber das Ethos der hohen Qualität bleibt bestehen.

Natürlich wird sie neben gelegentlichen Besuchen der großen internationalen Häuser weiterhin die exklusiven Kreuzfahrten auf der MS Europa von Hapag-Lloyd begleiten, die ihr immerhin ein »kurzes Anfassen« fremder Kulturen ermöglichen. Und dann ist da noch ihr Plattenlabel Solo Musica, in dem aktuell die »Dimensionen«-Trilogie erscheint, deren optisches Erscheinungsbild sie ebenso bestimmt wie die Auswahl der Autoren im Booklet.

»Welt« heißt das erste von drei geplanten »Dimensionen«-Liedalben, es ist im vergangenen Jahr erschienen. Thematisiert wird darin der Mensch im Hier und Jetzt, in seinem Hamsterrad zwischen Himmel und Erde: »Wir hadern viel, erreichen nach dunklen Tälern aber wieder lichte Höhen. Das Bewusstsein, die Erkenntnis und das daraus resultierende Wachsen spielen in unserem Leben eine wichtige Rolle.« Die Frage, was in einem Menschenleben wichtig ist – oder wichtig sein sollte – wird in der Liederliteratur üppig behandelt. Etwa von Sigurd von Koch, der einen Gedankengang von Konfuzius in den Worten von Hans Bethge vertonte: Die Summe eines Menschenlebens, heißt es in »Das Los des Menschen«, sei »ein armer, verfallener Hügel«, auf dem »Unkraut sprießt«. Ganz so pessimistisch möchte Marlis Petersen das Liedprogramm in »Welt« freilich nicht verstanden wissen. Im Gegenteil: Das Leben ist kurz, daher sollten wir es ganz bewusst wahrnehmen: »Die Aussage von ›Welt‹ ist, dass wir nicht im ständigen Suchen selbst verloren gehen, sondern das Gute, das so nah liegt, nicht aus den Augen verlieren dürfen. Sehe ich den wunderbaren Ahornbaum vor meinem Fester eigentlich noch? Diese Frage sollte man sich manchmal stellen.«

Wer solche Fragen stellt, der hat sich selbst bereits einmal verloren. Die sozialen Online-Medien und die Informationsflut im Internetzeitalter vergrößern heute diese Gefahr, zumal die Zeit, diese Informationen zu verarbeiten, immer weniger wird. »Stundenlange Lebenszeit« habe sie vor dem Computer verhockt, bis sie vor zwei Jahren beschloss, sie müsse da raus. Fernseher hat Petersen auch schon länger keinen mehr.

Dass die sympathische Künstlerin offenherzig durch die Welt geht, bestätigt sich übrigens auch während unseres Gesprächs, als sie zwei Tische weiter einen ihr bekannten Klarinettisten entdeckt, der über selbstgezogenen Notenzeilen brütet. Sie hat ihn lange nicht mehr gesehen. Bei welchem Projekt sie ihn kennen gelernt hat? Antwort: In der Straßenbahn.

Schräg und diffus

Menschen, die viel Zeit haben, sehen und spüren in ihrer Umgebung mitunter unerklärliche Dinge. Wie Elfen oder Berggeister. Oder Sylphen. Oder Nixen. Irrlichter. Um diese »Anderswelt« geht es im gleichnamigen zweiten Trilogie-Album, aufgenommen im Sommer dieses Jahres im modernen Konzerthaus der oberpfälzischen Gemeinde Blaibach. Auch auf diesen Liedaufnahmen, deren bunte Mischung stark ins 20. Jahrhundert drängt, nimmt Petersen ihre Stimme im Interesse des Ausdrucks bewusst zurück: »Für mich ist das Lied die Keimzelle des Gesangs und es ist mir wichtig, darin zum Kern zurückzukommen. Ich finde es falsch, ihm allzu opernhaft zu begegnen.« Im Vergleich mit der »Welt« wohnt der »Anderswelt« eine weniger melancholische Grundstimmung inne, der Gesang klingt neugieriger, lebhafter. Mitunter aber auch fragiler: In Harald Genzmers »Stimmen im Strom« (Text: Stefan George) ortet Petersen »diffuse Bilder«, auf die sie sich stimmlich voll und ganz einlassen kann. Und »Die einsame Nixe« von Hermann Reutter (Text: Ricarda Huch) klinge mit ihrer parlando-artigen Gesangslinie »total schräg«.

Auch interessant: Petersen wollte unbedingt Trolle, aber die gibt die klassische Liedliteratur kaum her. Stattdessen fand Petersen massenweise Elfen. Joseph von Eichendorffs Gedicht »Elfe« singt Petersen auf dem Album in drei Vertonungen von Bruno Walter, Julius Weismann und Friedrich Gulda. Die musikalische Reise geht zudem in den europäischen Norden. Skandinavien, Island. »Dort leben die Menschen noch mit dieser Kultur.« Petersen singt sogar auf Isländisch: »Hamraborgin« (»Die Felsenburg«) heißt das Lied eines komponierenden Arztes aus Reykjavík namens Sigvaldi Kaldalóns, der den Elfengesang auf den Bergen besingt (Text: Davíð Stefánsson).

In der »Anderswelt« übernahm Camillo Radicke die Klavierbegleitung. »Mir war von Beginn an klar, dass Camillo, der ja auch ein sehr empfindsames Wesen ist, der Begleiter der Elfenwelt sein muss. Lademann hingegen ist ein sehr klassischer Pianist und hat sich mit Schumann und Schubert, die in ›Welt‹ die Stützen bilden, sehr viel auseinandergesetzt.« Bei der dritten »Dimensionen«-CD wird sich Petersen erstmals von einer Frau begleiten lassen, mehr wird aber noch nicht verraten. Die Liedsammlung ist noch nicht erstellt, sie wird aber den Titel »Innenwelt« tragen und sich mit der Nacht und den Träumen beschäftigen, also mit dem, was die Seele nicht am Tag verarbeitet, und mit der Transzendenz. Petersen ist sich sicher, dass dort Richard Strauss und auch wieder Schubert Einzug halten wird. Das In-Sich-Hineinhören wird einen abschließenden Bogen zur »Welt«-CD spannen, in deren Booklet zu lesen ist: »Das Funktionieren und Leisten hat uns in der Hand, und dem Herzen fehlt oft der Raum zum Fühlen und der Seele die Zeit zum Atmen.« Wie wahr.