• Orpheus
  • MuP Verlag
  • 02/2018, März / April (Auszug)
  • S. 78-81

Opus im Fokus

Eine Komödie als Knochenmühle

Im März jährt sich Bernd Alois Zimmermanns Geburtstag zum 100. Mal. Seine Oper »Die Soldaten« gilt als Schlüsselwerk der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, ihr Inhalt ist zeitlos modern

Text: Rainer Nonnenmann

In: Orpheus, 02/2018, März / April (Auszug), MuP Verlag, S. 78-81 [Magazin]

»Wenn in einem neuen Bühnenwerk gesungen wird, dann in den »Soldaten«. Ich muss es immer wieder sagen: es handelt sich um eine Oper! […] Ich persönlich sehe kein Bühnenbild bei dem Stück außer Menschen, die vor schwarzen Abgründen des Seins stehen, das sie aufnehmen wird, mit welcher Kraft auch immer sie sich dagegen wehren, gegen die einzige Gewissheit, über die es keine Ungewissheit gibt: über den physischen, psychischen, seelischen Tod.« Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) machte in seinem Brief vom 6. August 1964 an Hans Neugebauer, den Regisseur der für den darauffolgenden Februar an der Oper Köln angesetzten Uraufführung von »Die Soldaten«, zweierlei deutlich: Trotz aller medialen Erweiterungen und Aufsplitterungen des linearen Erzählfadens in Simultanszenen ist sein Werk eine Oper im Sinne der Gattungstradition mit singenden Bühnenfiguren; und die Tragik der handelnden Personen ergibt sich nicht aus dem ungewissen Bangen, ob sie scheitern, sondern aus dem Fakt, dass sie unausweichlich zugrunde gehen werden und nur noch nicht klar ist, wie und wann. Obwohl auf einem Text des 18. Jahrhunderts basierend, wurden »Die Soldaten« zu einem Schlüsselwerk der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sich die jüngst vergangenen Katastrophen von Totalitarismus, Zerstörung, Völkermord niederzuschlagen schienen. Gleich zu Anfang zeigt ein düsteres »Preludio« eine durch Brutalisierung unaufhaltsam zum Untergang verdammte Welt. In kaum erträglicher Härte prallen heterogene Kräfte aufeinander: Aufschreiende Streicher, kreischende Holzbläser, schneidende Fanfarenstöße, apokalyptische Posaunen, dröhnendes Schlagwerk, dichte Cluster, alles durchpulst von unerbittlich vorantreibenden Schlägen der Pauke. Den Umstand, dass es schon zu Beginn kein Entrinnen mehr gibt, nannte Zimmermann eine »Situation, die von der Zukunft her die Vergangenheit bedroht«. So fällt auf alles Nachfolgende ab initio der unheilvolle Schatten des katastrophischen Endes in Mord, Selbstmord, Elend, Atomtot.

Vorlage für Zimmermanns Oper bildet die gleichnamige »Komödie« des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz von 1774/75. Obwohl fast zweihundert Jahre alt, empfand der Komponist dieses Theaterstück als zeitlos modern: 1. Die Personen haben zwar Namen und erleiden individuelle Geschichten, doch ihr Verhängnis steht zugleich exemplarisch für zu allen Zeiten sich wiederholende Schicksale; 2. Lenz sprengt die klassische aristotelische Einheit von Ort, Handlung und Zeit, indem er schnell zwischen kurzen Szenen springt und verschiedene Handlungsstränge parallel laufen lässt; 3. Die auftretenden verantwortungs- und zügellosen Soldaten, die »verfluchten Arschgesichter«, sprechen allesamt eine kraftvolle Sprache; 4. Überzeitlich aktuell ist vor allem der gezeigte Zwangsapparat aus Standeszugehörigkeiten, Hierarchien, Geschlechterrollen sowie den Mechanismen einer durch Kasernierung, Uniformierung, Befehlsgewalt und Dünkel entsubjektivierten, perspektivlosen, verrohten Soldateska. Stellvertretend für den gequälten, gedemütigten, vergewaltigten Menschen steht Marie im Zentrum. Wie die zur Soldatenhure entwürdigte junge Frau sind alle Protagonisten fremdbestimmt und daher trotz persönlicher Schuld zugleich auch Opfer einer a-personalen Vergewaltigung durch Gesellschaft, Geld, Macht, Entfremdung, Ideologie. Die absurd wirkende Gattungsbezeichnung »Komödie« meint schon bei Lenz nicht heiteres Lustspiel, sondern im Sinne von Balzacs späterer »Comédie humaine« die allgemeinen Bedingungen des menschlichen Lebens, neben Liebe und Lust eben auch gnadenlose Gemeinheit, Mord und Totschlag.

Die Handlung spielt laut Zimmermann »gestern, heute und morgen«. Erzählt wird die Geschichte Maries, die den Tuchhändler Stolzius liebt. Aber auch der vor Ort in der flandrischen Garnison Lille stationierte Baron Desportes hat ein Auge auf die hübsche Frau geworfen. Durch Schmeichelei, Geschenke und die Großmannssucht des Vaters, eines Galanteriewarenhändlers, der die Tochter bereits zu »Höherem« berufen sieht, erlangt der Verführer Maries Gunst. Die Liaison spricht sich herum, die Frau wird von den Offizieren nach unten weitergereicht und ihr Verlobter verhöhnt. Auf Rache bedacht geht dieser zum Militär und wird dort Bursche von Hauptmann Mary, einem Intimus von Desportes und gerade der aktuelle Liebhaber Maries. Als sich endlich auch ein junger Graf in Marie verliebt, holt dessen Mutter die junge Frau als Gesellschaftsdame zu sich, um deren Ruf zu retten. Marie jedoch will zurück zu Desportes, der ihrer jedoch längst überdrüssig geworden ist und einem Soldaten befiehlt, Marie abzufangen und zu vergewaltigen. Am Ende vergiftet Stolzius Desportes und sich selbst. Marie landet als Bettlerin in der Gosse und wird von ihrem eigenen Vater nicht mehr erkannt. Die 35 Szenen von Lenzʼ fünfaktigem Schauspiel komprimierte Zimmermann auf 15 Szenen in vier Akten, indem er unter anderem mehrere Szenen zu Simultanszenen von hochdramatischer Zuspitzung verband. So liest beispielsweise Stolzius einen soeben erhaltenen Brief, den sich – in einer Parallelmontage dazu – Marie gerade von Desportes diktieren lässt. Ein Kulminationspunkt ist auch die Szene IV,1 »Toccata«, in der gleich sieben unterschiedliche Handlungsfäden zusammenlaufen.

Am Anfang von Zimmermanns »Pluralismus« der Ereignisebenen standen um 1960 Versuche zur Vereinheitlichung der musikalischen Vertikale und Horizontale. Gemäß Stockhausens Idee von der »Einheit der musikalischen Zeit« zielte er auf strukturelle Übereinstimmung der Proportionen von Frequenzen und Zeitabläufen. Dem Oktavintervall zweier Töne im Verhältnis 1:2 korrespondiert demnach zum Beispiel dasselbe Verhältnis der rhythmischen Werte Viertel und Halbe sowie der Tempi 40 und 80. Die Übertragung von Tonhöhenverhältnissen auf analoge Dauern- und Tempo-Proportionen führte zu polytemporalen Schichtungen. Um diese zu verdeutlichen, griff Zimmermann zu Zitaten, deren strukturelle und semantische Eigenschaften den jeweiligen zeitlichen und intervallischen Schichtungen entsprechen. Er erweiterte so die musikalische Zeit von Rhythmus und Tempo um die historische Dimension von Musik anderer Epochen und Stilistiken. Auch in den »Soldaten« sind Zitate und Stilanleihen ein wirkungsvolles Mittel zur Demonstration des Pluralismus verschiedener Rhythmus- und Tempostrukturen. Die »pan-akkustische Form« dieses »totalen Theaters« erweiterte Zimmermann außerdem medial um »alle Elemente des Sprachlichen, Gesanglichen, Musikalischen, Bildnerischen, Filme, Ballett, Pantomime, Bandmontagen (Geräusch- und Sprachklänge, konkrete Musik)«.

Wie wenige andere Komponisten formulierte Zimmermann die Einsicht, dass dem zeitgenössischen Musiker das Klangmaterial aller Epochen, Kulturen und Weltgegenden gleichberechtigt zur Verführung steht. Die Musik der Vergangenheit kann nicht einfach als erledigt abgetan werden, da sie nach wie vor gegenwärtig ist. In Anlehnung an den spätantiken Philosophen und Kirchenlehrer Augustinus brachte Zimmermann seine Idee des »pluralistischen Zeit- und Erlebnisstroms« in das Bild von der »Kugelgestalt der Zeit«. Die geometrische Figur der Kugel ist dadurch definiert, dass sich sämtliche Punkte auf ihrer Oberfläche gleich nah zu ihrem Mittelpunkt befinden. Ebenso laufen in der Gegenwart des Menschen alle drei Zeiten zusammen, und zwar als gegenwärtige Erinnerung an Vergangenes, gegenwärtiges Anschauen von tatsächlich Gegenwärtigem, und gegenwärtige Erwartung von Zukünftigem. Ein Paradebeispiel pluralistischer Musik ist das »Intermezzo« des 2. Akts, das den Tumult der vorherigen Kaffeehaus-Szene orchestral fortsetzt. Schwadronierten dort Offiziere und ein Feldprediger wild durcheinander, so erklingen jetzt auf jeweils eigenen Zeitschichten marschartige Rhythmen und Fanfaren, furiose Free-Jazz-Floskeln, apokalyptische Posaunensignale, nähmaschinenartig stechende Repetitionen eines Spinetts, flüchtige Fetzen aus Bachs erstem Brandenburgischen Konzert und eine Orgel-Improvisation über die mittelalterliche Sequenz »dies irae« der lateinischen Totenmesse.

Zimmermanns Idee des Pluralismus von Zeit, Geschichte, Stil, Form, Material und Technik avancierte vor allem posthum – im August 1970 nahm er sich das Leben – zu wichtigen Bezugspunkten für jüngere Komponisten bei deren neo-expressiver Revolte gegen doktrinäre Reinheitsideale, etwa für Hans Zender, Wilhelm Killmayer, Wolfgang Rihm, Reinhard Febel, Michael Denhoff sowie seine ehemaligen Schüler York Höller, Johannes Fritsch, Georg Kröll, Manfred Niehaus oder Dimitri Terzakis. In den »Soldaten« herrscht Pluralismus auch hinsichtlich der Form. Wie Alban Berg in »Wozzeck«, ebenfalls im Soldatenmilieu spielend sowie in Mord und Selbstmord endend, kleidete Zimmermann alle Szenen in historisch-dramatisch sprechende Modelle wie »Ciaconna«, »Ricercari«, »Capriccio« oder »Rondino«. Gleich drei »Toccati« verkörpern, der motorisch-temporeichen Musizierweise dieser Gattung entsprechend, das zügellose Treiben der Soldatenclique. Und drei expressionistische »Nocturni« schildern Stationen der Leidensgeschichte Maries bis zur finalen Menschheitsdämmerung. Im »Nocturno III« ereignet sich endlich die zu Beginn der Oper bereits visionär vorausgesehene Apokalypse: Man hört Geschützdonner, Exerzierbefehle, knallende Marschschritte, Trommelwirbel und abermals den wie auf einer Sklavengaleere gnadenlos voranpeitschenden Paukenschlag. Orchester und Tonzuspielungen verketten sich zu einer alles zermalmenden Knochenmühle. Während sich schließlich per Filmprojektion langsam eine Atomwolke herabsenkt, entringt sich dem Apparat ein letzter entsetzlicher »Schrei-Klang« wie von der Menschheit im Angesicht ihrer Vernichtung.

Als ganz eigenes Drama gestaltete sich die wechselvolle Entstehungs- und Uraufführungsgeschichte der »Soldaten«. 1958 von der Oper Köln in Auftrag gegeben, wurden die bis Anfang 1960 komponierten ersten beiden Akte von der Intendanz jedoch für »unaufführbar« erklärt. Simultanszenen, Film- und Tonzuspielungen sowie die seriell organisierte Partitur stellen tatsächlich immense Anforderungen an Bühne, Technik, Dirigent, Orchester und Vokalisten. Allein schon die riesige Besetzung bereitet jedem Opernhaus Probleme: Verlangt sind 100 Orchestermusiker, davon zehn Schlagzeuger und eine fünfköpfige Jazz-Combo sowie Harfen, Cembalo, Celesta, Klavier und Orgel. Hinzu kommen 16 singende Darsteller, zehn sprechende oder tanzende Darsteller, sowie 18 Akteure eines »Schlagzeug-Chors«. Erst mit der konzertanten Aufführung von drei Szenen im Rahmen der Vokalsinfonie 1963 durch das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester konnte Zimmermann die Aufführbarkeit seiner Oper unter Beweis stellen. Die Kölner Uraufführung 1965 unter Leitung von Michael Gielen wurde in Presse und Öffentlichkeit weithin als epochal wahrgenommenen und für Zimmermann zum Durchbruch. Trotz der Anforderungen des hochdramatischen Werks wird es in aller Welt regelmäßig neu inszeniert. Anlässlich Zimmermanns hundertstem Geburtstags am 20. März gibt es 2018 Neuinszenierungen am Staatstheater Nürnberg (Inszenierung: Peter Konwitschny, Premiere: 17. März) und zum zweiten Mal nach der Uraufführung an der Oper Köln (Regie: Carlus Padrissa/La Fura dels Baus, Premiere: 29. April). Das Teatro Real in Madrid wird jene Inszenierung von Calixto Bieito zeigen, die bereits in Zürich (2013) und Berlin (2014) zu sehen war (Premiere: 16. Mai).


Rainer Nonnenmann lehrt Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, ist Herausgeber der Zeitschrift für Neue Musik »MusikTexte« und Sprecher des Beirats der Bernd Alois Zimmermann-Gesellschaft (BAZG).

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