• Peter Grimes
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Benjamin Britten, Saison 2021/22 (Auszug)
  • S. 25-33

Die Gleichgültigkeit des Meeres

Text: Georg Holzer

In: Peter Grimes, Oper von Benjamin Britten, Saison 2021/22 (Auszug), Staatstheater Nürnberg, S. 25-33 [Programmheft]

Die Musikgeschichte ist so ungerecht wie jede andere Geschichtsschreibung. Und natürlich ist die Überlieferung, zwischen „Dido and Aeneas“ von Henry Purcell 1689 und „Peter Grimes“ von Benjamin Britten 1945 habe es keine englische Oper gegeben, eine grobe Missachtung des Vielen, das in dieser langen Zwischenzeit entstanden ist. Aber wie an jedem Klischee klebt auch an diesem Blick auf die Historie ein bisschen Wahrheit. So musikverrückt die Engländer auch waren und noch immer sind, ihre Opern aus den 250 Jahren zwischen Purcell und Britten waren meist Eintagsfliegen und haben es definitiv nicht ins Repertoire geschafft. Englands erfolgreichster Komponist blieb George Frideric Handel mit seinen italienischen Opern, und auch nach der Wiedergeburt der englischen Kunstmusik in den 1880er Jahren blieben Frederick Delius, Ralph Vaughan Williams und Gustav Holst Randfiguren des Opernlebens. Erst mit einem unbekannten Komponisten von Anfang 30, der vor seiner ersten Opernkomposition gerade einmal eine durchgefallene Operette vorzuweisen hat, wird alles anders: Benjamin Britten ist bis heute der meistgespielte im 20. Jahrhundert geborene Opernkomponist weltweit.

Orpheus britannicus

Trotz einer ansehnlichen Produktivität in verschiedenen Genres – Oratorien, Chormusik, Kammermusik, Lieder und manches mehr – ist Britten von „Peter Grimes“ an in erster Linie als Opernkomponist bekannt geworden. Sein ungewöhnliches dramatisches Talent ist schon in seinem Debüt voll entwickelt: Immer ist er in der Musik Herr über die szenische Situation, komponiert intime Szenen genauso wirkungssicher wie Ensembles oder große Chöre und versteht es vor allem, mit genial einfachen Mitteln Figuren in wenigen Takten zu charakterisieren. So gelingt es ihm, in einer nicht besonders umfangreichen Oper wie „Peter Grimes“ eine ganze Stadtgesellschaft lebendig zu machen und ihre typischen Vertreter für den Zuschauer plastisch hervortreten zu lassen. Das Orchester übernimmt im Gang der Handlung eine kommentierende Funktion, erlangt durch die „Sea Interludes“ und die Passacaglia aber auch eine große Autonomie. Diese Zwischenspiele, die das Meer ebenso beschreiben wie die Menschen, die mit ihm leben, entwickeln eine solche Kraft und Farbigkeit, dass Britten sie später zu einer Konzertsuite zusammenfasste.

Man hat oft versucht, Brittens Kompositionsstil zu beschreiben: Neoklassizismus ist dabei, man hört die Vorbilder Strawinsky und Hindemith; in der Orchesterbehandlung klingt sicher die deutsche und französische Romantik nach, Mussorgsky und vieles, was auf sein Idol Mahler verweist; Freitonalität verwendet er kaum, aber man hört, dass ihm auch solche Verfahren nicht fremd sind. Britten kennt die Musik seiner Zeit genau und verhält sich zu ihr, indem er einen ganz eigenen Stil entwickelt. Sein Lebenspartner, der Sänger Peter Pears, zitiert Britten mit den Worten, „als Folge der Explosionen in der musikalischen Welt der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts“ müsse sich ein moderner Komponist „seine eigene Tradition aufbauen“. Er arbeitet, auch unter Rückgriff auf die englische Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts, an einer Musik, die ihn unverwechselbar macht: verwurzelt in der Landschaft Ostenglands, aber in den Opernhäusern und Konzertsälen der ganzen Welt zu Hause.

Die Geburt der Oper aus dem Heimweh

1939 übersiedeln Britten und Pears für drei Jahre nach Amerika, um sich künstlerisch weiterzuentwickeln, um Bekanntschaften zu machen und um als überzeugte Pazifisten dem Krieg in Europa zu entkommen. Ein Aufsatz über den Dichter George Crabbe (1754-1832) und die Lektüre von dessen Werken nehmen Britten auf eine literarische Reise in die Heimat. In Crabbes großer Verserzählung „The Borough“ treten die Einwohner einer Kleinstadt in der Grafschaft Suffolk an der englischen Ostküste auf, die Fischer, die der See mühsam und unter Lebensgefahr ihren Lebensunterhalt abringen, und die örtlichen Honoratioren. Eine dieser Figuren ist der Fischer Peter Grimes. Schon als Jugendlicher seinem Vater gegenüber gewalttätig, kriminell und dem Bier und dem Glücksspiel ergeben, lässt er seine Aggressionen an Lehrjungen aus, die er sich wie Sklaven aus dem Waisenhaus bestellt. Drei von ihnen kommen unter Peters Quälereien zu Tode, bevor man ihm den Erwerb weiterer Jungen verbietet. Schließlich wird er selbst krank und erzählt im Todeskampf vom Geist des Vaters mit zwei Jungen an der Hand, die ihn verspotten und in den Wahnsinn treiben.

In der Zeit seiner Crabbe-Lektüre erhält Britten das Angebot des Dirigenten Serge Koussevitzky, eine Oper zu schreiben. Britten will ein von Crabbe inspiriertes Textbuch und arbeitet mit dem Dramatiker Montagu Slater, der die Geschichte von Peter Grimes in den Mittelpunkt stellt, um ihn herum aber viele Figuren verteilt, die in anderen Episoden von „The Borough“ vorkommen: die Lehrerin Ellen Orford, der Bürgermeister und Friedensrichter Swallow, der Apotheker Keene und viele andere. Als Hommage an den Dichter erfinden Britten und Slater sogar noch einen Arzt hinzu, dem sie den Namen Doctor Crabbe geben. So wird aus dem epischen Bericht eine dramatische Handlung. Anfang 1944 – Britten und Pears sind längst wieder nach Großbritannien zurückgekehrt – beginnt der Komponist mit der Niederschrift der Partitur, gut ein Jahr später ist sie fertig. Die Uraufführung im Londoner Sadler’s Wells Theatre findet nicht unter idealen Bedingungen statt, denn sowohl das Orchester als auch die Bühne sind zu klein für die große Oper. Trotzdem wird die Uraufführung ein Erfolg. Allen ist klar, dass hier etwas Außergewöhnliches passiert ist. Der Siegeszug von „Peter Grimes“ lässt nicht lange auf sich warten. Schon drei Jahre nach dem Premierenabend in London ist Brittens Opernerstling in vielen Ländern Europas und in den USA über die Bühne gegangen (dort bei Koussevitzkys Tanglewood Festival, geleitet von einem jungen Dirigenten namens Leonard Bernstein, mit dessen Einstudierung Britten nicht ganz zufrieden ist) und ebnet seinem Schöpfer den Weg zu einer Reihe weiterer erfolgreicher Opernkompositionen bis zu Brittens Tod 1976.

Der Außenseiter und die Gesellschaft

Dabei ist „Peter Grimes“ sicher keine leichte Kost, schon gar nicht für ein Europa, in dem in den späten 1940er Jahren die meisten Menschen anderes im Kopf haben als zeitgenössische Opern. Zwar durchzieht die Oper ein gewisser britischer Humor, aber ihre Grundstimmung ist düster: Sie beginnt mit einem toten Kind und endet mit einem toten Titelhelden. Was sich dazwischen abspielt, sind Gefühllosigkeit, Indifferenz und enttäuschte Hoffnungen.

Peter Grimes ist ein Mann, der es seiner Umgebung nicht leicht macht. Er ist ein Einzelgänger und sehnt sich trotzdem nach Gemeinschaft, möchte dazugehören, obwohl er durch sein Wesen und seine Neigungen aus allen Mustern herausfällt. Er hat einen offiziellen und einen wirklichen Lebenstraum. Der offizielle, den er wie ein Mantra vor sich hersagt, ist ein bürgerliches Leben in einem Wohlstand, den ihm reiche Fischzüge verschaffen, und mit Ellen Orford als ehrbarer Frau an seiner Seite. Der wirkliche ist das ausweglose Leben, das er führt, mit Lehrjungen, die er sich aus dem Waisenhaus holt, die er ausbeutet und misshandelt, bis sie sterben. Aber das ist kein Traum, sondern der Abgrund, der sich in ihm auftut. Er kann diesen Albtraum leben und verwirklichen, weil sich für die Jungen als schwächstes Glied in der Kette der menschlichen Gesellschaft niemand interessiert. Man lässt Grimes auch deshalb gewähren, weil man den Außenseiter braucht, um sich selbst besser zu fühlen. Auf Balstrodes Rat, die Stadt zu verlassen und sich an einem Ort anzusiedeln, wo er und seine Probleme noch nicht bekannt sind, reagiert Peter zu Recht entsetzt: Er möchte nicht gehen, er gehört dazu, er hat – und sei es nur als Sonderling und Lieferant von Kleinstadt-Klatsch – seinen Platz in der Gesellschaft. Die Stadtgesellschaft setzt erst zur letzten Jagd an, als sie endgültig nicht mehr wegschauen kann, weil Peter durch den Tod des zweiten Jungen den Bogen überspannt hat und weil Mrs. Sedley nicht müde wird, das Verbrechen anzuklagen.

Täter und Opfer zugleich

Grimes ist – das macht diese Figur so unergründlich – Täter und Opfer zugleich. Peter Pears, der die Partie des Peter Grimes so oft gesungen hat wie vermutlich kein anderer Sänger, hat ihn rückhaltlos verteidigt, als einen, der das Gute will und dem das Böse nur durch die Schuld seiner Umgebung passiert. Daraus entstand ein romantisierendes, sentimentales Grimes-Bild, das viele Inszenierungen der Oper bis heute beeinflusst. Man muss über Schuld reden, wenn man „Peter Grimes“ erzählt, und man darf es sich dabei nicht leicht machen. Die Gesellschaft als Sündenbock – darüber kann man sich schnell verständigen, aber eine zureichende Erklärung ist das nicht.

Denn eigentlich, und das ist die traurige Quintessenz aus „Peter Grimes“, ist die Gesellschaft genauso gefühllos wie die Natur. Britten hat diesen Gleichklang von Meer und Menschen komponiert. Das Meer und der Sturm interessieren sich so wenig für den einzelnen Menschen, wie sich die menschliche Gemeinschaft für das Individuum interessiert. Wer sich nicht selbst helfen kann, findet keine Solidarität. Das Ende der Oper macht das brutal klar: Es herrscht nicht einmal Befriedigung darüber, dass Grimes sich selbst aus dem Verkehr gezogen hat. Es ist letztlich egal. Das Leben geht weiter. Wahrscheinlich findet die Gesellschaft wieder jemanden, über den sie sich erheben kann; Hauptsache, das gewohnte Leben aus Armut, täglichem Kampf und harter Arbeit, Suff und Prostitution kann weitergehen. Über den Fischer Peter Grimes aber rollen die gleichgültigen Wellen des Meeres hinweg. Den Kampf gegen die fürchterlichen Elemente, die in seiner Seele getobt haben, hat er verloren.

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