• Falstaff
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Giuseppe Verdi, Saison 2022/23
  • S. 17-24

Alte Helden

Text: Georg Holzer

In: Falstaff, Oper von Giuseppe Verdi, Saison 2022/23, Staatstheater Nürnberg, S. 17-24 [Programmheft]

Verdi wusste, dass „Falstaff“ seine letzte Oper sein würde. Dass er sie überhaupt noch schreiben konnte, überraschte ihn selbst. Auch wenn er noch lange nicht am Ende seines Lebens angekommen war – nach der Uraufführung von „Falstaff“ 1893 blieben ihm noch sieben Jahre –, glaubte er, dass die Kraft für eine weitere Oper nicht reichen würde. Aber das hatte er schon vor „Otello“ gedacht, und dann war es doch gegangen. Die Zusammenarbeit mit dem Librettisten Arrigo Boito und das geduldige Werben des jungen Verlegers Giulio Ricordi hatten Verdi noch einmal motiviert. Nun wollte er sein Opernwerk mit der dritten Shakespeare-Oper nach „Macbeth“ und „Otello“ abschließen.

Die lebende Legende

Nach dem hochdotierten Erfolg von „Aida“ 1871 war Verdi beides: eine lebende Legende und ein Mann von gestern. Wo immer er auftrat, jubelte man ihm zu, nicht nur in seiner Heimat Italien, wo er längst ein Volksheld war. Das Publikum liebte seine Stücke. Für junge Künstler aber spielte er keine Rolle mehr. Ihr Vorbild war meist nicht der lebende Verdi, sondern der tote Wagner, zumindest in Frankreich und Deutschland. Und auch für die Komponisten des Verismo in Italien war Verdi nicht mehr die Referenz. Sogar Arrigo Boito, der sich später so ins Zeug legte, um Verdis letzter Textdichter zu werden, hatte Verdi einmal in einer Ode als Überbleibsel einer alten Zeit dargestellt. Daran war Verdi selbst nicht ganz unschuldig. Er inszenierte sich als Relikt, kleidete sich in weite Gewänder, die um 1850 modern gewesen waren, sprach gravitätische Sätze darüber, wie wichtig das Studium der Alten Meister sei, und zeigte sich von Richard Wagner und seinen Nachfolgern demonstrativ unbeeindruckt. Er wollte kein Künstler mehr sein, sondern Landwirt auf seinem Gut Sant’Agata. Aber wer diesem Verdi-Bild auf den Leim ging, der hatte sich getäuscht. Verdi hatte im Lauf seiner Karriere einen weiten Weg gemacht, vom noch fest im Belcanto verwurzelten „Nabucco“ über die melodiensatten Opern der „Trilogia popolare“ und dann weiter zu den großen, zu ihrer Zeit durchaus modernen Opern „Don Carlos“ und „Aida“. Mit „Otello“ hatte er noch einmal die stilistische Richtung geändert und die Musikwelt verblüfft. Mit „Falstaff“ war die Überraschung komplett: Ein als humorlos bekannter Komponist hatte eine witzige Oper geschrieben, ein alter Künstler erfand sich ein letztes Mal neu.

Zwei Fossilien

Die Idee, sich an einen „Falstaff“ zu machen, kam von Boito und wurde von Verdi bereitwillig aufgenommen. Dabei war das Komische eigentlich gar nicht sein Fach. Nachdem er als junger Komponist mit der Komödie „Un giorno di regno“ einen fabelhaften Flop produziert hatte, war Verdi der Tragödie treu geblieben. Die großen, tiefen, tragischen Gefühle waren seine Welt, hier konnte seine Musik die extremen Zustände finden, die sie zu ihrer Entfaltung brauchte. Trotzdem war er beleidigt, als Rossini ihm unterstellte, wegen seines melancholischen Temperaments sei er zur Komödie nicht fähig. Vielleicht hatte ihn ja einfach nur nie jemand zu einem heiteren Stoff ermuntert oder verführt? Boito versuchte es und rannte offene Türen ein.

Vielleicht gefiel ihm auch der Held der Komödie. Falstaff war auch so ein Übriggebliebener, einer, der seine Zeit hinter sich hatte. Die Zeit, in der ein Adliger noch mehr galt als ein reicher Bürger, als Saufen und Prassen für einen Mann noch angemessene Beschäftigungen waren, als man mit galanten Lügen heimliche Liebesaffären vorbereitete, als Männlichkeit noch nicht als toxisch galt. Falstaff zelebriert eine Welt, die es nicht mehr gibt. Sie ist ersetzt durch die bürgerliche Welt von Ford und Dr. Cajus, die von Geld und einem strengen Ehrbegriff bestimmt wird. Ein heftiger Kater ist hier nicht der Preis für vorausgegangene Enthemmung, sondern eine unangenehme Störung der Leistungsfähigkeit. Die Welt der Spießer ist langweilig, berechenbar, dumm in ihren ewig gleichen Mustern. Ritter John Falstaff ist in dieser Welt ein Fossil wie Komponist Verdi in der seinen. Nur dass Verdi sich seiner Fossilhaftigkeit zumindest einigermaßen bewusst ist, während Falstaff erst im Lauf des Stücks lernt, dass seine Zeit abgelaufen ist.

Im Pandämonium der Maßlosen

Als überbordende Kunstform hat die Oper ein Herz für die Maßlosigkeit. Meistens sind ihre Figuren maßlos in Liebe oder Hass, in ihrer Gier nach Macht, Reichtum und Unsterblichkeit. Manchmal sind sie aber auch einfach nur maßlos im Saufen, Fressen und Vögeln. Im Pandämonium der Maßlosen gesellt sich Falstaff in der Abteilung der maßlosen Genießer zu Figuren wie Don Giovanni und Ochs aus dem „Rosenkavalier“: Menschen, die soziale Regeln nicht anerkennen und trotzdem nicht asozial sind, weil sie darauf angewiesen sind, von ihrer Umgebung wahrgenommen und anerkannt zu werden. Unter denen ist er allerdings der Sympathischste; er geht nicht über Leichen wie Don Giovanni und hat im Gegensatz zu Ochs eine gewisse Klasse und Weltläufigkeit. Obwohl die lustigen Weiber von Windsor ständig betonen, wie alt, fett und hässlich Falstaff ist und wie schlecht er riecht, kann man sich absolut nicht vorstellen, dass sie sich über seine Liebesbriefe nicht auch freuen. Sicher ist Falstaff kein Traum-Typ (mehr), und außer ihm selbst hält niemand seinen Bauch für schön und unverzichtbar. Aber im Gegensatz zu einem Spießer wie Ford und einem Jammerlappen wie Cajus ist er wenigstens unterhaltsam. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie öde Windsor ohne ihn wäre. Bestraft werden muss er trotzdem, weil Falstaffs Welt eine Welt ohne Regeln ist, die nur für ihn selbst funktioniert.

Falstaff muss sich im Lauf der Oper von der Illusion verabschieden, unwiderstehlich zu sein, was ihm alles andere als leicht fällt. Aber er versteht noch etwas Wichtigeres: Zwar können die Frauen auf seinen alternden Körper und seinen großen Bauch gut verzichten, auf den Provokateur Falstaff jedoch nicht. Denn seine Mitmenschen sind, wie es Falstaff am Ende der Oper sagt, „gente dozzinale“, Dutzendmenschen. Sie sind immer im Recht, und im Recht sein ist langweilig. „Ich bin es, der euch schlau macht, denn meine Schläue fordert die der anderen heraus.“ Nicht nur die Schläue: Ohne Falstaff wäre es undenkbar, dass einer wie Ford einen echten Eifersuchtsanfall bekommt, dass einer wie Dr. Cajus sich mal so richtig besäuft. Er bringt Alice und Meg dazu, eine Intrige zu spinnen und im Wald ein großes Theaterstück mit Handlung und Kostümen zu inszenieren. Wenn es nur darum ginge zu beweisen, dass Falstaff ein unmöglicher Mensch ist, könnte das Stück nach dem 1. Akt zu Ende sein. Nach dem Sturz ins Wasser hat er seine Lektion gelernt. Aber die Frauen lassen ihn nicht in Ruhe, sie müssen ihn auch noch ins Gehölz locken und durchkitzeln. Falstaff ist ihr Entertainer, ihr Mittel gegen Ehefrust und Eintönigkeit. Weil er das weiß, muss er am Ende nicht zur Hölle fahren wie Don Giovanni und wird nicht aus der Stadt gespottet wie Ochs, sondern darf den großen Gesang von der Lächerlichkeit des Menschen anstimmen, in den alle anderen einfallen müssen. Er ist mehr Don Quijote als Don Giovanni, ein Kämpfer gegen die Windmühlen der Seelenlosigkeit der modernen Welt. Begriffe wie Ehre und Moral sind in seinen Augen nur ein Vorwand, um die Menschen vom Genuss des Lebens abzuhalten. Ein Bohemien, der seine Umwelt mit einem alternativen Lebensmodell konfrontiert: Nicht funktionieren, sondern leben! Falstaff ist kein Maler oder Dichter, aber ein Lebenskünstler, der die anderen daran erinnert, den Augenblick zu genießen, keinen Spaß zu verachten und mitzulachen, wenn man ausgelacht wird.

(Zu) hohe Dichtkunst

Arrigo Boito, eine Generation jünger als Verdi, war nicht nur ein hochbegabter Wortkünstler, sondern auch ein guter Komponist, dessen Faust-Oper „Mefistofele“ noch heute hin und wieder auf eine Bühne kommt. Er wusste also, was er einem Komponisten wie Verdi anbieten konnte und musste. Leicht hat er es ihm dabei nicht gemacht. Boitos „Falstaff“-Libretto ist ein literarisches Kunstwerk voller Anspielungen, es finden sich darin unterschiedlichste italienische Versmaße, und es ist umfangreich, vielleicht einfach zu lang für eine musikalische Komödie. Verdi hat darauf reagiert, indem er viele Textpassagen in atemberaubendem Tempo komponierte und die Figuren oft über- und durcheinander singen lässt, was die Verständlichkeit nicht gerade befördert. Es ist viel Wortwitz in dieser Oper, wenn z.B. Falstaff darum bittet, seinen Bauch (l’addomine) zu verschonen, was so klingt, als würde er zu Gott (domine) beten. Boito kramt alte, preziöse Worte hervor, die sich schon lange in keinem Italienisch-Wörterbuch mehr finden, er lässt Falstaff im Alexandriner sprechen, einem Versmaß, das besonders zeremoniell wirkt und dadurch dessen Herkunft aus einer vergangenen Epoche sprachlich illustriert. All das ist einer heutigen Zuschauerin des „Falstaff“ nicht mehr zu vermitteln, auch bei der Uraufführung 1893 dürften es nicht viele begriffen haben. Boitos Verdienst bleibt aber, aus Shakespeares eher zäher Komödie „The Merry Wives of Windsor“ einen flotten Theatertext gemacht zu haben. Er hat viele Figuren gestrichen, ganze Handlungsstränge weggelassen und – das ist vielleicht sein bester Kunstgriff – aus dem dicken Unsympathen einen fast liebenswerten und selbstironischen Outlaw gemacht, dem man einen Opernabend lang sehr gerne zuschaut.

Abschied mit Fuge

Der Erfolg der Uraufführung von „Falstaff“ war gewaltig. Allerdings könnte es sein, dass das Mailänder Publikum seinen alten Helden unbedingt feiern wollte, ganz egal, was es da auf der Bühne sah. Bis heute reicht die Beliebtheit des „Falstaff“, Verdis raffiniertester Partitur, nicht an die seiner anderen großen Opern heran. „ ,Falstaff‘ ist keine Oper mit einkomponierter Beifallsgarantie, sondern ein auch in seiner komischen Überzeichnung beinahe intimes Werk.“ (J. Jansen) In einem intimen Rahmen hätte es Verdi auch lieber gesehen, aber seine Prominenz forderte eine Aufführung im großen Teatro alla Scala. Sicher ist „Falstaff“ kein erhabenes,  einschüchterndes Werk. Auch deshalb ist es irreführend, wenn oft behauptet wird, Verdi habe sich in seinem Spätwerk dem Antipoden Wagner angenähert – der heitere, verspielte Gestus des „Falstaff“ ist von Wagner meilenweit entfernt.

Schon 40 Jahre vor der Komposition des „Falstaff“ hatte Verdi, als er den „Troubadour“ schrieb, von einer durchgehenden Form geträumt und sich ein Ende der Nummernoper gewünscht. Erreicht hat er dieses Ziel erst in „Otello“ und noch mehr in „Falstaff“. Im „Falstaff“ gibt es mehr melodische Einfälle als in den meisten anderen Verdi-Opern, aber hier ruht Verdi sich nicht auf ihnen aus, entwickelt sie nie bis zur großen Arie, reißt sie meist nur kurz an und lässt sie wieder verschwinden. Und wenn es doch einmal zu einer Arie kommt, ist sie schneller vorbei, als das Publikum in ihr schwelgen kann. Diese Methode verweist weniger zurück auf Wagner als voraus auf Puccini, der die Arie nicht verachtet, aber immer kurz gehalten hat. Mit hörbar viel Spaß baut Verdi Zitate aus eigenen früheren Opern in den „Falstaff“ und zeigt damit die gleiche Selbstironie wie sein dicker Held am Ende der Oper.

Überhaupt: das Ende. Verdi beschließt seine letzte Oper mit einer Fuge, unter den wenigen Fugen der Operngeschichte wahrscheinlich die berühmteste. Die Fuge als strengste und komplizierteste musikalische Form wird durch den Text „Alles auf der Welt ist nur Spaß“ ironisch kontrastiert. Der hochbegabte Musiker Verdi hatte nie ein Konservatorium besucht, wurde von dem in Mailand sogar abgelehnt, und war also nie in den Genuss eines akademischen Kontrapunkt-Paukens gekommen – mit der Fuge als Schlusspunkt eines legendär erfolgreichen Komponisten-Lebens macht er sich auch über die Kompositionsprofessoren lustig, die meist nur musikalisches Mittelmaß ausbilden. Und damit, dass Falstaff diese letzte Fuge anstimmen darf, gibt er ihm das letzte Wort. Falstaff ist der, der zuletzt lacht.

Giuseppe Verdi kam aus einer Zeit, in der Oper eine aktuelle Kunst war, in der Stücke noch nicht kanonisiert wurden, sondern schnell verschwanden und durch neue ersetzt wurden. Die Idee eines klassischen Repertoires, wie wir es heute kennen, setzte sich erst in Verdis letzten Lebensjahren langsam durch. Wahrscheinlich hätte es ihn gewundert, wenn man ihm vorhergesagt hätte, dass seine Opern noch 120 Jahre nach seinem Tod das Rückgrat des Opern-Repertoires bilden würden. Verdi wollte auf andere Weise unsterblich werden und gründete mit seinem großen Vermögen die Casa di riposo für alte Künstlerinnen und Künstler in Mailand. Dieses Haus war sein Vermächtnis, nicht „Falstaff“. Aber „Falstaff“ war der Rat eines sehr ernsten Mannes an die Nachwelt, das Leben nicht zu ernst zu nehmen. Darin liegt bis heute der Charme dieser Oper.

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