• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • März / April 2023
  • S. 6-7

Premiere Elektra

Psychogramm einer verletzten Seele

Text: Konrad Kuhn

In: Magazin, März / April 2023, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]

»Wer sich die Entstehung der Traumbilder nicht zu erklären weiß, wird sich auch um das Verständnis der Phobien, Zwangs- und Wahnideen, eventuell um deren therapeutische Beeinflussung, vergeblich bemühen.« Das schreibt Sigmund Freud in der Vorbemerkung zu seinem 1900 in Wien und Leipzig erschienenen epochemachenden Buch Die Traumdeutung. Und kommt 600 Seiten später zu der Schlussfolgerung: »Das Unbewusste ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewusstseins in sich einschließt. […] Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische.« Der Königsweg zum Unbewussten aber ist der Traum.

Etwa um dieselbe Zeit sind zwei Wiener Literaten ähnlichen Erkenntnissen auf der Spur und verleihen ihnen in ihren Werken Ausdruck: der Arzt und Autor Arthur Schnitzler, der zum Beispiel in seiner Traumnovelle dem Wirken des von Trieben gesteuerten Unbewussten nachgeht, und der Dichter Hugo von Hofmannsthal. Ist es Zufall, dass Freud für seine Beschreibung der frühkindlichen Erfahrung der eigenen Geschlechtlichkeit beim Mann auf den antiken Ödipus-Mythos zurückgreift, während Hofmannsthal sowohl den Ödipus als auch die Elektra des Sophokles in neuer Form auf die Bühne bringt?

Extreme Zustände

Schon 1895 hatten Freud und sein Kollege Josef Breuer ihre Studien über Hysterie veröffentlicht. Hofmannsthals Tragödie Elektra, uraufgeführt 1903, liest sich streckenweise wie eine Illustration der Befunde über verschiedene klinische Fälle, die die beiden Psychiater notiert hatten. Rückhaltlos richtet Hofmannsthal den Blick auf die extremen Zustände seiner Hauptfigur, streicht alles andere weg und leuchtet tief in deren Psyche hinein. In Gertrud Eysold fand Regisseur Max Reinhardt eine Darstellerin, die Hofmannsthals Entwurf voll und ganz gerecht wurde. Mit ungeheurer Expressivität und bis dahin ungekannten darstellerischen Mitteln stürzte sie sich in die Rolle.

Davon hingerissen war auch Richard Strauss, der Reinhardts Inszenierung im Berliner Kleinen Theater sah. Und sofort von dem Wunsch beseelt war, »dieses dämonische, ekstatische Griechentum des 6. Jahrhunderts Winckelmannschen Römerkopien und Goethescher Humanität entgegenzustellen.« Zunächst brachte er jedoch 1905 seine Salome zur skandalumtobten Uraufführung; und zögerte, sich anschließend dem Elektra-Stoff zuzuwenden, da er ihm vom »psychischen Inhalt« her zu nah verwandt mit dem Drama Oscar Wildes erschien. Doch dann überwand der Komponist seine Zweifel und tauchte ein in Hofmannsthals Tragödie, die er sich zunächst selbst für die Vertonung einrichtete. Im Zuge der Arbeit formulierte er diverse Wünsche; vor allem für die zentrale Szene zwischen Orest und Elektra bat er den Dichter, ihm mehr Text zu liefern, und Hofmannsthal kam den Bitten nach. Es war der Beginn einer Zusammenarbeit, wie sie an Intensität und Dauer, aber auch, was die Einzigartigkeit der Resultate betrifft, in der Geschichte der Gattung Oper ihresgleichen sucht.

Grenzen der Harmonik

Hatte schon Hofmannsthal die Psyche Elektras radikal in den Fokus gerückt, so dringt Strauss durch seine Musik noch tiefer in deren Seelenleben vor. Mit ungeheurer Wucht und in kühnen Harmonien macht das großbesetzte Orchester erlebbar, wie die junge Frau in immer neuen Schüben von ihren Rachefantasien überrollt und in den Ausnahmezustand getrieben wird. So avancierte musikalische Mittel wie in Salome und, mehr noch, Elektra hat Strauss später nie wieder angewandt – wie er selbst in der Rückschau festhält: »Beide Opern stehen in meinem Lebenswerk vereinzelt da: Ich bin in ihnen bis an die äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie (Klytämnestras Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.«

Von den ersten Orchesterklängen, die den Namen des im Stück stets präsenten, aber als singende Figur nicht auftretenden Agamemnon wie ein Aufschrei zu skandieren scheinen, bis zu dem todessehnsüchtigen, katatonischen Tanz, in den Elektra fällt, wenn sie am Ende ihren Daseinszweck, die Sühne für den Mord am Vater, erfüllt sieht, gleicht die Oper einer einzigen, sich immer weiter steigernden Klangwoge, von der das Publikum förmlich überflutet wird.

Regisseur Claus Guth, der mit Daphne und Der Rosenkavalier bereits zwei Strauss-Opern exemplarisch auf die Frankfurter Bühne gebracht und weitere Hauptwerke wie Salome, Ariadne auf Naxos und Die Frau ohne Schatten an den Opernhäusern von Zürich, Mailand, London, Berlin und Moskau inszeniert hat, treibt das vom Gespann Hofmannsthal-Strauss vorgegebene Eindringen in die Psyche der Titelfigur noch weiter. Dabei lotet er aus, welches die möglicherweise in der Familiengeschichte liegenden Gründe dafür sein könnten, dass diese Seele so tief verletzt ist.

In seiner Deutung entsteht eine traumartige Atmosphäre, in der wir als Zuschauer nicht mehr genau unterscheiden können: Was sind die Bilder, die Elektra heimsuchen, und was die realen Vorgänge, mit denen sie konfrontiert ist? Existiert Orest, der so sehnsüchtig herbeigesehnte Bruder? Geschieht hier tatsächlich ein Doppelmord? Im Bühnenbild von Katrin Lea Tag entfaltet sich vor unseren Augen ein Vexierspiel, dessen Sog wir uns ebenso wenig entziehen können wie der Suggestivkraft der überbordenden Musik.
 



ELEKTRA
Richard Strauss (1864–1949)

Tragödie in einem Aufzug / Text von Hugo von Hofmannsthal nach Sophokles / Uraufführung 1909, Königliches Opernhaus, Dresden / In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

PREMIERE Sonntag, 19. März
VORSTELLUNGEN 24. März / 1., 7., 16., 21. April / 1., 5. Mai

MUSIKALISCHE LEITUNG Sebastian Weigle INSZENIERUNG Claus Guth BÜHNENBILD Katrin Lea Tag KOSTÜME Theresa Wilson LICHT Olaf Winter CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Konrad Kuhn

ELEKTRA Aile Asszonyi KLYTÄMNESTRA Susan Bullock CHRYSOTHEMIS Jennifer Holloway AEGISTH Peter Marsh OREST Kihwan Sim DER PFLEGER DES OREST Franz Mayer EIN JUNGER DIENER Jonathan Abernethy EIN ALTER DIENER Seungwon Choi DIE AUFSEHERIN Nombulelo Yende° FÜNF MÄGDE Katharina Magiera, Helene Feldbauer°, Bianca Andrew, Barbara Zechmeister, Monika Buczkowska