- Foyer5
- Landestheater Linz
- #27 | April-Juni 2023, Gemeinsam feiern!
- S. 10-13
Das Musiktheater in Linz als Spielstätte der Gegenwart
Text: Hermann Schneider
In: Foyer5, #27 | April-Juni 2023, Gemeinsam feiern!, Landestheater Linz, S. 10-13 [Publikumszeitschrift]
In einem bemerkenswerten Brief berichtet der Kompositionslehrer Beethovens, Johann Georg Albrechtsberger, seinem Schüler, er sei in einem „denkwürdigen“ Konzert gewesen, dort – so Albrechtsberger – habe man ausschließlich die „Musik von Toten“ gespielt. Wie war das gemeint?
Bis in das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts bestanden die Konzertprogramme und Spielpläne der Opernhäuser so gut wie ausnahmslos aus Werken lebender Komponisten, wenn es sich nicht ohnehin um Erst- oder Uraufführungen handelte. Heute – betrachten wir das Gros der Opernspielpläne – ist das Albrechtsberger‘sche Konzertprogramm der Standard.
Um 1830 gab es dann eine für uns Rückblickende möglicherweise nur wenig wahrnehmbare Zäsur –: eine kulturgeschichtliche Epochenschwelle, deren fundamentaler Paradigmenwechsel bis heute nachwirkt. Äußerlich ganz unterschiedliche Ereignisse markieren diese Bruchstelle: Goethes Tod 1832, die Wiederaufführung der Bach’schen Matthäus-Passion 1829 in Leipzig oder 1835 die Veröffentlichung der „Vorlesungen zur Ästhetik“ von G.W.F. Hegel, die dieser in den 1820er Jahren gehalten hatte. In diesen Vorlesungen apostrophiert Hegel das „Ende der Kunst“. Kunst, so Hegel, ist neben der Religion und der Philosophie einer der drei „Aggregatzustände“ von Wahrheit und deren Vermittlung. Durch die kunstgeschichtliche Entwicklung über die Jahrhunderte habe man mit der sog. „Romantischen Kunst“ einen Endpunkt erreicht, an dem diese Vermittlungsleistung nicht mehr möglich ist, vereinfacht gesagt, durch ein entstandenes Missverhältnis zwischen Inhalt und Form zugunsten der letzteren. Nun wurde die Kunst autonom nicht nur ökonomisch oder sozialgeschichtlich, sondern auch durch eine so gewonnene Entlastung von der o.g. Vermittlungsleistung. Die Künste waren oder mussten nicht mehr „schön“ sein, die so veränderte ästhetische Erfahrung – man denke an Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung“ – diente keinem Erkenntnisgewinn mehr. Insofern war dies ein Endpunkt.
Gleichzeitig erwachte – auch durch Hegel in seiner Geschichtsphilosophie – in eben dieser Romantik ein historisches Bewusstsein; man entdeckte sozusagen die Kunst der Toten, der vergangenen Epochen; dies wurde besonders deutlich in der Dombaubewegung, als man die gotische Architektur als Inbegriff auch des Nationalen deutete, die Rekonstruktion bzw. Vollendung des Kölner Doms, der seit 1248 eine Bauruine war, als Vermächtnis und (kultur)politischen Auftrag empfand; Heinrich Heine, anfangs ein glühender Verfechter der Idee, hat sich später mit beißendem Spott davon abgewandt. Durch die Brüder Grimm entstand die Literaturgeschichte, zunächst als Feldforschung in der Sammlung von Texten, dann als Entwicklung einer Methodik von Sprachkunde und Etymologie im Jahrhundertprojekt des „Wörterbuchs der Deutschen Sprache“. Gegenwart wurde sukzessive zum Surrogat der Vergangenheit, eine Entwicklung, die baugeschichtlich zwei Generationen später in den sog. Historismus mündete, über dessen Wert Nietzsche in seiner „unzeitgemäßen Betrachtung“ über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben räsonierte.
Musikgeschichtlich – siehe Mendelssohns Bemühen um Johann Sebastian Bach – beschritt man einen ähnlichen Weg, große Ausgaben wie die „Denkmäler deutscher Tonkunst“ entstanden wie auch ein historisches Bewusstsein für Kompositionstechniken der Vergangenheit (man denke an die sog. „Prügelfuge“ in den Meistersingern).
Diese Entwicklungen haben sich seither mehr und mehr verselbständigt, die Vergangenheit wurde zum Maß aller Dinge. Die Kriege des Zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch die neuen Techniken der Maschinen und audiovisuellen Kommunikation führten ästhetisch zu einer Tabula Rasa – im Bauhaus oder im Futurismus der 1920er Jahre, im Avantgardebegriff der Darmstädter Schule oder durch den sog. „Existenzialismus“. Gewisse Gegenströmungen, nicht als Anti-Moderne, sondern als Post-Moderne, überwanden wiederum die mögliche Geschichtslosigkeit eines erstarrten Avantgarde-Begriffs.
Und dann baut man ein neues Opernhaus zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Die „Oper sei tot“ (man denke an Albrechtsberger und Hegel), schwadronierte Anfang der 1960er Jahre der Komponist Pierre Boulez in einem berühmt gewordenen Interview, man solle daher „die Opernhäuser in die Luft sprengen“; dass derselbe Pierre Boulez später in allen großen Opernhäusern als Dirigent reüssierte, ist nur einer von vielen musikgeschichtlichen Treppenwitzen der Avantgarde …
Ein Opernhaus in Linz also, das gerne als „modernstes in Europa“ apostrophiert wird. Modern ist das Gebäude gewiss nicht: Architektur, Materialien, Zuschauerraum, alles das spielt eher im Sinn der Postmoderne mit den Erfahrungen aus der Geschichte und den traditionellen Aufführungspraktiken. Sei’s drum, es ist ein wunderschöner und eben praktikabler konventioneller Bau, ein „Best of“ der Opern hausarchitektur der letzten 20 Jahre, den Publikum wie Künstler:innen und Theaterleute mehr als annehmen, ja inzwischen in ihr Herz geschlossen haben.
Doch das Gebäude ist nur eine Hülle, ein Mittel zum Zweck. Und der Zweck, die Aufführungspraxis von Musiktheater, ist sehr wohl durch die Idee der Moderne geprägt. Dieses Opernhaus soll daher eben nicht den obengenannten Standard eines Spielplans mit „Musik von Toten“ bedienen; im Gegenteil: Aus dem Faktum des Neubaus und der kulturpolitischen Bedeutung dieser Tat leiten wir die Verpflichtung zu einer „Linzer Dramaturgie“ ab, die die Vergangenheit und die Gegenwart in einen lebendigen Prozess und einen ästhetisch relevanten Dialog bringen soll.
Was bringen wir zur Aufführung, wenn die durch sie ausgelöste ästhetische Erfahrung heute anders bewertet wird, als zu der Zeit, in der die meisten der Opern entstanden, die wir aufführen? Nun, zum einen hat sich unsere Zeit inzwischen der Vergangenheit auf tragische Weise wieder angenähert, indem Seuchen und Krieg auch in Europa wieder Gegenwart geworden sind. Und zum anderen gelingt die Vermittlung von Erkenntnis durch Kunst, um nochmals Hegel zu bemühen, nicht durch schlichte Aktualisierung und Verpackung einer Inszenierungspraxis.
Prüfstein ist und bleibt damit das Werk der Gegenwart, wie sehr es auch auf der Vergangenheit fußen mag, das ist authentisch und autochthon, weil das Bewusstsein für die eigene Zeit hier in Wort und Ton gefasst ist. Mit Philip Glass‘ Spuren der Verirrten wurde folgerichtig das neue Musiktheater in Linz eröffnet, und viele, viele Erst- und Uraufführungen in Oper, Musical und Tanz folgten.
Dabei stehen manche Werke in Ur- und Erstaufführungen für sich, aber wir bringen im Linzer Musiktheater – analog zum Konzertprogramm – das Werk der Vergangenheit mit dem der Gegenwart in einen Dialog, wie beispielweise Beethovens Fidelio mit Turnages Twice Through the Heart.
Und die „Musik der Toten“ konzertiert mit der der Lebenden im Musiktheater Linz, um in die Zukunft zu klingen, damit wir aus Geschichte und Gegenwart vielleicht doch über das Ende der Kunst hinaus eine Gewissheit haben für uns: die Idee einer besseren Welt, die im Musiktheater ein Zuhause hat.
Es dürfte weltweit wohl kaum ein Musiktheater geben, an dem in den zurückliegenden Jahren so viele Komponist:innen der Gegenwart aufgeführt worden sind und werden wie u. a.:
Peter Androsch, George Antheil, William Bolcom, Benjamin Britten, Alois Bröder, John Cage, Luigi Cinque, Christian Diendorfer, Moritz Eggert, Philip Glass, Peggy Glanville-Hicks, Walter Haupt, Wilfried Hiller, Jasmina Mitrušić, Michael Obst, Valentin Ruckebier, Kaija Saariaho, Kurt Schwertsik, Marijn Simons, Gerhard Stäbler, Mike Svoboda, Manfred Trojahn, Mark-Anthony Turnage, Erich Zeisl
demnächst Krzysztof Penderecki, Reinhard Febel, Franz Hummel, Susan Oswell … vivant sequentes!
Biennal Zusammenarbeit mit der Kompositionsklasse für experimentelles Musiktheater von Prof. Carola Bauckholt an der Anton Bruckner Privatuniversität
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