• Figaros Hochzeit
  • Staatstheater Nürnberg
  • (Le nozze di Figaro). Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Saison 2022/23
  • S. 23-28

Menschen im Augenblick

Text: Georg Holzer

In: Figaros Hochzeit, (Le nozze di Figaro). Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Saison 2022/23, Staatstheater Nürnberg, S. 23-28 [Programmheft]

In der Kunst darf das Leben eigentlich nicht weitergehen. Wenn das Liebespaar nach vielen Verwicklungen und Widerständen endlich zueinander gefunden hat und der Hochzeitstermin angesetzt ist, müssen die Leser oder Zuschauer sich ausblenden. Schließlich wollen wir lieber nicht wissen, was jetzt fast zwangsläufig kommen müsste: erste Unstimmigkeiten, Ärger über die schlechten Gewohnheiten des anderen, Streit, schreiende Kinder, Entfremdung und Midlife Crisis. All das ist im 18. Jahrhundert – und in den populären Künsten bis heute – noch kein Thema für die Komödie. Umso erstaunlicher, was der adlig gewordene Uhrmacher Beaumarchais den Parisern im Jahr 1784 präsentiert: „La folle journée ou le mariage de Figaro“ („Der verrückte Tag oder Figaros Hochzeit“) ist die Fortsetzung seiner Erfolgskomödie „La Précaution inutile ou le Barbier de Séville“ („Die nutzlose Vorsicht oder Der Barbier von Sevilla“) von 1775. Damals hatte man den jungen Grafen Almaviva gesehen, der in die schöne Rosina verliebt war, sie aber nur mithilfe seines tatkräftigen und einfallsreichen Dieners Figaro aus den Fängen ihres eifersüchtigen Vormunds Bartolo befreien und heiraten konnte. Nun bekommt das Publikum ein Stück geboten, das man heute als „Sequel“ bezeichnen würde und das uns befremdlicherweise erzählt, wie die Geschichte des Traumpaars sich fortsetzt. Wir sehen das Schloss des Grafen und seine Bewohner ein paar Jahre nach der Hochzeit. Zwischen den Eheleuten stimmt es nicht mehr. Der Graf geht auf die Jagd, nicht nur nach Damwild, sondern auch nach einer jungen Frau. Seiner Gattin gegenüber ist er darum aber nicht weniger eifersüchtig. Die Situation, in der sich Gräfin Rosina befindet, muss ihr bekannt vorkommen. Wieder ist sie, wie schon im Haus des Don Bartolo, von einem Mann eingesperrt. Damals hat Almaviva sie befreit, nun ist er ihr Gefängniswärter. Wer wird jetzt kommen? Und gibt es jemanden, der ihr die scheinbar verlorene Liebe ihres Mannes zurückbringt?


Revolution in der Luft

Pierre Augustin Caron de Beaumarchais (1732-1799) hat eine Biografie, wie sie in der Geschichte des 18. Jahrhunderts immer mal wieder aufscheint und die zeigt, dass in der Zeit vor der Französischen Revolution bei aller politischen und gesellschaftlichen Verkrustung für den einzelnen Bürger vieles möglich war, wenn er es nur entschlossen genug versuchte. Beaumarchais, Sohn eines Uhrmachers, schafft es durch geschickte Heiraten und exzellenten Geschäftssinn, in den Adel aufzusteigen. Er konstruiert Uhren und Instrumente, gibt den Königstöchtern Harfenunterricht, schreibt, komponiert, wird Hofbeamter, Richter, Voltaire-Herausgeber und Geheimagent, Anhänger der Revolution, dann Emigrant und schließlich gefeierter Rückkehrer. Ein Lebenslauf, der an Wechselfällen vielleicht dem eines Giacomo Casanova oder auch Mozarts Librettisten Lorenzo Da Ponte vergleichbar ist. Beaumarchais benutzt das Werte-Vakuum des Ancien Régime, um aufzusteigen, muss aber auch erkennen, dass für ihn als bürgerlich Geborenen der Aufstieg seine Grenzen hat. Ihn deshalb zu einem Vorboten der Revolution zu erklären, wie es angeblich sogar Napoleon getan haben soll, wäre aber unangemessen. Dass in Beaumarchais’ Stücken die einfachen Leute schärfer denken und entschlossener handeln als die Adligen, ist ein Komödiengesetz, das in Europa schon seit Jahrhunderten gilt. Schon die Harlekin- und Colombina-Figuren der Commedia dell’arte haben ihre Herren korrigiert und deren verstiegene Ansichten auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Im 18. Jahrhundert versuchen Dramatiker wie Marivaux und Goldoni, die Charaktere der Commedia in moderne Volksstücke zu überführen und sie von Klischees zu befreien. Beaumarchais steht sehr deutlich in dieser Tradition. In „Figaros Hochzeit“ geht es um willkürliche Machtausübung und darum, wie man sich gegen sie wehrt. Doch hier wird kein Umsturz vorbereitet, sondern wir sehen Figuren, die um ihr persönliches Glück ringen. Man sieht das an Figaros vermeintlichem Kampf gegen das „ius primae noctis“, das „Recht der ersten Nacht“. Tatsächlich will der Graf nicht dieses alte feudale Recht des Herren, seine Untergebene vor ihrer Hochzeit als erster zu beschlafen, wieder einführen; er will einfach nur mit Susanna ins Bett, weil er sie liebt. Dass Figaro ihm den Rückfall in alte Gebräuche unterstellt, ist eine Propagandalüge, um den Rest der Dienerschaft hinter sich zu bringen. Figaro wehrt sich mit Geschick dagegen, dass ihm Hörner aufgesetzt werden – die Revolution wird hier nicht vorbereitet. Die Haltung der französischen (und dann auch der österreichischen) Zensurbehörden macht deutlich, dass sie das im Prinzip auch schon so sahen: Zwar wurde das Stück zunächst verboten – als Almaviva wollte sich der Adel dann doch nicht dargestellt sehen –, aber nach einigen Jahren dann doch genehmigt. Man hielt sein revolutionäres Potenzial für überschaubar.


Mozart und die Opera buffa

Es ist ein beliebtes Klischee der Musikgeschichte, Mozart zum verkannten Genie zu erklären. Sicher ist er von seinen Zeitgenossen nicht in seiner ganzen Bedeutung erkannt worden, aber wie wäre das möglich gewesen? Immerhin gab es eine Reihe wichtiger Kollegen und Kenner, die ihn als einen der größten lebenden Komponisten schätzten, und auch beim Publikum waren seine Werke beliebt. Seine Opern schrieb er nicht nur gekonnt in den Konventionen seiner Zeit – so seine „opere serie“, die ernsten Opern –, sondern er leistete mit seiner „Entführung aus dem Serail“ (die zu Lebzeiten sein größter Erfolg war) auch einen entscheidenden Beitrag zur Oper in deutscher Sprache. Doch war die italienische Oper zu seiner Zeit so beherrschend, dass er sich auf diesem Feld hervortun musste, wenn er als einer der großen Opernkomponisten gelten wollte.

Darin jedoch herrschte in Wien die italienische Fraktion: Paisiello, Salieri, Cimarosa und der in Italien ausgebildete Spanier Martín y Soler. Diese Komponisten stehen unter dem Schutz des Musik liebenden Kaisers Joseph II., der auch Mozart nach Kräften fördert. Ein Problem haben alle gemeinsam: Es ist sehr schwer, geeignete Textbücher als Opernvorlagen aufzutreiben. So ist es für Mozart eine glückliche Fügung, dass er über den Grafen Raimund Wetzlar den gerade nach Wien gekommenen Lorenzo Da Ponte kennen lernt, der ihm ein „Opernbüchel“ verspricht. Aus der Begegnung der beiden Männer werden drei der berühmtesten Opern aller Zeiten entstehen: nach dem „Figaro“ noch „Don Giovanni“ und „Così fan tutte“. Dabei sieht gerade der „Figaro“ mit seinen schnellen und wendungsreichen Dialogen nicht wie ein ideales Opernlibretto aus. Aber Da Ponte trifft mit seinem Ton Mozarts musikalische Gedanken: Der Witz der Sprache und der der Musik doppeln sich nicht, sondern ergänzen einander in vielfältiger Weise.


Ein Stück à la mode

Einen so aktuellen Stoff zu vertonen, ist zu dieser Zeit einigermaßen ungewöhnlich. Gerade erst ist „Le Mariage de Figaro“ überhaupt nach Deutschland gekommen. Das Stück hat, nachdem es aus politischen Gründen ein paar Jahre lang in Beaumarchais’ Schublade herumgelegen hat, 1784 in der Comédie-française eine triumphale Uraufführung erlebt und ist dann schnell nach Deutschland gekommen. Schon 1785 liegt es in einer deutschen Übersetzung vor und wird in Wien von Schikaneders Truppe auf die Bühne gebracht. Auch hier ist es kurzzeitig verboten, weil es Kaiser Joseph umstürzlerisch vorkommt, wird dann aber zu einem großen Erfolg. Mozart und Da Ponte sind sich sicher, hier die ideale Vorlage für ihre Opera buffa zu finden. Mozart nimmt bei der Komposition, wie sein Vater berichtet, „vier Stufen auf einmal“, schon am 1. Mai 1786 wird die Oper im Burgtheater uraufgeführt. Der Beifall des Publikums ist so gewaltig, dass Joseph II. ab der zweiten Vorstellung die Wiederholung der Ensembles verbietet (solistische Arien dürfen weiter wiederholt werden), um das Spektakel, das sowieso schon beinahe vier Stunden dauert, nicht noch zu verlängern.


Wünsche, die nicht passen

Die Typen der alten Volkskomödie, die den Wienern gut vertraut sind, hat Beaumarchais in seiner Mariage de Figaro noch durchscheinen lassen: der mächtige, aber im Irrtum befangene Herr (Graf Almaviva); das kluge Dienerpaar, wobei sie noch ein bisschen pfiffiger ist als er (Susanna und Figaro); der halbwüchsige übererotisierte Müßiggänger (Cherubino); der zwanghafte und beschränkte Advokat (Don Bartolo); die komische Alte (Marcellina); der intrigante Musiklehrer (Don Basilio). Aber sie sind keine Typen mehr. Sie sind echte, liebenswerte, manchmal niederträchtige, charaktervolle Personen. „Figaros Hochzeit“ ist die „realistische“ von den drei Opern, die Mozart und Da Ponte geschaffen haben. Kein „steinerner Gast“ aus der Unterwelt wie im „Don Giovanni“, auch keine Verwechslungskomödie wie in „Così fan tutte“, sondern eine Gruppe von Menschen, die um ihr Glück und ihre Zukunft kämpfen. Dass die Figuren so lebendig sind, liegt auch daran, dass sie sich nicht festlegen lassen. Eine Figur „ist“ nicht so oder so, sondern sie verhält sich so, wie es ihr in der jeweiligen Situation angemessen scheint. Dieses Denken von der Situation, vom Augenblick her, das ja auch unser tägliches Leben bestimmt, ist der große und wunderbare Realismus Mozarts und Da Pontes.

Man muss die Figuren des Stücks mögen und ernst nehmen in dem, was sie versuchen, um das Leben zu bekommen, das sie sich wünschen. Bei Susanna, Figaro, der Gräfin und Cherubino ist das nicht schwer. Aber man muss auch dem Grafen gerecht werden in seiner Eifersucht und seiner Verliebtheit, die ihn blind macht. Auch Figuren wie Basilio, der einsam ist und an den Abenteuern der anderen wenigstens ein bisschen teilhaben will, wie Curzio, der einfach gerne Verträge machen will, um gut zu verdienen, an Bartolo, der sich vielleicht freut, plötzlich eine Frau und einen Sohn zu haben, aber von diesen Gefühlsaufwallungen eben überfordert ist, wie Antonio, der es einfach nicht mag, wenn jemand in seinen Blumenbeeten herumtrampelt oder sein Alkoholproblem öffentlich macht. Es gibt keinen „Bösen“ in „Le nozze di Figaro“, sondern nur Wünsche, die manchmal nicht zueinander passen. Und das nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch in ihrem Innern. Denn das, was wir tun, entspricht nicht immer dem, was wir wirklich wollen.

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