- La Cenerentola
- Staatstheater Nürnberg
- (Das Aschenputtel). Oper von Gioacchino Rossini, Saison 2022/23
- S. 25-34
„Ohne Scheu und Angst wird es besser“
Corinna Scheurle, Thomas Wedel (Leiter der Werkstatt für behinderte Menschen in Boxdorf), Jan Philipp Gloger und Georg Holzer sprechen über die Nürnberger „Cenerentola“
Text: Georg Holzer
In: La Cenerentola, (Das Aschenputtel). Oper von Gioacchino Rossini, Saison 2022/23, Staatstheater Nürnberg, S. 25-34 [Programmheft]
GH: Es gibt in unserer Gesellschaft sehr viele Menschen mit Behinderung. Haben Sie den Eindruck, dass sie angemessen wahrgenommen und repräsentiert werden?
TW: Es wird besser. Das liegt auch an der UN-Behindertenrechtskonvention, die immer wieder Thema ist. Aber wir sind noch weit davon entfernt, dass die Begegnung mit behinderten Menschen normal wäre. Die Generation, die jetzt nachkommt, traut sich mehr, ist präsenter. Ich habe inzwischen viele Anfragen von Menschen, die von Kindheit an inklusiv beschult wurden. Das Problem ist der Sprung in den Arbeitsmarkt. Solange der Staat sich kümmert, funktioniert das, aber auf dem Arbeitsmarkt könnte durchaus mehr passieren. Meine Erfahrung ist, dass die persönliche Begegnung das Wichtigste ist, damit Behinderung nichts Abstraktes ist, sondern es um Menschen mit Namen und einer Geschichte geht. Wenn wir die Scheu und die Angst wegkriegen, wird es auf jeden Fall besser.
GH: Wie bist du darauf gekommen, unsere Cenerentola mit einer Körperbehinderung zu versehen?
JPG: Theater ist ein Ort, wo man sich Menschen und ihren Konflikten, ihren sozialen Konflikten aussetzt und ihnen näher kommt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Ausschlussmechanismen wirken. Die werden aber nicht sichtbar, wenn wir diese Geschichten nicht erzählen. Das war ein Grund, der mich bewogen hat, Cenerentola mit einer angeborenen Gehbehinderung zu zeigen. Der andere war, dass wir eine Entsprechung für Rossinis Kosmos finden wollten in einer auf glatte, genormte Schönheitsideale fixierten Welt. Wo sind die Menschen, die bei einer Casting-Show von vornherein ausgeschlossen sind, in der es um die perfekte Oberfläche, ums Tanzen, ums Laufen auf High-Heels geht? Diese Shows produzieren eine Menge von Exklusion, aber ganz speziell gegenüber denjenigen, die eine Behinderung haben
GH: Im Stück ist es wichtig, dass sie unbedingt tanzen gehen will, also das, was sie gerade am wenigsten kann.
JPG: In unserer Inszenierung will sie „ballare“, also feiern gehen. Sie möchte Teil dieser Casting-Show-Welt sein, kapiert aber auch zunehmend, dass das ein ziemlich idiotisches Unterfangen ist. Aber dann möchte sie dableiben, weil sie sich in diesen spannenden Techniker verliebt hat, der auch ausgeschlossen ist, denn die Techniker dürfen auch nicht auf die Bühne und werden rumgescheucht. Es gibt verschiedene Grade von Ausgeschlossen-Sein, die in diesem Stück übereinander liegen.
CS: Ich übersetze das „ballare“ für mich mit „ich will auch dabei sein“, aber letztlich ist es nur der junge Mann, der sie interessiert.
JPG: Wir wollten nicht eine Frau mit einer Gehbehinderung zeigen, die davon träumt, übers Parkett zu schweben. Sie hat ihre Situation angenommen. Es geht auch grundsätzlich nicht darum, über Behinderung zu erzählen, das würden wir uns nicht anmaßen. Thema sind die sozialen Fragen, die in der Oper verhandelt werden, also Geld, Status usw., die wir in einer Medienwelt der glattpolierten Oberflächen und einer körperlichen Leistungsschau zeigen, die eine gewisse Menschenverachtung hat, siehe Germany’s Next Topmodel oder Dieter Bohlen. Solche Formate schließen sehr viele Menschen aus oder verhöhnen sie.
TW: In unserem Gespräch war es meinen Kolleginnen und Kollegen und mir wichtig, dass die Behinderung am Ende bleibt, also nicht märchenhaft weggezaubert wird. Die andere Frage von Betroffenen war, ob es nicht eine wirklich gehbehinderte Sängerin gibt, die diese Rolle darstellen kann. Da war aber schnell klar: Es geht erstmal nicht um die Körperbehinderung, sondern ums Singen. Das muss jemand können und dafür ausgebildet sein. Trotzdem ist es wichtig, dass diese Frage gestellt wurde.
GH: Das ist eine Frage, mit der wir uns auf vielen Ebenen beschäftigen: Wer darf eigentlich noch etwas spielen und darstellen? Aber es ist interessant, dass behinderte Menschen befremdet sind, wenn ein nichtbehinderter Mensch das darstellt.
TW: Es war kein Befremden, sondern nur die Frage, die gestellt wurde, auch von den Kollegen vom Nürnberger Behindertenrat. Wir waren uns dann aber schnell einig, dass an dieser Stelle die Kunst des Singens im Vordergrund stehen muss.
CS: Rossini stellt den Gesang ja besonders aus. Es ist eine sehr virtuose und trotzdem emotionale Art zu singen.
JPG: Die Figuren stellen sich dadurch auch selbst dar.
CS: Wir suchen trotzdem nach einer realistischen Inszenierung des Stücks und nach Momenten in der Musik, die emotional motiviert sind. Diese Balance müssen wir hinkriegen: Die Geschichte einer jungen Frau, die mit einer Gehbehinderung ganz normal lebt und die ihre große Liebe trifft, und andererseits die Musik so zu zeigen, wie sie ist.
JPG: Keine Oper von Rossini bringt Komisches und Tragisches so zusammen wie „La Cenerentola“. Das begeistert mich an diesem Stück. Man muss das Komödiantische bedienen, aber an manchen Stellen kippt es. Cenerentola hat einen Umgang mit ihrer Behinderung gefunden, aber sie wird durch die Show-Welt auch sehr damit konfrontiert.
CS: Besonders durch die anderen, die sie immer wieder darauf hinweisen.
JPG: Das ist der eine Ausschlussmechanismus, der andere ist, dass die Frauen den Techniker verachten, von einer „plebejischen Seele“ sprechen, einer Unterschichts-Fresse, so würde ich das übersetzen. Menschen werden beleidigt, es wird Klassismus betrieben. Es geht immer um Status und Status-Verlust, um Sozial-Performance. Bei Rossini ist ein Gestus der Selbstpräsentation eingeschrieben. Das passt zu den Gesangslinien des Belcanto, die immer auch für sich stehen. Cenerentola kann nicht so schnell laufen wie die anderen, aber sie singt wunderschön. Die Liebe des Prinzen hat auch mit dieser Möglichkeit zu tun, sich so wunderbar auszudrücken. Menschen haben eine Einschränkung, aber etwas anderes prägt sich stark aus
CS: Sie hat einfachere, emotionalere Melodien als die anderen. Nicht nur dieses Ausgestellte, Angeberische – schau mal, wie tolle Koloraturen ich singen kann –, sondern ein ganz einfaches Lied, das tief geht und die große Emotionalität der Rolle ausdrückt.
GH: Bei ihr ist es ein Weg: Sie fängt mit einfachen Liedern an, dann wird es immer komplizierter. Sie befreit sich bis zum großen Jubel am Schluss.
JPG: Sie passt sich in gewisser Weise auch an. Aber vor allem findet sie zu ihrem eigenen Wollen und Nicht-Wollen. Am Schluss kann sie selbstbewusst sagen, wie sie sich eine Zukunft vorstellt.
CS: Sie befreit sich, indem sie sich am Ende das Glitzerkleid wegreißt und sagt, ich brauche den ganzen Glamour nicht, um zufrieden und glücklich zu sein.
JPG: Wir waren zu Besuch in der Werkstatt für behinderte Menschen in Boxdorf und saßen an einem großen Tisch mit Betroffenen. Die haben gesagt, die Utopie einer Befreiung von der Behinderung wäre eine merkwürdige Erzählung. Wir erzählen das Gegenteil: Es geht darum, das anzunehmen und nicht zu überdecken, im wahrsten Sinne des Wortes dargestellt durch das Abreißen des Rocks.
TW: Jan Philipp Gloger hat gesagt, dass manchmal jemand trotz Behinderung auf einem anderen Gebiet hervorragend ist – das gibt es sicher. Aber ich möchte lieber vom Selbstbewusstsein sprechen. Dass jemand trotz der Behinderung selbstbewusst und zufrieden sein kann. Selbstbewusstsein ist bei den Betroffenen sehr wohl vorhanden.
GH: Dass sie von Anfang an eine selbstbewusste Figur ist, steht deutlich im Stück. Trotzdem hat sie auch viel von einer Märchenfigur. Sie ist eben wahnsinnig lieb und nett und gut. Es ist nicht unbedingt die tollste Herausforderung, das zu spielen. Hilft dir die Behinderung, die du jetzt spielst, die Figur aus dieser lieben, netten Ecke herauszuholen?
CS: Für mich ist das ein ganz neuer Ansatz, weil ich es gewohnt bin, wie eine Verrückte über die Bühne zu springen. Jetzt bin ich in meinen Möglichkeiten und meinem Bewegungsapparat relativ eingeschränkt. Aber ich denke, dass das menschlich und künstlerisch eine gute Herausforderung ist, auch weil mich das zentriert und ich nicht wie sonst überall bin. Ich muss mich sehr auf die Bewegungen konzentrieren, weil das ja natürlich und authentisch aussehen soll, dafür haben wir auch zusammen geübt. Die Physiotherapeutin Margit Bayer hat uns toll beraten, wie man fällt, geht und aufsteht. Das muss ich während der Proben die ganze Zeit beachten. Ich muss die Einschränkung so normal wie möglich darstellen und eine davon getrennte starke Persönlichkeit zeigen.
JPG: Als Zuschauer habe ich den Eindruck, dass der Widerstand gut ist, um die Figur zu profilieren. Wenn man sich dafür entscheidet, dass sie nicht die Sklavin oder das Au-pair-Mädchen oder die ausgenutzte Haushaltshilfe ist, braucht man einen Konflikt, der sie ausschließt, obwohl sie offensichtlich die Schwester ist. Aber die Schwester mit ihrer Behinderung kann dann mitkommen und ihnen die Haare machen.
CS: Sie muss stark sein, um das überhaupt so lange ausgehalten zu haben. Ich frage mich schon: Warum haut sie nicht ab von Zuhause? So ist die Hemmschwelle größer.
JPG: Mir ist es wichtig, nicht von Anfang an eine total zerrüttete Familie zu zeigen. Die Problematik innerhalb dieser Familie entsteht eher durch die narzisstischen Prozesse, die von dieser Show ausgelöst werden. Don Magnifico hat kein Geld und ein Alkoholproblem, so wie alle irgendwelche Probleme haben. Aber in dieser Konfliktsituation, in der es darum geht, sich finanziell zu sanieren und eine seiner Töchter im Fernsehen zu sehen, was einer seiner größten Träume ist, geht es für ihn um die Wurst, und er ist sogar bereit, seine Stieftochter vor aller Augen zu beschimpfen und seine Vaterschaft zu verleugnen.
GH: Du meinst, sonst ist es gar nicht so schlimm in dieser Familie? Die verstehen sich so halbwegs?
JPG: Sonst würde sie ja nicht zur Show mitgehen und ihnen die Haare machen. Aber jetzt, wo es um dieses große Ding geht, „Marry the Prince“, drehen alle durch, ungefähr ab Minute 10, und dann schraubt es sich immer höher. Die Figuren reden ja auch regelmäßig davon, dass ihnen eine Sicherung im Kopf durchbrennt…
GH: … „mein Gehirn schaltet sich aus…“
JPG: Das ist meine Erfahrung mit Rossini, dass es um Reflexe geht und nicht um tiefenpsychologisch motivierte Gefühle, sondern affektartige Reaktionen. Das halte ich für realistisch und sehr modern. Der Körper macht irgendwann nicht mehr mit. Die Hektik, das Getriebene der Figuren führt dann irgendwann zur totalen Leere. Rossini kann Leere komponieren. Er ist ein Komponist für unsere Zeit, witzig und bitter.
GH: In Märchen und Geschichten finden wir oft den Topos, dass es auf die inneren Werte ankommt, dass das Äußerliche nicht wichtig ist. Wir lernen das schon als Kinder und tragen es immer vor uns her, leben dabei aber in einer Welt, für die das offensichtlich gar nicht stimmt.
TW: Im Fernsehen nicht, im echten Leben schon eher.
CS: Manchmal verschwimmt es auch. Teenager finden bei Instagram usw. die neue Norm, wie man auszusehen hat. Man setzt einen Filter drauf und verschlankt noch ein bisschen die Taille, und plötzlich denkt man, ich sehe ja gar nicht so aus, aber ich müsste so aussehen. Das ist eine neue Form von krankhaftem Perfektionismus, der auch psychische Störungen verursacht. Klar wissen wir alle, dass es eigentlich um die inneren Werte geht, aber wir wären ja schon ganz woanders, wenn es wirklich so wäre.
JPG: Wir suchen in unserer Inszenierung nicht das brave, nette, liebe Mädchen, nicht das totale Gegenbild zu dieser Party-Welt. Es geht darum zu sagen, ich lasse mich bei meiner Partnerwahl nicht von irgendwelchen oberflächlichen Bildern blenden. Trotzdem ist es ja auch bei uns ein schönes, attraktives Paar. Aber sie sind nicht bereit, bestimmte Bilder und Erwartungen zu erfüllen. Der Prinz ist es leid, wegen seines Glamour-Faktors umschwärmt zu werden, deshalb verkleidet er sich als Normalo. Sie ist es leid, wegen ihrer Markierung ausgeschlossen zu werden. Aber dieses Plädoyer dafür, dass nur die inneren Werte zählen, finde ich trügerisch. Für mich zählt Äußeres und Inneres. Gerade im Theater sehen wir doch, wie das zusammengeht.
TW: Für behinderte Menschen ist oft das Problem, dass sie nicht die Chance kriegen, dass man sie kennen lernt. Es passiert zu wenig, dass man sich mit den Menschen beschäftigt. Man will nichts falsch machen, deshalb lässt man sich nicht auf sie ein. Das steht der Begegnung mit behinderten Menschen oft im Weg.
JPG: Deswegen ist alles, was uns mit dem Thema Behinderung konfrontiert, so wichtig, weil sich nur so Dinge normalisieren können. Vielleicht ist die Oper dafür genau das richtige künstlerische Medium. Oper hat immer was mit Schönheit zu tun, mit Gefasstheit, mit Form und Konvention. Das Unperfekte, das Brüchige bringt in diese schöne Form eine Spannung hinein und, das hoffe ich, eine Realität. Die Autoren wollten so eine Geschichte erzählen. Sie haben nicht umsonst das Märchenhafte, Irreale herausgenommen. Sie haben die sozialen Konflikte betont. Deshalb glaube ich, dass unsere Interpretation ganz im Sinne des Komponisten ist.
CS: Im Märchen ist es ja meistens der Mann, der um die Frau wirbt. Hier nimmt sie das selbst in die Hand.
GH: Glauben Sie, dass eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema etwas verändern kann? Nicht beim großen Publikum vielleicht, das ist ja immer sehr spekulativ, aber für die Leute, mit denen Sie jeden Tag zu tun haben? Fühlen die sich dadurch eher wahrgenommen? Oder kommt da eher an: Jetzt schlachten die Theaterleute dieses Thema auch noch aus?
TW: Wenn wir nicht mehr drüber reden müssten, wäre das super. Aber das ist genau der Punkt. So weit ist Inklusion noch nicht. Wir brauchen eine Bereitschaft, sich damit zu beschäftigen. Wir haben uns über Ihren Besuch gefreut, weil wir miteinander gesprochen haben, uns gegenseitig ernst genommen haben. Respekt voreinander zu haben, kommt nur aus der Auseinandersetzung.
JPG: Auch durch kritischen Dialog. Auch wenn jemand dabei ist, der das kritisch sieht, dann passiert trotzdem was.
TW: Es geht darum, sich offen und auf Augenhöhe zu begegnen. Darüber freuen sich die Menschen. Angekommen sind wir, wenn wir darüber nicht mehr sprechen müssen.
JPG: Wenn sich niemand, der diese Inszenierung sieht, mehr fragen würde, ob die Sängerin wirklich diese Behinderung hat oder ob sie nur gespielt ist.
TW: … und ob man das darf oder nicht. Begegnung, Auseinandersetzung, in welcher Form auch immer. Das ist wichtig, das bringt uns weiter.
JPG: Wir hätten dieses Thema nicht aufgegriffen, wenn nicht von den Betroffenen ein klares Signal gekommen wäre, dass sie das gut finden. Trotzdem ist diese Behinderung der Hauptfigur nur eines der Themen, die in dieser Inszenierung wichtig sind. Es geht auch um die Frage von arm und reich, um soziale Abstiegsängste, darum, mit Spaß eine Show auf die Schippe zu nehmen.
- Quelle:
- La Cenerentola
- Staatstheater Nürnberg
- (Das Aschenputtel). Oper von Gioacchino Rossini, Saison 2022/23
- S. 25-34
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