- Miameide
- Sirene Operntheater
- 21.-30. September 2023
- S. 38-40
Sind Pflanzen weniger wert als Tiere?
Text: Jürg Stöcklin
In: Miameide, 21.-30. September 2023, Sirene Operntheater, S. 38-40 [Programmheft]
Tiere, vor allem höhere Tiere, sind dem Menschen viel ähnlicher als Pflanzen. Die Vorstellung einer Stufenleiter der Natur, auf welcher die Pflanzen auf den untern Sprossen, die Tiere weiter oben, an der Spitze aber der Mensch als Krone der Schöpfung steht, ist uralt und prägt bis heute das menschliche Selbstverständnis. Zumindest in der abendländischen Kultur werden Pflanzen im deutlichen Unterschied zu Tieren stärker nur als Objekte gesehen, die ihre Umwelt weder wahrnehmen noch darauf zu reagieren vermögen. Viel weniger als Tiere werden Pflanzen als Lebewesen betrachtet, die um ihrer Selbst Willen geachtet und geschützt werden müssen. Ganz spontan, aber auch rational begründet, macht der Mensch die Ähnlichkeit mit sich selbst zum Kriterium der Wertschätzung. Daraus abgeleitet wird folgerichtig Pflanzen ein geringerer Wert beigemessen als Tieren.
Aus Sicht der modernen Biologie ist es aber kaum mehr vertretbar, eine Höherentwicklung von Tieren im Vergleich mit Pflanzen zu postulieren. Ebensowenig wie heute noch die Vorstellung haltbar ist, dass der Mensch das Produkt einer zielgerichteten Evolution darstellt und deshalb als Mass aller Dinge zu gelten habe.
Aus biologischer Sicht sind Pflanzen und Tiere zwei unterschiedliche Entwicklungsstränge in der Evolution des Lebens. Erdgeschichtlich betrachtet sind Pflanzen und Tiere junge Organismen, mit einer sehr viel längeren 3 Milliarden Jahre währenden gemeinsamen Vorgeschichte. Diese gemeinsame Vorgeschichte begründet eine grosse Wesensverwandtschaft von Pflanzen und Tieren auf der zellulären Ebene.
Die gegensätzliche Ernährungsweise von Pflanzen und Tieren begründet ihre Unterschiede. Pflanzen können sich dank der Photosynthese selbständig ernähren, während Tiere organische Stoffe aus ihrer Umgebung aufnehmen müssen, weil sie diese nicht aus anorganischen Verbindungen aufbauen können. Auf Grund ihrer unterschiedlichen Ernährungsweise unterscheiden sich Pflanzen und Tiere grundlegend in ihrem Bauplan und in ihrer Organisation, hingegen kaum in ihren grundlegenden zellulären Strukturen, molekularen Prozessen oder in ihrer Komplexität. Ein offensichtlicher Unterschied von Pflanzen und Tieren betrifft ihre Individualität. Teile von Pflanzen können sich verselbständigen.
Verletzungen oder die Abtrennung von Teilen stellen die Integrität einer Pflanze nicht in Frage.
Die Unterschiede von Tieren und Pflanzen, vor allem aber auch ihre besonderen Fähigkeiten, entsprechen den Bedürfnissen ihrer unterschiedlichen Lebensweise. Genauso wie Tiere haben Pflanzen die Fähigkeit, Informationen aus ihrer Umgebung aufzunehmen, zu speichern und darauf zu reagieren. Die komplexen Wechselwirkungen zwischen äusseren Reizen und innerer Signalübertragung beruht auf erstaunlich ähnlichen Mechanismen wie bei Tieren. Während aber Tiere sich bewegen und auf Reize mit Verhaltungsänderungen reagieren, antworten festsitzende Pflanzen auf Reize aus ihrer Umgebung durch Entwicklungsprozesse und Anpassungen in ihrem Wachstum. Eine äusserst flexible Anpassungsfähigkeit im Entwicklungsprogramm von Pflanzen kompensiert dabei die fehlende Mobilität.
Pflanzen haben zwar kein Nervensystem, entwickelten aber für die innere Kommunikation ein differenziertes Hormonsystem und benützen für die innere Kommunikation zwischen Zellen Aktionspotentiale, die den Signalen in Nervenfasern von Tieren ähnlich sind. Ein Hormonsystem koordiniert Reaktionen über grössere Distanzen.
Licht spielt für Pflanzen eine Schlüsselrolle. Ihre Möglichkeiten, Wachstum und Entwicklung der Menge und der Qualität von Licht anzupassen, sind besonders ausgeprägt. Mit Photorezeptoren werden kleinste Lichtmengen, Lichtrichtung und die Farbqualität von Licht wahrgenommen. Pflanzen können dadurch die Samenkeimung, ihre Blattentwicklung, Formveränderungen, Wachstumsrichtung oder die Schliessbewegungen der Spaltöffnungen ihrer Blätter steuern, oder die Tages- und Jahreszeit messen.
Licht spielt für Pflanzen eine Schlüsselrolle. Ihre Möglichkeiten, Wachstum und Entwicklung der Menge und der Qualität von Licht anzupassen, sind besonders ausgeprägt. Mit Photorezeptoren werden kleinste Lichtmengen, Lichtrichtung und die Farbqualität von Licht wahrgenommen. Pflanzen können dadurch die Samenkeimung, ihre Blattentwicklung, Formveränderungen, Wachstumsrichtung oder die Schliessbewegungen der Spaltöffnungen ihrer Blätter steuern, oder die Tages- und Jahreszeit messen.
Die sensiblen Möglichkeiten von Pflanzen, auf ihre Umwelt zu reagieren, wurden auch schon als „pflanzliche Intelligenz“ bezeichnet, was allerdings kontrovers diskutiert wird und letztlich eine Frage der Definition ist.
Die Unterschiede von Pflanzen und Tieren, Umweltreize aufzunehmen, zu verarbeiten und darauf zu reagieren, sind gradueller Natur. Die Unterschiede 40 entsprechen in ihrer Einzigartigkeit der unterschiedlichen Lebensweise der beiden Gruppen von Organismen und lassen sich schwerlich gegeneinander aufrechnen. Keine Pflanze wird je die Fähigkeit entwickeln, Gedichte oder Liebesbriefe zu verfassen. Die Vielfalt der Möglichkeiten, die Blütenpflanzen zur Anlockung von Insekten, Vögeln und anderen Bestäubern oder zur Ausbreitung von Samen entwickelt haben, ist auf einer anderen Ebene ähnlich bemerkenswert. Ebenso schwierig fällt es, die Einzigartigkeit des Nervensystems von Tieren aufzurechnen gegen die Einzigartigkeit der Photosynthese und ihrer Regulation durch die Spaltöffnungen bei Pflanzen.
Sind Tiere mehr wert als Pflanzen? Die Antwort muss offen bleiben. Sicher ist, dass die heutige Diversität des Lebens nur durch die wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung von Pflanzen und Tieren entstanden ist. Diese Diversität zu bewahren, ist seit der Konferenz von Rio 1992 zu einer Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft geworden.
Literatur und Internetlinks
Stöcklin, Jürg (2006) Moderne Konzepte der Biologie zum Wesen von Pflanzen und ihrer Unterscheidung von Tieren. Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaften beider Basel, Band 9: 32.
Stöcklin, Jürg (2007) Die Pflanze: Moderne Konzepte der Biologie. Beiträge zur Ethik und Biotechnologie 2, 78 S. http://www.ekah.admin.ch/uploads/media/d-Beitrag-Pflanze-2007.pdf
Prof. (em.) Dr. Jürg Stöcklin (geb. 1951) war Dozent für Botanik und Forschungsgruppenleiter am Departement für Umweltwissenschaften der Universität Basel, Schweiz. Sein Arbeitsgebiet sind die Populationsgenetik und die Evolutionsbiologie von Pflanzen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den vielfältigen Anpassungen von alpinen Pflanzen an die besonderen Verhältnisse kalter Lebensräume und ihrer Biodiversität. Ausserdem interessiert er sich für wissenschaftshistorische und ethische Fragen in der Biologie. Seit 2000 ist er Präsident der Basler Botanischen Gesellschaft, seit 2005 Chief-Editor der internationalen Zeitschrift Alpine Botany. Ab 1997 vertrat er die Grünen Basel für mehr als 20 Jahre im Parlament des Kanton Basel-Stadt und für 12 Jahre im Bürgergemeinderat der Stadt Basel.
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