Premiere Le Grand Macabre
Im Schatten des Todes
Text: Maximilian Enderle
In: Magazin, November / Dezember 2023, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]
»Es ist die Angst vor dem Tod, die Apotheose der Angst und das Überwinden der Angst durch Komik, durch Humor, durch Groteske.« Mit diesen Worten beschreibt György Ligeti den inhaltlichen Kern seiner Oper Le Grand Macabre. Die Konfrontation mit dem Tod zieht sich wie ein roter Faden durch Biografie und Werk des ungarischen Komponisten, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Auf sein Leben zurückblickend, äußerte er kurz vor seinem Tod: »Eine Dimension meiner Musik trägt stets den Abdruck einer langen, im Schatten des Todes verbrachten Zeit.«
Vorsicht vor Ideologien!
Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erlebte Ligeti in all ihrer mörderischen Gewalt. Als Sohn jüdischer Eltern im rumänischen Siebenbürgen geboren, verlor er seinen Vater wie auch seinen Bruder im Holocaust. Er selbst schuftete im Arbeitsdienst der ungarischen Armee, wobei er dem Tod immer wieder nur knapp entging: Eine russische Granate verfehlte den auf dem Waldboden kauernden Komponisten lediglich um wenige Zentimeter. Nach Kriegsende litt er unter dem sozialistischen Regime in Ungarn, ehe er 1956 im Zuge des blutig niedergeschlagenen Volksaufstands in den Westen floh.
Im Kölner Studio für Elektronische Musik des WDR fand Ligeti Anschluss an die musikalische Avantgarde um Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel. Seine Skepsis gegenüber Ideologien behielt er bei: Die Grabenkämpfe der Darmstädter Schule beäugte er genauso kritisch, wie die in Komponistenkreisen verbreitete Bewunderung für kommunistische Parteien. Frei von ästhetischen Dogmen, doch angetrieben von einer unersättlichen Neugier für historische wie gegenwärtige Musikkulturen, entwickelte der Komponist nach und nach seine eigene Klangsprache. Der Durchbruch gelang ihm Anfang der 1960er Jahre mit mikropolyphonen Orchesterstücken wie Apparitions und Atmosphères, worin sich auf subtile Weise seine Kriegserfahrungen spiegeln. Das letztgenannte Werk bezeichnete er als »Totenmesse innerhalb der Materialsphäre«.
Vom Requiem zur »Anti-Anti-Oper«
Der Text der lateinischen Totenmesse übte seit jeher eine ungeheure Faszination auf Ligeti aus. Über 20 Jahre lang arbeitete er an seinem Requiem, das 1965 in Stockholm uraufgeführt wurde. Den zentralen Moment des Werkes bildet die Sequenz des Dies irae – der Tag des Jüngsten Gerichts. In nie gehörter Eindringlichkeit machte Ligeti darin die menschliche Todesangst hörbar und bewies zugleich einen untrüglichen Theaterinstinkt. Konsequenterweise erhielt er nach der Uraufführung von Göran Gentele, dem Intendanten der Königlichen Oper Stockholm, das Angebot für ein groß besetztes Musiktheaterwerk.
Der Komponist nahm dankend an und erarbeitete zunächst eine Adaption des Ödipus-Stoffes, die Gentele inszenieren sollte. Nachdem dieser jedoch im Jahr 1972 bei einem Autofall ums Leben kam, verwarf Ligeti seine Konzeption und begab sich auf die Suche nach einem neuen Sujet. Im Gegensatz zu Mauricio Kagel, der 1971 seine dadaistische »Anti-Oper« Staatstheater uraufgeführt hatte, bevorzugte Ligeti eine dramatische Handlung als Gerüst seines Werkes. Eine »Anti-Anti-Oper« schwebte ihm vor – im Grunde die Rückkehr zur Oper im traditionellen Sinne, allerdings in einem Klanggewand, das »gefährlich, bizarr, übertrieben und ganz verrückt« sein sollte.
Fündig wurde Ligeti schließlich bei Michel de Ghelderodes Farce La Balade du Grand Macabre, die in den 1930er Jahren unter dem Eindruck von Hitlers Aufstieg entstanden war. Die Vorlage des flämischen Dramatikers spitzte er gemeinsam mit seinem Librettisten Michael Meschke, damals Direktor des Stockholmer Marionettentheaters, sprachlich effektvoll zu: Schlagkräftige Dialoge treffen auf aberwitzige Silbenketten, kindische Abzählreime auf erotische Poesie, vulgäre Wortspiele auf verfremdete Bibelzitate.
Den Treibstoff der 1978 uraufgeführten und 1996 revidierten Oper liefert Ligetis Musik, eine »akustische Welt voller Ruinen« (István Balázs). Wie objets trouvés finden sich darin Reminiszenzen an Werke von Rameau, Mozart, Beethoven, Rossini und Offenbach. Strenge Formen, wie etwa eine Toccata im Stile Monteverdis, verbinden sich mit einer ausgefallenen Orchesterbesetzung – Autohupen, Türklingeln und Sirenen sind dabei ebenso vorgesehen wie ein überbordender Schlagzeugapparat. Und nicht zuletzt erhält jede der Figuren einen ganz eigenen gesanglichen Ausdruck, von lyrisch-sinnlich (Amanda und Amando) über drastisch-komisch (Piet vom Fass) bis hin zu vokalartistisch-überdreht (Chef der Gepopo).
Doppelbelichtungen
Als Sohn einer Augenärztin entwickelte Ligeti bereits im Kindesalter eine Vorliebe für optische Apparaturen und visuelle Phänomene. Dies schlug sich auch in seinem musikalischen Schaffen nieder: Wie Vexierbilder kippen in Le Grand Macabre Szenen und Charaktere von einem Extrem ins andere. Das Volk von Breughelland etwa agiert zunächst als homogene Masse, ehe sich die Stimmen und Handlungsmotivationen vereinzeln: »Großer Makabre, töte alle anderen, aber nicht mich«, flehen die Bewohner im dritten Bild. Angesichts des drohenden Untergangs ist sich offenbar jeder selbst der nächste.
Bewusst zwielichtig legt Ligeti auch den Protagonisten Nekrotzar an: Anders als in Ghelderodes Vorlage bleibt offen, ob dieser wirklich eine Inkarnation des Todes oder lediglich ein falscher Prophet ist. Dementsprechend ambivalent gestaltet sich das lieto fine der Oper: Nachdem Nekrotzars Mission gescheitert ist, feiern die Bewohner Breughellands ihr Weiterleben im Hier und Jetzt. Musikalisch verwendet Ligeti dabei jedoch eine schwebende Harmonik, die den tonalen Boden unter den Füßen verloren hat.
Der Weltuntergang mag ausgeblieben sein. Aber die nächste Katastrophe wirft bereits ihre Schatten voraus.
LE GRAND MACABRE
György Ligeti (1923–2006)
Oper in zwei Akten / Text von Michael Meschke und György Ligeti nach Michel de Ghelderode / Uraufführung 1978, Königliche Oper, Stockholm / In englischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
FRANKFURTER ERSTAUFFÜHRUNG Sonntag, 5. November 2023
VORSTELLUNGEN 10., 18., 24., 26., 30. November / 2. Dezember 2023
MUSIKALISCHE LEITUNG Thomas Guggeis INSZENIERUNG Vasily Barkhatov BÜHNENBILD Zinovy Margolin KOSTÜME Olga Shaishmelashvili LICHT Joachim Klein VIDEO Ruth Stofer, Tabea Rothfuchs CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Maximilian Enderle
NEKROTZAR Simon Neal PIET VOM FASS Peter Marsh FÜRST GO-GO Eric Jurenas VENUS / CHEF DER GEPOPO Anna Nekhames ASTRADAMORS Alfred Reiter MESCALINA Claire Barnett-Jones WEISSER MINISTER Michael McCown SCHWARZER MINISTER Iain MacNeil AMANDA Elizabeth Reiter AMANDO Karolina Makuła
- Quelle:
- Magazin
- Oper Frankfurt
- November / Dezember 2023
- S. 6-7
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