Vom »Gelegenheitsstück« zum Welterfolg
Text: Mareike Wink
In: Magazin, November / Dezember 2023, Oper Frankfurt, S. 12-13 [Publikumszeitschrift]
Wie agieren Menschen angesichts des Krieges? Wo beginnt Freiheit? Was ist Heimat? Verdis Oper Aida erzählt davon, wie Menschen innerhalb kriegführender politischer Systeme versuchen, ihrem inneren Kompass zu folgen, ihre Gefühle und Beziehungen zu leben, wie sie instrumentalisiert werden und schließlich an erbarmungslosen Machtstrukturen zerbrechen. Dabei reflektiert das Werk die im 19. Jahrhundert allgegenwärtige und heute wieder erschreckend aktuelle Idee eines nationalen Triumphes, die in engem Zusammenhang mit der Werkgenese steht. Für kaum eine andere Verdi-Oper war diese wohl derart wesensbildend wie für Aida.
Ägypten – von der Provinz zur Autonomie
Von 1863 bis 1879 lenkte Ismail Pascha – in Paris erzogen – als Vizekönig bzw. »Khedive« die Geschicke Ägyptens, das damals eine Provinz des Osmanischen Reiches war. Den Titel des Khediven hatte ihm 1867 der osmanische Sultan Abdülaziz verliehen. Unter Paschas westlich orientierter Herrschaft wuchsen die Autonomiebestrebungen der Region stetig; die Modernisierung der Infrastruktur, hohe Rüstungsausgaben sowie wirtschaftspolitische Reformen wurden auf den Weg gebracht; gleichzeitig wurde das Volk zu hohen Steuern und Frondiensten verpflichtet – als Finanzausgleich für die überaus verschwenderische Hofhaltung des Khediven.
Der Bau eines Opernhauses nach französischem Vorbild und die Realisierung des Jahrhundertunternehmens »Sueskanal« zählten zu Paschas Prestige-Projekten. Der Opernliebhaber wollte seine Errungenschaften mit einem eigens komponierten Werk eines führenden europäischen Komponisten krönen. Die Wahl fiel schließlich auf Verdi. Dem Khediven schwebte eine Oper vor, welche die altägyptische Vergangenheit beschwören und im Sinne des allgegenwärtigen Nationalismus auch den Autonomieanspruch der Region zum Ausdruck bringen sollte. Doch Verdi, der längst weltberühmt und zu einer Symbolfigur für das geeinte Italien geworden war, lehnte ab: »Es ist nicht meine Gewohnheit, Gelegenheitsstücke zu schreiben.« Das Opernhaus von Kairo wurde im November 1869 mit Rigoletto eröffnet.
Pascha ließ jedoch auch nach dessen Einweihung nicht locker. In dem französischen Archäologen und Autor Auguste Mariette fand er einen engagierten Mitstreiter. Pascha und Mariette verstanden sich: Dem ägyptischen Herrscher lag an einer unabhängigen ägyptischen Moderne im westlichen Sinne, während sich der europäische Wissenschaftler und Autor für die Erforschung der ägyptischen Vergangenheit begeisterte. In einem Text von Mariette, der seine Ausgrabungserfahrungen in eine fiktive Handlung einbettete, sah der Khedive die perfekte Vorlage für das Libretto zu seinem Wunschwerk, welches im Blick auf die pharaonische Vergangenheit die Größe eines modernen Ägyptens spiegeln könnte.
Verdi willigt ein
Es war Camille du Locle, Verdis Don Carlo-Librettist und künftiger Direktor der Pariser Opéra-Comique, der das Interesse des Komponisten für das Kairo-Projekt schließlich doch noch wecken konnte. Er legte ihm Mariettes Szenario vor und wartete auf die Reaktion. »Gut gemacht, hervorragend vom szenischen Standpunkt, mit zwei, drei wenn auch nicht ganz neuen, so doch gut gearbeiteten Stellen. Eine sehr erfahrene Hand spricht daraus, jemand, der das Schreiben gewohnt ist und jemand, der das Theater gut kennt.« – Verdi war Feuer und Flamme.
Der Komponist begann sich immer weiter in den Stoff einzuarbeiten, betrieb kulturhistorische Studien zum alten Ägypten und wirkte entscheidend an der Entwicklung des Librettos mit, für das der Dramatiker Antonio Ghislanzoni verpflichtet wurde. Die Handlung, die auf Mariettes Vorlage zurückgeht, kann keinerlei Anspruch auf historische Authentizität erheben. Sie basiert nicht auf Begebenheiten der ägyptischen Geschichte und weist topografisch große Ungenauigkeiten auf.
Verdi entwickelte den Ehrgeiz, seiner Partitur ein möglichst authentisches, letztlich exotisch-orientalisierendes Lokalkolorit einzuschreiben. Er spielte mit Varianten monodischer Gesänge und Chromatik sowie mit vereinzelter Harfenbegleitung. Daneben beschäftigte er sich auch mit historischen Instrumenten und ließ für den prominenten Triumphmarsch im Finale des zweiten Aktes sechs sogenannte »Aida-Trompeten« anfertigen, die mit ihrer nicht gebogenen Gestalt die altägyptische Scheneb nachahmen sollten.
Einer repräsentativen Ästhetik großer Chor- und Ballettszenen steht die zarte Ausleuchtung der persönlichen Konflikte gegenüber. Die Ängste der Figuren, ihr Scheitern an inneren Unfreiheiten und äußeren Machtsystemen entfaltet der Komponist in lyrischen, kammerspielartigen Szenen. In Passagen mit einer streng kontrapunktischen Satzweise, von Verdi selbst als »Palestrina-Stil« bezeichnet, finden die rigiden theokratischen Strukturen ihre Entsprechung. So spitzt die Musik die im Textbuch angelegten Grundzüge weiter zu.
Ein realer Krieg
Die Uraufführung der Oper sollte im Januar 1871, die italienische Erstaufführung an der Mailänder Scala nur wenige Wochen darauf stattfinden. Doch der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges vereitelte die Einhaltung des Zeitplans. Man hatte nämlich keine Kosten und Mühen gescheut und die Bühnenbilder, Kostüme und Requisiten unter der Leitung von Auguste Mariette höchstpersönlich in Paris anfertigen lassen. Die deutsche Belagerung der französischen Hauptstadt blockierte allerdings die rechtzeitige Ausfuhr der Aida-Ausstattung. Und so kam das Werk schließlich mit fast einem Jahr Verspätung am Heiligen Abend 1871 im neuen Opernhaus von Kairo zur Uraufführung.
AIDA
Giuseppe Verdi (1813–1901)
Opera lirica in vier Akten / Text von Antonio Ghislanzoni nach Auguste Mariette, ausgearbeitet von Camille Du Locle und Giuseppe Verdi / Uraufführung 1871, Opernhaus, Kairo / In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
PREMIERE 3. Dezember
VORSTELLUNGEN 6., 8., 10., 17., 21., 26., 29. Dezember / 1., 13., 20. Januar
MUSIKALISCHE LEITUNG Erik Nielsen INSZENIERUNG Lydia Steier BÜHNENBILD Katharina Schlipf KOSTÜME Siegfried Zoller LICHT Joachim Klein CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Mareike Wink
AIDA Guanqun Yu RADAMÈS Stefano La Colla / Alfred Kim AMNERIS Claudia Mahnke / Agnieszka Rehlis RAMFIS Andreas Bauer Kanabas / Kihwan Sim AMONASRO Nicholas Brownlee / Iain MacNeil DER KÖNIG VON ÄGYPTEN Kihwan Sim / Andreas Bauer Kanabas EIN BOTE Kudaibergen Abildin EINE PRIESTERIN Monika Buczkowska
Mit freundlicher Unterstützung [Logo DZ Bank, Logo Patronatsverein]
- Quelle:
- Magazin
- Oper Frankfurt
- November / Dezember 2023
- S. 12-13
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