• Lucia di Lammermoor
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Gaetano Donizetti, Saison 2023/24
  • S. 15-17

Krank und gottlos

Interview mit der Regisseurin Ilaria Lanzino

In: Lucia di Lammermoor, Oper von Gaetano Donizetti, Saison 2023/24, Staatstheater Nürnberg, S. 15-17 [Programmheft]

Was ist der Kern der Handlung von „Lucia di Lammermoor“?

Ilaria Lanzino: Donizettis Oper erzählt von zwei verliebten jungen Menschen, die gegen den erbitterten Widerstand ihrer Familien zu kämpfen haben. Grund dafür ist eine seit Urzeiten gelebte Feindschaft zwischen den Familien, die sich auch in unterschiedlichen politischen Interessen widerspiegelt. „Lucia di Lammermoor“ ist eigentlich eine schottische Variante von „Romeo und Julia“. Eine sehr wichtige Figur ist für mich der Priester Raimondo, eine Art spiritueller Erzieher von Lucia, der eine besondere Verbindung zu ihr hat. Doch trotz dieser engen Bindung stellt auch er sich der Liebe der beiden in den Weg. Ich habe mich gefragt, warum?

Und in der Antwort liegt der Schlüssel zu Deinem Regie-Konzept?

Mein Anliegen als Regisseurin ist es, den Konflikt der originalen Geschichte zu bewahren, mich dabei aber ernsthaft zu fragen: Können wir diesen Konflikt heute noch nachvollziehen? In welchem Kontext würde er heutzutage entstehen? Diese Frage ist zentral in Hinblick auf ein relevantes Musiktheater, das auch jüngere Generationen ansprechen und zeitgenössische Konflikte widerspiegeln soll.

Was heißt das in Bezug auf „Lucia“?

Adelszwiste oder Zwangsehen aus politischen Gründen gibt es vielleicht nicht mehr, aber auch hierzulande mischen sich Eltern in die Beziehungen ihrer Kinder ein, wenn die Partnerwahl nicht genehm ist, z.B. bei homosexuellen Beziehungen. Queere Bindungen sind lange noch nicht überall akzeptiert, insbesondere wenn man aus der Provinz kommt, wo sich alle kennen und Bindungen zu Skandalen werden, die wiederum zu Stigmatisierung und Mobbing führen können. Und jetzt kommt Raimondo ins Spiel. In seiner Arie im 2. Akt sagt er: „Eure Bindung wird von Gott nicht anerkannt und ist deswegen nichtig.“ Das ist auch heutzutage die offizielle Haltung der katholischen Kirche in Bezug auf queere Beziehungen. So habe ich mich dafür entschieden, die Geschichte eines jungen homosexuellen Paares zu erzählen: die Geschichte von zwei jungen Männern, Luca und Edgardo, die aus der Provinz stammen und ihre Liebe nicht frei entfalten können.

Weil die Frage, wen man liebt, plötzlich vom öffentlichen Interesse zu sein scheint?

Das ist etwas, womit alle, die nicht der Mehrheit der Heteronormativität angehören, früher oder später konfrontiert werden. Wenn ich mit einem gleichgeschlechtlichen Partner Händchen haltend durch die Stadt gehe, wird das als politisches Statement gelesen und nicht als eigentlich unspektakulärer Bestandteil einer Paarbeziehung. Darauf nimmt auch unser Bühnenbild Bezug: Das Bett, ein absolut intimer Ort also, steht im Mittelpunkt, und wer da drin liegt, ist keine Privatangelegenheit.

Luca wird weiterhin von einer Sopranistin gesungen, die einen Mann spielt. Was bedeutet das für die Rolle der Lucia, sie ist doch eigentlich der Prototyp einer romantische Frauenfigur?

Im Grunde genommen ändert sich kaum etwas, der Konflikt ist ja derselbe. Wir haben weiterhin ein Paar, das gegen den Widerstand einer konservativen Familie und der Kirche zu kämpfen hat. Themen wie Mord, Suizid und geistige Gesundheit sind in „Lucia“ sehr präsent, und ich stelle sie nur in einen zeitgenössischen Kontext: Lucias „Wahn“ im Zusammenhang mit der unterdrückten Liebe hat sehr viel mit der gefährdeten geistigen Gesundheit queerer Menschen zu tun, die viermal mehr als heterosexuellen erkranken, weil sie den Druck und die Ablehnung ihrer Art zu lieben nicht verkraften können. Und was die Frauenfigur betrifft: So genannte Hosenrolle gibt es, seit es die Oper gibt: Octavian, Cherubino oder Romeo in Bellinis Oper. Indem Lucia nun bei mir Luca ist, ein junger Mann also, entferne ich mich vielleicht von dem Klischee der „hysterischen Frau“, das nicht nur in Belcanto-Opern gerne bedient wird, aber das halte ich für keinen großen Verlust. (lacht)

Gibt es denn gar keine Eingriffe in die Partitur?

Doch. Arturo, der Mann, der im Original mit Lucia verheiratet wird, wird in „Emilia“ verwandelt und von einer Mezzosopranistin gesungen. Lucas Familie will natürlich, dass er eine Frau heiratet. Aber abgesehen davon waren keine weiteren Eingriffe nötig; denn das Konzept habe ich eng am Text erarbeitet und bin ja gerade dadurch auf die Idee der homosexuellen Beziehung gekommen.

Wie meinst Du das?

Die Art und Weise, wie die Liebe von Lucia und Edgardo beschrieben wird, erinnert an die Rhetorik queerfeindlicher Gruppen: Normanno nennt sie „esecrabile“, also „schändlich“, Enrico spricht von „insano/krank“ oder „empio/gottlos“. Luca und Edgardo trotzen dieser Rhetorik und beglaubigen ihre Liebe vor Gott. Das Thema Glaube wird auch innerhalb der queeren Community sehr hitzig diskutiert: Es gibt sehr viele Gläubige, die den vermeintlichen Widerspruch jeden Tag zu lösen versuchen, und Theolog*innen wie Michela Murgia, die sich aus theologischem Blickwinkel damit auseinandersetzen. Das Thema ist hochaktuell. Erst vor wenigen Wochen hat der Fall der acht Priester, die aus Protest gegen die offizielle Richtung der Kirche queere Paare vor dem Kölner Dom gesegnet haben, überregional Schlagzeilen gemacht. Wir holen „Lucia“ mit diesem Konzept in unsere Lebenswelt, darin fließt meine eigene Erfahrung sowie die von vielen Menschen ein, denen ich persönlich begegnen durfte oder über die ich recherchiert habe. Auf ihre Situation aufmerksam zu machen, ist mir ein wichtiges Anliegen.

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