• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • März/April 2020
  • S. 14-15

Premiere Mignon

Goethe... ...leicht retuschiert

Text: Stephanie Schulze

In: Magazin, März/April 2020, Oper Frankfurt, S. 14-15 [Publikumszeitschrift]

Sehnsüchtig den Kopf auf die Schulter neigend, blickt ein braungelocktes Geschöpf, häufig barfüßig mit Laute und Bündel ausgestattet vor Naturkulisse, von unzähligen Postkarten oder Schokoladensammelbildern. Mignon avancierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar zu der am meisten abgebildeten literarischen Figur, die in Illustrationen und Fotos durch die um 1865 erfundene und bald in Massen produzierte »Leichtkartonkarte« eine immense Verbreitung erzielte. Wer immer seine Sehnsucht bekunden oder einen träumerischen Liebesgruß versenden wollte, griff womöglich zum Motiv »Mignon«. Mitunter posieren die Modelle in Gestik und Mimik recht lasziv, sodass sich wohl auch andere Botschaften auf der Rückseite verbergen konnten. Die Figur der Mignon wurde zur Projektionsfläche, ja zum Klischeebild von naturverbundener Weiblichkeit und »Zigeunerromantik«, die mit Goethes geheimnisumwobener Erscheinung nur noch von Ferne zu tun hatte, aber deren Nähe zu einer der erfolgreichsten und populärsten französischen Opern des 19. Jahrhunderts (bevor Carmen die Bühne betrat!) nicht zu leugnen ist.

Interessanterweise fällt die Erfindung der Postkarte fast auf das Jahr genau mit der Uraufführung von Ambroise Thomas’ Mignon 1866 an der Pariser Opéra-Comique zusammen. Das Autorenduo Jules Barbier und Michel Carré war bekannt dafür, Stoffe der Weltliteratur für die Oper umzustricken. Goethes Wilhelm Meister als Sujet war in mehrfacher Hinsicht klug gewählt. Abgesehen vom allgemeinen Goethe-Trend in Frankreich und dem immensen Erfolg von Gounods Faust 1859 hatte die Gestalt der Mignon bereits ein weitreichendes Echo in der romantischen Musik sowie in der Malerei hervorgerufen. So können wohl auch Ary Scheffers madonnenhafte Mignon-Bildnisse, die äußerst populär waren, als wichtige Inspirationsquelle gelten. Die Opernmacher scherten sich weniger darum, die Selbstbildung Wilhelm Meisters sowie Goethes Theater- und Kunstreflexionen zu thematisieren, als vielmehr dessen Titelhelden zu einem begehrenswerten Kavalier zu machen, dem die Herzen zweier Damen aus dem Theatermilieu (»Eiertänzerin« und Shakespeare-Actrice) zufliegen. Mignon ist kaum mehr die androgyn-rätselhafte Kindfrau, die für Wilhelm das Wesen der Poesie verkörpert. In der Oper sind seine Gefühle vielmehr von Anteilnahme für ihr Schicksal geprägt, während Philine bei ihm das erotische Begehren hervorruft, das in dem knabenhaften Mädchen erst erwacht. Eifersucht und Konkurrenz werden zum Movens der beiden Damen. Den zentralen Dreieckskonflikt flankiert der Harfner bzw. Lothario in einer Figur, die am Ende als Marquis Cipriani seine Identität wiederfindet und in Mignon die verlorene Tochter.

Wider Erwarten war das Libretto gar nicht leicht an den Komponisten zu bringen. Einer nach dem anderen lehnte ab: erst Meyerbeer, dann Gounod, Ernst Reyer … Schließlich sollte Ambroise Thomas mit Mignon ein Triumph beschieden sein. Der in einer Musikerfamilie in Metz aufgewachsene Thomas widmete sich in seiner äußerst geradlinig verlaufenden Karriere über vier Jahrzehnte fast ausschließlich der Oper. Auf dem Gebiet der Opéra-comique war der als ernsthaft und pflichtbewusst geltende Thomas in der Periode des Second Empire einer der angesehensten Komponisten in der Nachfolge von Auber, den er als Direktor des Pariser Conservatoire beerben sollte.

Wie parallel Gounods und Thomas’ Schaffen verlief, zeigt nicht nur beider Rückgriff auf Sujets nach Shakespeare oder Goethe: Mignon war die Antwort auf Faust, Gounods Roméo et Juliette auf Thomas’ Hamlet. Waren bis zur Jahrhundertmitte Opéra-Comique und Grand Opéra als Gattung wie Institution klar voneinander getrennt, so begannen sie sich nun einander anzunähern. Dies drückt sich in der Wahl der Sujets aus, die durchaus tragische Züge haben konnten. Mignon entstand zunächst als Musterbeispiel einer Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen, die teilweise mit Musik unterlegt wurden, und hielt sich auch in Bezug auf die Besetzung an die Konventionen des Genres. Der leichte Koloratursopran für die eitle Philine, die in ihrer Polonaise »Je suis Titania« mit Virtuosität glänzen kann, wird mit einem Mezzosopran für die Titelpartie kontrastiert, dessen dunkleres Timbre sich für das Sehnsuchtslied schlechthin »Connais-tu le pays?« – »Kennst du das Land?« eignet. Die Partie des Wilhelm Meister, für einen Ténor leger komponiert, besticht durch ihre anspruchsvollen Arien und Romanzen. Äußerst abwechslungsreich in der Instrumentation bindet Thomas in seiner Partitur die Lieder, Romanzen sowie Melodramen ein und setzt sie in Kontrast zu wirkungsvollen Chor-Ensembles und folkloristisch angehauchten Tänzen.

Dass Mignon allerdings wie in der literarischen Vorlage an gebrochenem Herzen stirbt, ging für das französische Publikum der Uraufführung doch einen Schritt zu weit. Noch 1875 sorgte der tragische Schluss von Carmen – die übrigens wie die erste Mignon von der Mezzosopranistin Célestine Galli-Marié verkörpert wurde – für einen Skandal. Um einen Misserfolg abzuwenden, änderte Thomas das Ende kurz nach der Premiere in ein glückliches: Philine verzichtet großmütig auf Wilhelm, der sich seine Liebe zu Mignon eingesteht und sie in Italien heiratet. Dies war nur der Beginn einer langen Fassungsgeschichte, die weitere Anpassungen und Umarbeitungen mit sich brachte: Dialoge wurden Rezitative, Arien verschwanden und wurden durch andere ersetzt …

In Deutschland stand das Publikum, das schon mit Gounods Faust fremdelte und ihn lange Zeit nur unter dem Titel Margarethe spielte, diesem Goethe-Verschnitt skeptisch gegenüber. Die deutsche Fassung, die ab 1869 gegeben wurde, ging zur Freude des Publikums (»unser Goethe!«) wieder tragisch aus – es konnte Goethe-, Melodien- und Stimmen-beseelt am nächsten Morgen aus Sehnsucht vielleicht eine Mignon-Postkarte verschicken.


MIGNON
Ambroise Thomas 1811–1896

OPÉRA-COMIQUE IN DREI AKTEN / URAUFFÜHRUNG 1866
Text von Michel Carré und Jules Barbier nach Johann Wolfgang von Goethe. In französischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

KONZERTANTE VORSTELLUNGEN
Freitag, 17., Sonntag, 19. April

MUSIKALISCHE LEITUNG Benjamin Reiners CHOR Tilman Michael

MIGNON Julie Boulianne PHILINE Elizabeth Sutphen WILHELM MEISTER Attilio Glaser LOTHARIO Jean Teitgen LAËRTE Michael Porter JARNO / ANTONIO Barnaby Rea FRIEDRICH Zanda Švēde