• Don Giovanni
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Saison 2023/24
  • S. 19-24

Der Losgelöste

Text: Georg Holzer

In: Don Giovanni, Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Saison 2023/24, Staatstheater Nürnberg, S. 19-24 [Programmheft]

„Giocoso“ ist ein hübsches italienisches Wort. Man glaubt, die Fröhlichkeit, die es ausdrückt, in einem gewissen Hüpfen des Klangs zu spüren. Wer also ins Theater geht, um ein „Dramma giocoso“ zu sehen (wobei das italienische „dramma“ einfach eine Theaterhandlung bezeichnet und nichts vom bedrohlichen Beigeschmack des deutschen „Dramas“ hat), darf sich auf ein paar vergnügte Stunden freuen. Mozart legt die Fährte noch deutlicher, denn er ordnet den „Don Giovanni“ im eigenen Werkverzeichnis unter die „opere buffe“, also die komischen Opern ein. Aber ganz so leicht machen Mozart und Da Ponte es ihren Zuhörern und Zuschauern dann doch nicht.

Ihre drei gemeinsamen Opern sind Komödien: „Commedia per musica“ ist „Figaros Hochzeit“ untertitelt, „Dramma giocoso“ heißen „Don Giovanni“ und „Così fan tutte“. Etwas zu lachen gibt es in allen dreien, aber nicht nur. Im „Figaro“ ist Susannas und Figaros Glück durch einen anmaßenden Vorgesetzten in größter Gefahr, in „Così fan tutte“ müssen Fiordiligi und Dorabella erkennen, dass es mit ihrer Treue, auf die sie sich so viel einbilden, nicht weit her ist. Klassische Komödiensituationen gibt es trotzdem reichlich, auch im „Don Giovanni“: Verwechslungen, Verkleidungen, Missverständnisse, Figuren, die zur falschen Zeit am falschen Ort auftauchen. So wie in „Così fan tutte“, wo der Liebesverrat der Frauen gleichzeitig komisch und furchtbar ist, ist aber auch im „Don Giovanni“ der Hauptmotor der Komik zugleich das Bedrohliche des Stücks: Giovannis Maßlosigkeit, seine Dreistigkeit und Unverschämtheit, mit der er sich alles, worauf er Appetit hat, einfach nimmt.
 

Ein Mythos der frühen Neuzeit

In der Zeit um 1600 erlebt Europa – zumindest der Teil davon, der es sich leisten kann – die Geburt einiger neuer mythischer Helden, die uns bis heute begleiten: in Spanien Don Quijote und Don Juan, in England Hamlet, in Deutschland Doktor Faust. Don Juan ist zunächst sicher der simpelste von ihnen. Ein haltloser spanischer Edelmann, dem guten Leben, dem Wein und vor allem den Frauen so verfallen, dass ihn nicht einmal die Aussicht auf ewige Höllenstrafen zurückhalten kann. Beim spanischen Mönch Tirso de Molina, der vermutlich 1613 als erster Don Juan aufs Theater gebracht hat, ist die Geschichte noch eine moralische Erzählung vom falschen Leben. Sehr lustig ist das nicht, aber auf komische Effekte war Tirso de Molina nicht aus. Er musste aufpassen, zwischen dem moralischen Anspruch der Kirche, deren Würdenträger er war, und dem Unterhaltungsbedürfnis seines Publikums nicht zerrieben zu werden. Sein Ziel war moralische Unterhaltung: Schaut her, das passiert, wenn man ein gottloses Leben führt!

Die einfache Ausgangssituation – ein Mann verführt alle Frauen, bis er den Bogen überspannt und vom Teufel geholt wird – bescherte dem Stoff einen riesigen Erfolg auf den europäischen Bühnen. Im Gegensatz zum versponnenen Don Quijote, dem grüblerischen Faust und dem ewig zweifelnden Hamlet war hier ein Bösewicht voller Vitalität am Werk, einer, den man zwar nicht mag, aber bewundert. Als Figur des Stegreiftheaters, der Commedia dell’arte, machte Don Juan Karriere, was nicht ohne Auswirkungen auf die Geschichte blieb. Viel Volkstheater-Tradition ist in sie eingegangen. Am deutlichsten sieht man das vielleicht an Leporello, dem manchmal schlauen, manchmal aber auch ziemlich vertrottelten Diener Don Giovannis, der sich rechtzeitig von ihm absetzt, um nicht von ihm ins Verderben mitgezogen zu werden. Er wird im 2. Akt sogar zum Diener zweier Herren und muss alle Bälle in der Luft behalten, weil er nicht weiß, welche Partei gewinnen wird. Der Höllensturz am Ende ist ein typischer Coup des Volkstheaters, der in den Aufführungen auch entsprechend aufwendig gestaltet werden musste; wohlige Schrecken solcher Art waren beim Publikum außerordentlich beliebt. Auch im Puppentheater übrigens, wo man die Abreise des Don Juan auf dem Rücken des Teufels besonders wirkungsvoll in Szene setzen konnte.

Don Giovannis Psychologisierung Der Reiz von Da Pontes und Mozarts Bearbeitung des Stoffs, die ohne Zweifel bis heute die wichtigste und einflussreichste ist, ist die genaue psychologische Ausgestaltung der Figuren unter Beibehaltung vieler Volkstheater-Elemente. Dadurch entsteht eine Art Welttheater, das nicht einfach in eine Kategorie wie „Dramma giocoso“ zu fassen ist. Denn auf der einen Seite ist das Libretto eine feine Charakterstudie, auf der anderen lässt es kaum einen möglichen Theatereffekt links liegen. In dieser Hinsicht ist es Da Pontes anderen Textbüchern für Mozart zwar verwandt, aber es geht noch weiter. Don Giovanni muss für die anderen Figuren, genau wie für uns Zuschauer, beides sein: eine „anima di bronzo“, eine Seele aus Bronze, wie Leporello ihn einmal nennt; unverletzlich, weil er sich aus der menschlichen Gemeinschaft verabschiedet hat und deshalb von ihr nichts mehr zu fürchten und zu hoffen hat. Aber auch einer, der uns anzieht, weil er die dunklen Seiten in uns allen offen auslebt. Im Originaltitel heißt er „dissoluto“, der, der sich von allen moralischen Regeln der Gesellschaft losgelöst hat. Für sich gesehen ist Don Giovanni eine einfache Figur, er folgt seinen Trieben und lässt sich dabei durch nichts beirren. Kompliziert wird er durch die Menschen um ihn herum. Der Mozart-Forscher Stefan Kunze hat das Don-Giovanni-Paradox so beschrieben: Er stiftet dadurch, dass sich alle anderen auf ihn beziehen, eine Gemeinschaft zwischen ihnen; zugleich zerstört er aber durch seine Asozialität jede Gemeinschaft. Das ist genau das Problem von Donna Anna, Don Ottavio und Donna Elvira. Sie wissen, dass sie etwas gegen Don Giovanni unternehmen müssen, aber sie sind zu fasziniert von ihm, um es wirklich tun zu können. Auf der unteren sozialen Ebene ist es ähnlich: Zerlina will sich mit Don Giovanni nach oben schlafen und dem eifersüchtigen Langweiler Masetto entkommen; sie ist aber klug genug, sich ihn warm zu halten, falls der Plan scheitern sollte. Masetto schließlich ist der einzige, der zu schlicht ist, um Don Giovanni zu verfallen. Aber auch er spürt, dass da eine Macht am Werk ist, gegen die er nichts ausrichten kann.

An den anderen Figuren wird auch deutlich, dass Don Giovannis Psychologisierung Grenzen hat. Vor allem ist er nämlich ein Provokateur. Er existiert nicht um seiner selbst willen, sondern um die anderen in Unruhe zu versetzen. Er ist ein Abgrund und lässt die anderen in ihre Abgründe schauen. Er bringt nicht das Beste, aber das Interessanteste in ihnen hervor. Weil er sie provoziert, kann er nicht werden wie sie und muss ablehnen, als ihn der Komtur zur Reue auffordert. Nicht einmal im Angesicht der Hölle ist er bereit, seine Art zu leben für falsch zu halten. Dass er nicht anders sein kann, als er ist, macht die Faszination aus, die von dieser Figur ausgeht.


Frauen-Tragödien

Besonders Donna Anna und Donna Elvira werden in Don Giovannis Bann zu tragischen Figuren. Anna ist heillos zerrissen zwischen ihrer Liebe zu Don Giovanni, den Ansprüchen ihres Verlobten Don Ottavio und dem gewaltsamen Tod ihres Vaters. Für sie gibt es von Anfang an nichts zu gewinnen. Nach einigem Zögern schickt sie sich ins Unvermeidliche: Sie muss ihre Liebe abtöten, den Vater rächen und Ottavio heiraten. Das ist ihre einzige Chance auf eine psychisch stabile Zukunft.

Noch mehr Raum haben Mozart und Da Ponte Donna Elvira gegeben. Sie ist Don Giovannis Nemesis, die ihn immer wieder einholt und darauf pocht, er müsse sein Treueversprechen an sie erfüllen. Dabei oszilliert sie zwischen einer Krawallschachtel und einer unglücklich Liebenden, die zutiefst berührt. Sie weiß genau, dass eine Beziehung mit Don Giovanni unmöglich ist, trotzdem kann sie sich nicht von ihm lösen und will jede vermeintliche Chance nutzen, ihn zurückzugewinnen. Am Ende ist sie die einzige Figur, die wirklich alleine bleiben muss. Zerlina und Masetto wollen so schnell wie möglich heiraten, Anna und Ottavio im nächsten Jahr. Leporello sucht sich „padron miglior“, einen besseren Herrn. Elvira hofft, im Kloster dem zur Hölle gefahrenen Don Giovanni am nächsten zu sein.

Unbeschadet geht nur Zerlina aus dem Drama hervor. Zwar hat sich ihre Hoffnung zerschlagen, durch Don Giovanni sozial aufzusteigen, aber sie hat viel dabei gelernt. Sie ist die einzige, die es an Egoismus mit Don Giovanni aufnehmen kann. Wo er nur sein Vergnügen sucht, sucht sie nach einem besseren Leben und ist dafür bereit, alle um sich her über die Klinge springen zu lassen. Als sie merkt, dass Don Giovanni es nicht ernst mit ihr meint, kriegt sie noch die Kurve zu einer ordentlichen Ehe mit dem braven Masetto. Ob der mit ihr froh wird – und sie mit ihm –, ist allerdings zu bezweifeln.

Ein charmanter Psychopath Don Giovanni ist ein Ekel – dem Zuschauer soll es leicht fallen, sich von ihm abzuwenden und seine Höllenfahrt als verdiente Strafe zu akzeptieren. Das ist das Erbe der moralischen Komödie. Die Psychologie hat sich lustvoll daran gemacht, Giovannis unstillbaren Frauenhunger aus seiner möglichen Biografie abzuleiten, ihn zu erklären durch frühe narzisstische Kränkungen oder mit der ewigen Suche nach der verbotenen Liebe zur Mutter (die in keiner Bearbeitung des Stoffs eine Rolle spielt). Das alles sind Konstruktionen einer Figur, doch sicher ist nur das, was wir aus dem Stück herauslesen können. Und hier zeichnet sich Don Giovanni vor allem durch einen eklatanten Mangel an Mitgefühl aus. Er selbst sieht das zwar anders, weil er die Treue zu einer Frau als Verrat an allen anderen begreift, aber es ist offensichtlich, dass ihm die Gefühle nicht nur der in ihn verliebten Frauen, sondern auch seines treuen Begleiters Leporello ziemlich egal sind, von anderen männlichen Mitmenschen wie dem Komtur oder Don Ottavio ganz zu schweigen. Don Giovannis Eigenschaften lesen sich wie ein Symptomkatalog dessen, was man inzwischen als dissoziale Persönlichkeitsstörung bezeichnet: fehlende Empathie, Promiskuität, übersteigertes Selbstvertrauen, Missachtung sozialer Regeln, kein Unrechtsbewusstsein – als Nebenwirkungen aber auch Charme, hohe Risikobereitschaft, beruflicher Erfolg und Verführungskraft. Don Giovannis Erfolg bei Frauen kommt daher, dass er in dem Moment, in dem er um sie wirbt, ganz bei sich und ganz ehrlich ist, für den Augenblick also wirklich voll von der Liebe und dem Begehren, von dem sie träumen.

Ob man Don Giovanni mag oder nicht: Auf der Bühne steht er für das Prinzip des Außerordentlichen, des Grenzen Sprengenden, für das, was über das Alltägliche hinausgeht, wofür zum Beispiel ein Don Ottavio als Rationalist und schüchterner Bräutigam steht. Einem Don Giovanni möchte man nicht als Nachbarn, Arbeitskollegen und auf die Dauer auch nicht als Liebespartner begegnen. Trotzdem hat er seinen Platz, am besten auf der Bühne. Denn dort können wir ihn wie einen Sündenbock stellvertretend für alles, was in uns gerne Don Giovanni wäre, in die Wüste schicken – nicht ohne ihm vorher noch mal über sein schillerndes Fell gestreichelt zu haben.


Zwei Fassungen

Zu Mozarts Zeit war der Don-Juan-Stoff auf der Opernbühne in Mode. Es war also nicht überraschend, dass ihn der Genussmensch und Frauenheld Lorenzo Da Ponte für seine zweite Zusammenarbeit mit Mozart auswählte. Er stützte sich auf einen kurz zuvor uraufgeführten „Don Giovanni“ von Giuseppe Gazzaniga mit einem Textbuch von Giovanni Bertati. Dieser Bertati war ein bedeutender Konkurrent Da Pontes und wurde deshalb in dessen Memoiren mit einigen Schmähungen bedacht, vermutlich auch, um zu kaschieren, dass Da Ponte sich bei seinem „Don Giovanni“ an Bertatis Arbeit orientiert hatte. Am 29. Oktober 1787 hatte Mozarts Oper in Prag Premiere, ein gutes halbes Jahr später kam es auf Initiative von Kaiser Joseph II. zu einer Aufführung in Wien. Für sie nahm Mozart größere Änderungen vor, ersetzte eine Reihe von Arien und komponierte Stücke hinzu. Die Wiener Änderungen deuten aber nicht darauf hin, dass Mozart dem Werk eine neue Richtung geben wollte. Mozart hat seine Partien meistens auf die Sängerinnen und Sänger der Uraufführungen zugeschnitten, und die Wiener Besetzung hatte andere Qualitäten als die aus Prag. Unsere Nürnberger Neuinszenierung folgt fast vollständig der Prager Urfassung, nur Donna Elviras Arie „Mi tradì“ und das zugehörige Rezitativ im 2. Akt kommen aus der Wiener Fassung hinzu, um das Profil dieser wichtigen Figur noch weiter zu schärfen.

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