• Parsifal
  • Staatstheater Nürnberg
  • Oper von Richard Wagner, Saison 2023/24
  • S. 15-22

Das faszinierende Fremde

Text: Georg Holzer

In: Parsifal, Oper von Richard Wagner, Saison 2023/24, Staatstheater Nürnberg, S. 15-22 [Programmheft]

Über den Künstler Richard Wagner gibt es viel Gutes zu sagen, über den Menschen wenig. War er als Mensch für seine Umwelt eine ungeheure Zumutung, war genau das als Künstler seine Qualität. Es gibt nur wenige Künstler, die ihrem Publikum so viel abverlangt haben wie Richard Wagner. Trotzdem hat er nicht nur die (ziemlich große) verschworene Gemeinschaft der Wagnerianer begründet, sondern von Anfang an und bis heute ein großes Publikum für sich begeistert. Und das mit Opern, die maßlos sind in ihrer musikalischen Form, ihrem geistigen Gehalt und ihrer zeitlichen Ausdehnung. Mit „Parsifal“, seiner letzten Oper, hat Wagner diesen Anspruch zum Äußersten getrieben: Es ist das längste seiner langen Stücke, und es passiert wenig. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob „Parsifal“ sein Opus summum ist oder ob er damit sich selbst, sein Publikum und die Kunstform Oper endgültig überfordert hat. Es ist jedenfalls ein Werk, das nicht gleichgültig lässt und uns immer wieder provoziert.


Raum und Zeit

„Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit“, sagt Gurnemanz im ersten Akt zu Parsifal. Er hat den Jungen gerade als völlig unbedarften Idioten kennen gelernt, weshalb er nicht davon ausgehen kann, dass Parsifal diesen Satz versteht. Damit ist Parsifal allerdings nicht alleine. Liegt in diesem berühmten Ausspruch der Schlüssel zum tieferen Sinn des Dramas, oder ist es ein gelungenes Bonmot, das nach mehr Bedeutung klingt, als es hat?

„Zeit“ ist im „Parsifal“ eine unscharfe Kategorie. Sicher, der Ablauf des Dramas verschlingt viel Zeit, kaum eine Oper des Repertoires hält ihr Publikum so lange im Zuschauerraum gefangen wie diese. Aber wie sieht es mit der Zeit im Stück selbst aus? Wann spielt es? In einem mythischen Mittelalter, irgendwann zwischen der Kreuzigung Christi und unserer Gegenwart. Die „Parsifal“-Welt beschreibt keine historische Situation, sondern einen Zustand. Über welchen Zeitraum spannt sich die Handlung? Titurel, der Seniorchef des Heiligen Grals, ist schon im ersten Aufzug in Rente und offenbar dem Tode nah, im viel später spielenden dritten Akt ist er dann tot, aber noch nicht lange. Amfortas ist schwer verwundet, aber er kann die Zeit nicht überwinden und sterben. Parsifal marschiert vom Abendmahl in der Gralsburg wohl direkt zu Klingsors Zauberschloss, aber wie lange braucht er für den Rückweg? Gurnemanz, der anfangs noch „rüstig“ war, ist nun ein „hoher Greis“. Parsifal hat eine Odyssee von „Irrnis und Leiden“ hinter sich, die offenbar lange gedauert hat. Die Gemeinschaft des Grals ist in Auflösung begriffen. Der Retter hat lange, fast zu lange auf sich warten lassen.


Verführerin wider Willen

In Kundrys Leben ist die Zeit völlig aufgehoben. Sie ist eine lebende (oder besser untote) Legende. Dieser zufolge hat sie, das Symbol der Sexualität, einst dem keuschen Jesus ins Gesicht gelacht. Dafür ist sie zur Unsterblichkeit verflucht und dazu, jeden Mann verführen zu können und zu müssen. Erst wenn ihr einer widerstehen kann, ist ihre irdische Reise zu Ende.

Sollte Wagner vorgehabt haben, die Männerverderberin Kundry negativ zu zeichnen, ist es ihm nicht gelungen. Sie ist wahrscheinlich seine interessanteste Frauenfigur: nicht so heilig wie Elisabeth, nicht so verliebt in die Liebe wie Senta, Elsa und Eva, nicht so bedingungslos liebend wie Sieglinde und Isolde, brüchiger als Brünnhilde. Kundry hat Macht über die Männer, aber sie genießt diese Macht nicht. Es tut ihr unendlich leid, dass Amfortas durch sie in Schwierigkeiten geraten ist, obwohl sie ja dabei nur Klingsors Werkzeug war und nicht aus eigenem Willen gehandelt hat. Sie versucht, diese vermeintliche Schuld dadurch zu sühnen, dass sie die Gralsritter unterstützt, wo immer sie kann. Viel ist das zwar nicht, aber Amfortas und Gurnemanz wissen ihren guten Willen zu schätzen und mögen sie gern. Und das, obwohl sie wissen, dass Kundry mit Klingsor, ihrem Erzfeind, gezwungenermaßen zusammenarbeitet.

Klingsor ist es auch, der Kundry befiehlt, den Idioten Parsifal zu verführen und so in den Abgrund zu reißen. Sie muss diese Aufgabe übernehmen und geht sie mit System an, indem sie Parsifal an seinem wunden Punkt trifft: der Beziehung zu seiner Mutter. Die Mutterrolle bei ihm einzunehmen und auf diesem Weg dann seine Geliebte zu werden, das ist ihr Kalkül. Wagner schreibt dazu eine Musik, die nicht verführerisch klingt wie ein Tanz der sieben Schleier, den Kundry aus ihrer früheren Inkarnation als Salome auch im Repertoire hätte, sondern eine, die friedlich und beruhigend, eben mütterlich klingt. Aber ihre Rechnung geht nicht auf. Der lange Kuss, der mütterlich beginnt und erotisch enden soll, lässt bei Parsifal das Zehnerl fallen. Sein Ausruf „Amfortas!“ ist der Aufschrei der Sexualangst. Jetzt endlich hat er es kapiert: Wer sich mit einer Frau einlässt, läuft in den Untergang.


In einer Männerwelt

Die Welt von Wagners Opern ist eine Männerwelt. Das zeigen schon die Titel: Die meisten Stücke sind nach Männern benannt, nur die Walküre Brünnhilde und Isolde haben es zu Titel-Ehren gebracht (und Letztere auch nur an der Seite eines Mannes). Im „Parsifal“ treibt Wagner diesen Kult der Männlichkeit auf die Spitze. Hier werden nicht mehr Männer von opferbereiten Frauen erlöst, sondern die Männer erlösen sich von den Frauen. Nun ist gegen die freiwillige Entscheidung zu einer zölibatären, der Spiritualität gewidmeten Lebensform erst einmal nichts einzuwenden. Aber im „Parsifal“ ist die Sache perfider. Es geht den Männern nicht darum, sich von den Frauen zu befreien, sondern, über ihren Verzicht auf Sexualität, Macht über sie zu gewinnen. Am deutlichsten sieht man das am Bösewicht Klingsor. Der war nicht immer böse, sondern wollte einst ein guter Gralsritter sein, bekam aber seinen Geschlechtstrieb nicht in den Griff, weshalb er seinem schwachen Willen mit physischen Mitteln aufhalf und sich selbst entmannte. Aber in der Gralswelt gilt das nicht. Wer so wenig Selbstdisziplin hat, dass er sich kastrieren muss, um die Gesetze des Grals einzuhalten, fliegt raus. Nun sitzt er mit abgeschnittenen Hoden in seinem Zauberschloss und grollt zum Gral hinüber. Seine einzige Chance, die ihm nun verhasste Gralsgemeinschaft zu sprengen, sind die verführerischen Blumenmädchen, denen er vorsteht wie ein Eunuch seinem Harem. Aber vor allem ist es Kundry, die ihm zu Diensten sein muss, weil er ihr widerstehen kann. (Erlösen aber kann er sie nicht durch seinen Verzicht, er zählt nicht, er ist ja kein richtiger Mann mehr.) Amfortas ist in Schwierigkeiten, weil er die Macht über die Frauen für einen Augenblick verloren hat und dafür sofort hart bestraft wurde. Sein trauriges Beispiel rettet Parsifal, der so erkennt, dass es Unglück bringt, sich mit Frauen einzulassen. So kann er sein Amt als Gralskönig unbefleckt antreten. Zu unserem Glück scheint er seine Meinung später geändert zu haben, schließlich bekommt er im weiteren Verlauf der Legende zwei Söhne, ohne deren einen, Lohengrin, wir um eine Wagner-Oper ärmer wären.


Die Geheimnisse des Orchesters

„Parsifal“ ist voller Geheimnisse, die nicht aufgelöst werden. Was ist der Gral? Was bedeutet Erlösung? Wer ist Kundry wirklich? Wo war Parsifal vor seiner Rückkehr in die Gralsburg? Was ist der „Karfreitags-Zauber“? Wagner hat nicht die Absicht, uns all das zu erklären. Im Gegenteil führt jeder Erklärungsversuch noch tiefer in die Rätselhaftigkeit dieser Geschichte hinein. Doch Wagner hat ein Instrument, das die offenen Fragen zwar nicht beantwortet, aber eine allumfassende Antwort fühlen lässt: das Orchester. Im „Parsifal“ weiß oder ahnt das Orchester mehr als die Figuren auf der Bühne. Es teilt ihnen ihre Sprache zu: Reine Dur- und Moll-Tonarten für die Gesänge der Gralsritter und der himmlischen Sphären und für den reinen Toren Parsifal, komplizierte Chromatik für Klingsors vertracktes Zauberreich und Amfortas’ unendliche Schmerzen. Die Leitmotive, sparsamer, aber nicht weniger intensiv eingesetzt als in der „Ring“-Tetralogie, führen uns durchs Stück und verdeutlichen die Bezüge der Figuren und Themen untereinander. Hinter den komplexen musikalischen Verästelungen lassen sich alte, einfache Formen wie Rezitativ, Arie und Choral erkennen. Wagner arbeitet im „Parsifal“ weniger spektakulär, dafür detaillierter an der Verschlingung von Themen und Harmonik. Musikalisch ist seine letzte Oper tatsächlich das Ergebnis seines Jahrzehnte langen Bemühens, die Kunstform neu zu denken. Es gibt Verweise zur Alten Musik, auf die Gregorianik, trotzdem ist das Stück in jedem Takt unverkennbar modern und zukunftsweisend.


Mythos und Religion

Die Faszination des Mittelalters ist eine lebenslange Quelle für Wagners Werk. Da das Mittelalter eine christliche Welt war – in den Auseinandersetzungen zwischen Christentum und heidnischen Kulten sowie dem Islam vielleicht die christlichste überhaupt –, spielen christliche Motive in seinen Opern an manchen Stellen eine Rolle: der Kampf zwischen Christen und Heiden in „Lohengrin“, die Buße des reuigen Sünders in „Tannhäuser“. Trotzdem war der Komponist bis zum „Parsifal“ nicht durch übermäßige Religiosität aufgefallen. Nun aber wird es fromm: Mit feierlichstem Ernst werden im 1. Akt das Abendmahl und im 3. Akt die Zeremonie der Gralsenthüllung zelebriert, als sei auch Wagner davon überzeugt, das Heil des Menschen ließe sich nur in der Nachfolge des Heilands finden. Was war mit Wagner passiert? Griff da ein kranker alter Mann zum Strohhalm religiöser Heilsverheißung? Ist „Parsifal“ vielleicht wirklich mehr Gottesdienst als Theater? Oder der Versuch, das Theater in einen Tempel der Spiritualität zu verwandeln? Wenn Wagner das wollte, ist es ihm überraschenderweise sogar gelungen. Den „Parsifal“ kann nur genießen, wer sich auf diese zeit- und ortlose Geschichte einlässt und bereit ist, sich vom Klang der Stimmen und des Orchesters in eine andere Welt tragen zu lassen.

PDF-Download

Artikelliste dieser Ausgabe