- Emilie
- Staatstheater Mainz
- Oper von Kaija Saariaho - Saison 2023/24
- S. 9-11
Émilie ist Émilie ist Émilie
Émilie du Châtelet – das Bild einer Frau
Text: Sonja Westerbeck
In: Emilie, Oper von Kaija Saariaho - Saison 2023/24, Staatstheater Mainz, S. 9-11 [Programmheft]
Nachdenklich am Schreibtisch, vor ihr ein Foliant; in der rechten Hand den Zirkel, den linken Ellenbogen aufgestützt auf weiteren Büchern – Notizbücher? Tagebücher? Briefe? –; der Kopf leicht geneigt auf der Hand abgestützt. Das Dekolleté tief; gepudert-blass; reich gekleidet, über den Schultern ein Tuch – im Detail erkennbar mit Pailletten bestickt. Der Blick ist ruhig und klar, geradeaus, ein leichtes Lächeln, aber nicht verträumt. Im Hintergrund ein Globus. Das Gemälde von Maurice Quentin de la Tour zeigt eine der bedeutendsten Wissen schaftlerinnen zur Zeit der Aufklärung: Émilie du Châtelet.
Geboren wurde sie im Jahr 1706 in Paris als Gabrielle Émilie Le Tonnelier de Breteuil, als Tochter eines Aristokraten, der am Hofe Ludwig XIV. für den protokollarischen Kontakt zu den Botschaftern anderer Länder zuständig war. Émilies Vater spielte eine entscheidende Rolle für ihren Lebensweg: Er sorgte dafür, dass nicht nur seine vier Söhne eine umfassende klassische Bildung erhielten, sondern auch seine Tochter. Dank ihres Wissensdursts und ihrer außergewöhnlichen Auffassungsgabe hatte Émilie keine Schwierigkeiten, mehrere Fremdsprachen zu erlernen, darunter Latein, Griechisch, Englisch und Italienisch; hochgebildete Hauslehrer weckten zusätzlich ihr Interesse an Philosophie sowie an Mathematik und Physik.
Mit 18 Jahren wurde sie mit dem Marquis Florent-Claude de Chastellet-Lomont verheiratet. Nach der „pflichtmäßigen“ Geburt dreier Kinder nahm sie sich wieder die Zeit, ihre Kenntnisse in Mathematik zu vertiefen. Als ihren Lehrer wählte sie den Mathematiker Pierre-Louis Moreau de Maupertuis aus, langjähriges Mitglied der Académie des sciences. In dieser Zeit herrschte unter den Mitgliedern der Académie ein heftiger Streit darüber, welche Form die Erde hat: Gibt es eine Zuspitzung der Kugelform zu den Polen oder eine Abplattung?
Einer der Treffpunkte der Wissenschaftler ist das Café Gradot, das jedoch nicht von Frauen betreten werden darf. Als Émilie du Châtelet der Zugang verweigert wird, kümmerte sie sich nicht um die diskriminierende Konvention und ließ sich Männerkleider schneidern, in denen sie ungehindert Zugang zum Café fand.
Bereits in diesen Jahren pflegte sie ein Verhältnis mit Voltaire – eine intensive geistige Freundschaft blieb bis zu Émilies Tod bestehen. 1738 erscheint Voltaires Buch Éléments de la philosophie de Newton. Im Vorwort schreibt er, dass dieses für die Allgemeinheit verfasste Werk nicht ohne die Mitwirkung von Émilie du Châtelet zustande gekommen wäre.
1745 begann de Châtelet dann selbst mit der Arbeit an ihrem Hauptwerk, der Übersetzung von Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica aus dem Lateinischen ins Französische. Dabei beschränkte sich du Châtelet nicht auf das bloße Übersetzen der dritten Auflage des Werks von 1726, sondern ergänzte die Stellen, an denen Newton sich ihrer Meinung nach zu kurz gefasst hat. Während der Bearbeitung ließ sich die Wissenschaftlerin von Alexis-Claude Clairaut beraten, einem der führenden Mathematiker und Astronomen Frankreichs.
Im Alter von 42 Jahren wurde Émilie du Châtelet nach einer Affäre mit dem Dichter Jean-François de Saint-Lambert noch einmal schwanger. Ihr Ehemann schöpfte zwar Verdacht, dass er nicht der Vater des Kindes sei, aber Voltaire konnte ihm diesen Gedanken ausreden.
Émilie ahnte wohl – so ist es aus ihren Briefen zu schließen – , dass diese späte Schwangerschaft lebensgefährlich für sie werden könnte, und arbeitete unermüdlich, um die Kommentare zum Newtonschen Werk zu vollenden. Tatsächlich starb sie 1749, sechs Tage nach der Geburt ihrer Tochter; das Neugeborene überlebte nur einige Monate.
Erst Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte Clairaut ihr Werk, ergänzt durch einige noch fehlende Kommentare und durch ein Vorwort Voltaires, in dem dieser seine tiefe Bewunderung für diese einzigartige Frau zum Ausdruck bringt.
Aber das Bild von Émilie du Châtelet ist nicht komplett ohne die Zeichnung ihrer anderen Seite, die in kuriosem Gegensatz zu ihrer disziplinierten, extrem fokussierten wissenschaftlichen Arbeitsweise zu stehen scheint. Schließt man aus Berichten von Zeitgenossen und aus Briefen, ist bemerkenswert, wie frei, wie ungewöhnlich unkonventionell sich Émilie offenbar gesellschaftlich bewegt hat. Über ihr viel zu tiefes Dekolleté, das sie – in ansonsten modisch-üppige Kleider gehüllt – bei jeder Gelegenheit präsentierte, wurde getratscht; ihre Verschwendungssucht, ihr Hang zum Glücksspiel und eine gewisse Neigung zum Theatralischen lassen das farbenfrohe Bild einer exzentrischen, lebenshungrigen Frau vor unseren Augen entstehen. So zielstrebig sie wohl in ihren wissenschaftlichen Arbeiten war – so extrem war sie offenbar auch in ihrer Gefühlswelt: Ihre letzten Briefe an Saint-Lambert sind hochemotional alles andere als lieblich und gefügig. Voltaire beschrieb sie vielzitiert als „göttliche Geliebte“ – doch Émilie du Châtelet scheint nicht den klischierten Liebeskonzeptionen des 18. Jahrhunderts zu entsprechen.
Ebenso beanspruchte sie eine gewisse Selbstverständlichkeit für sich, gehört und gesehen zu werden wie Männer ihres Standes. Laut Überlieferungen war sie eine eindrucksvoll große Frau: Mit 1,70m überragte sie damals einen Großteil der Männergesellschaft, in der sie sich bewegte. Sie hatte in Gesellschaft einen Hang zum Theatralen, zum „großen Auftritt“. Mit Voltaire spielte sie einige seiner Stücke in einem eigens dafür eingerichteten kleinen Theater auf Schloss Cirey-sur-Blaise nach. Auf diesem Schloss in der Champagne, wo sie einige Jahre zurückgezogen mit Voltaire lebte, schuf sie sich außerdem ihr eigenes Labor: In ihrer Sucht, Dinge anzuschaffen, entstand ihr „Refugium“ mit modernster technischer Ausstattung für physikalische Experimente und naturwissenschaftliche Forschungsprojekte.
Und auch auf philosophischem Gebiet konnte sie Errungenschaften verzeichnen: Sie fordert ein Menschenrecht auf Bildung, das den Frauen dieselben Chancen wie den Männern einräumt, am öffentlichen Leben teilzunehmen und sie sieht darin eine der Quellen des Glücks, die der Hälfte der Menschheit bis dahin vorenthalten worden sei. Um diesen Missstand zu beseitigen, so schreibt sie in ihrem Discours sur le bonheur – Die Rede vom Glück, sei eine neue Erziehung vonnöten; eine Erziehung, die es Frauen ermögliche, gleichberechtigt in den Wissenschaften zu reüssieren.
Richten wir das Licht also auf die historische Figur der Émilie du Châtelet, sehen wir ein dichtes, komplexes Bild einer Frau, die mit ihrem Wissen europäische Weltsicht mitgestaltet, für Erkenntnis sorgt, zum philosophischen Nachdenken über das Glück anregt und die gesellschaftliche Verankerung der Frauen bis in die Änderung der Menschenrechte eingefordert hat.
Ohne Frage, sie hatte sowohl die Möglichkeiten, die andere Frauen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht hatten, als auch die persönlichen Voraussetzungen und Talente, gepaart mit ungewöhnlicher Wissbegierde, Fleiß und Ehrgeiz, die sie zur femme savante und Physikerin werden ließen.
Fast metaphorisch wirken die Gebiete, auf denen Émilie geforscht hat, nämlich das der kinetischen Energie, jener Kraft, die auch Bewegungsenergie oder Geschwindigkeitsenergie genannt wird. Sie benennt die Energie, die ein Objekt aufgrund seiner Bewegung enthält. Außerdem hat Émilie zur Beschaffenheit des Feuers respektive der Sonne geforscht.
Im Bild von Émilie sehen wir die Kraft und Beweglichkeit des Geistes, die Widersprüche ihrer Leiden schaften – und immer in der Hand: den Zirkel.
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