• Emilie
  • Staatstheater Mainz
  • Oper von Kaija Saariaho - Saison 2023/24
  • S. 14-16

Ohren auf!

Die Komponistin Kaija Saariaho

Text: Sonja Westerbeck

In: Emilie, Oper von Kaija Saariaho - Saison 2023/24, Staatstheater Mainz, S. 14-16 [Programmheft]

Schon in ihrer Kindheit wird sie von Klängen umwirbelt. Sie flattert durch Tagträume und kann nachts nicht schlafen, weil das Kopfkissen ununterbrochen Musik spielt. Die Mutter solle es doch bitte ausschalten – aber die musikalischen Welten der Komponistin Kaija Saariaho lassen sich nicht abdrehen wie ein Radio. Zum Glück: Am Ende ihres Lebenswegs, der in Helsinki am 14. Oktober 1952 beginnt, ist Kaija Saariaho eine der weltweit meist beachteten, -geschätzten und -aufgeführten Komponist*innen der Gegenwart.

Dabei beginnt ihr Lebensweg als Künstlerin und Komponistin alles andere als reibungslos: An der Sibelius-Akademie in Helsinki, an der sie sich für ein Kompositionsstudium bewirbt, lehnt man sie zunächst ab. Begründung: Sie werde sowieso bald heiraten und das Studium sei reine Zeitverschwendung.

So studiert sie zunächst Graphik und Design und macht sich mit ästhetischen Kategorien vertraut. Pekuniär ist sie durch den Erfolg ihres Vaters Launo Laakkonen (1925–2009), eines weltweit bekannten Entwicklers von Schutzbunkertechnologie, abgesichert. Doch sie hat ein weiteres Ziel, geht den Weg des größtmöglichen Widerstandes und will weiterhin Komponistin werden.

Ihre Beharrlichkeit zahlt sich aus: Sie wird in Helsinki angenommen und studiert zunächst Geige und Klavier sowie Malerei. Saariahos Mantra lautet dabei: Korvat auki! – Ohren auf! So gründet sie in den 70ern mit einer Gruppe von Avantgardisten rund um Magnus Lindberg die Gruppe Open Ears, um damit ein Zeichen zu setzen für Veranstalter*innen und Zuhörer*innen gleichermaßen, sich auf eine größere musikalische Vielfalt einzulassen.

Nach ihrer Zeit in Helsinki setzt sie ihre Studien in Komposition in Freiburg bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber fort. „Ich habe keinen anderen Rat, als hart daran zu arbeiten, Musik zu machen, die gut geschrieben und originell ist. Das sollte immer das erste Kriterium sein, und ich hoffe, dass dies auch in meinem Fall der Fall war. Die Welt verändert sich in dieser Hinsicht, wenn auch schmerzhaft langsam. In meiner Jugend habe ich zum Beispiel gehört, dass Frauen nicht komponieren können, weil sie nicht in der Lage sind, abstrakt zu denken, oder dass ihr Körper nicht genug Testosteron hat. Zumindest hoffe ich, dass meine jungen Kolleginnen sich solche Kommentare nicht mehr anhören müssen!“, resümiert die Komponistin über ihre Anfänge.

Saariahos erste Werkskizzen sind oft graphisch und intuitiv. Gleichwohl setzt sie sich mit elektronischen und digitalen Möglichkeiten der Klanggestaltung sowie mit anspruchsvoller Literatur auseinander. „Während ich die Musik schreibe, sammle ich Erfahrungen mit meinem musikalischen Material. Ich würde es seltsam finden, einen Sprung nach vorne zu machen und dann zu versuchen, die Lücke zu schließen. Für mich ist der geradlinige Umgang mit meinem Material absolut notwendig, denn um mein Material zu entwickeln, muss ich mich in diesem Prozess mit bestimmten Erfahrungen auseinandersetzen. Welche Erfahrungen genau das sein werden, kann ich natürlich nicht sagen“, beschreibt Saariaho ihre Arbeitsweise.

Anfang der 1980er Jahre zieht sie nach Paris und landet am Institut de recherche et coordination acoustique/musique (IRCAM). Dort beginnt sie, erstmals ihre glitzrigen Klanglandschaften zu bauen, mischt elektronische und akustische Klänge, experimentiert mit Computerprogrammen. In Paris findet sie nicht nur musikalisch, sondern auch privat und persönlich eine neue Heimat: Die guten Arbeitsbedingungen am IRCAM und die Liebe zum Komponisten Jean-Baptiste Barrière (*1958) lassen sie zur Wahl-Pariserin werden. Eine Vielzahl ihrer über 100 Werke für unterschiedlichste Besetzungen schreibt die Finnin hier.

Als sie in den 80ern auch beginnt, Interviews zu geben, lehnt sie sich mit aller Macht des Wortes gegen die finnische Opernmode auf und betont, sie würde nie eine Oper schreiben. Ihre frühe Miniatur Study of Life für Sopran, Elektronik und Licht nach T. S. Elliot (1981/2019) ist als konzeptuelle Alternative gemeint. Spätestens im Jahr 2000 wird der Name Saariaho dann aber doch mit einem Musiktheater-Werk einem breiteren Publikum bekannt: Ihre Debütoper L’amour de loin feiert bei den Salzburger Festspielen in der Regie von Peter Sellars eine umjubelte Premiere. Kaum eine zeitgenössische Komponistin wird heute so oft gespielt wie Saariaho. Ihre Opern werden in der Folge an den renommiertesten Häusern aufgeführt, und ihre Orchester- und Kammermusik ist weltweit zu hören. Zahlreiche Preise hat Saariaho abgeräumt (u. a. Kranichsteiner-Musikpreis, Grammy, Goldener Löwe). Heute gelten besonders ihre abendfüllenden Opern als Meisterwerke zeitgenössischen Musiktheaters: L’amour de loin (2000), Adriana Mater (2006), Emilie (2010) und Innocence (2021).

Den Kontakt zum finnischen Musikleben vernachlässigt sie dabei nie. Saariahos Lebensjahre decken sich mit der besten Zeit in der Geschichte ihrer alten Heimat: Als sie geboren wurde, war Finnland als Gastgeberland der Olympischen Sommerspiele in aller Munde. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Sowjetunion lockerte sich auf, als die Kriegsreparationszahlungen 1952 abgegolten wurden und sich die Wirtschaft endlich wieder frei entfalten konnte. Saariaho verkörpert in diesem Kontext die global westliche Orientierung Finnlands nach dem Weltkrieg, die Liebe vieler Menschen zu Mitteleuropa, die Affinität zu modernen Technologien sowie die Möglichkeit, eigenen Neigungen selbstbewusst nachzugehen.

Saariahos dritte Oper Emilie basiert auf dem Leben von Émilie du Chatelet, einer bedeutenden französischen Mathematikerin und Physikerin des 18. Jahrhundert. Das Libretto von Amin Maalouf setzt in der dunkelsten Stunde Émilies an: mit 42 wird Émilie noch einmal schwanger und ahnt, dass die Geburt für sie lebensgefährlich werden könnte. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, ob sie die Vollendung ihres bedeutendsten wissenschaftlichen Werkes noch vor ihrem Tod schafft. Innere Zerrissenheit, Todesahnung, aber auch Euphorie in ihrem wissenschaftlichen Geist lösen sich in intensiven Stimmungen in diesem Monodram ab. Die Oper ist in 9 Szenen unterteilt, die jeweils durch eine ganz eigene Stimmung, ein persönliches Thema Émilies geprägt sind. Als Monolog im Original für eine Sängerin angelegt, atmet das Werk eine gewisse kontemplative Grundstimmung. Die Orchesterbesetzung sorgt für Farben und Textur, die stimmlichen Anforderungen reichen von einem relativ weiten Stimmumfang über Sprechgesang bis zu teilweise nur auf einzelne Noten gesprochener Text. Im imaginären Dialog mit Voltaire oder auch mit Émilies Vater kommt ein Stimmverzerrer zum Einsatz, der die live gesungene Sopranstimme männlich wirken lässt und somit dieses Zwiegespräch tonal bebildern. Emilie wurde 2010 in Zürich uraufgeführt. Für die deutsche Erstaufführung gab die Komponistin zu ihren Lebzeiten dem Staatstheater Mainz die Zustimmung, die Partie der Émilie auf drei Sängerinnen aufzuteilen.

Im Februar 2021 wurde bei ihr ein Glioblastom diagnostiziert, ein bösartiger und unheilbarer Hirntumor. Die wachsenden Tumore haben ihre kognitiven Leistungen wohl erst im Endstadium ihrer Krankheit beeinträchtigt. Saariaho unterzog sich in einem Pariser Krankenhaus noch hoffnungsvoll einer experimentellen Behandlung, doch sie konnte nicht geheilt werden. 

Am 2. Juni 2023 starb Kaija Saariaho im Alter von 70 Jahren.

Saariaho führte ein erfülltes Komponistinnenleben, in dem Klangfarbe, Unkonventionalität und Neugierde den Ton angaben.

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