• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Mai-Juli 2024
  • S. 6-7

Premiere La Juive

Unversöhnliche Gegensätze?

Text: Maximilian Enderle

In: Magazin, Mai-Juli 2024, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]

Allein im ersten Akt von La Juive werden der jüdische Goldschmied Éléazar und seine Adoptivtochter Rachel dreimal mit dem Tod bedroht. »Werfen wir die Juden in den See! Löschen wir den verhassten Namen dieser Rasse aus!«, brüllt ihnen ein aufgebrachter Mob entgegen. Nie zuvor war antisemitische Gewalt derart drastisch auf der Opernbühne dargestellt worden wie in dem 1835 uraufgeführten Werk von Fromental Halévy. Waren jüdische Figuren bis dato primär im biblischen Kontext oder als karikatureske Zerrbilder gezeichnet worden, so erscheinen Rachel und Éléazar jetzt als realistische Charaktere, die sich mit viel Chuzpe in einer repressiven Welt zu behaupten versuchen.


Oper als politisches Medium

Dass mit Fromental Halévy und seinem Librettisten Eugène Scribe zwei jüdische Künstler überhaupt ein solches Werk erarbeiten durften, lag nicht zuletzt an der politischen Situation in Frankreich zu Beginn der 1830er Jahre: Juden wurden uneingeschränkte Bürgerrechte eingeräumt, was in Europa ein absolutes Novum darstellte. Zudem vertrat Bürgerkönig Louis-Philippe nach der Juli-Revolution ein verhältnismäßig liberales Menschenbild, wofür er nicht zuletzt die Pariser Oper in die Pflicht nahm. Abend für Abend versammelten sich dort über 2000 Menschen verschiedener sozialer Schichten. Für den König war dies ein ideales Forum, um die Gesellschaft mit den Gräueltaten des Ancien Régime zu konfrontieren und die eigene Toleranz umso deutlicher hervorzukehren. 

Die Intendanz der Pariser Oper gab La Juive nahezu zeitgleich mit Meyerbeers Les Huguenots in Auftrag. In beiden Werken steht der Konflikt zwischen einer religiösen Minderheit und einer gewalttätigen katholischen Mehrheit im Fokus. Und in beiden Fällen hieß der Librettist Eugène Scribe. Er skizzierte Halévy bei einem gemeinsamen Spaziergang erstmals die Handlung der Juive, woraufhin der Komponist sofort Feuer und Flamme war.

Während des Arbeitsprozesses veränderte sich die Konzeption des Werkes allerdings stark, woran auch Halévys Bruder Léon maßgeblichen Anteil hatte. Ursprünglich sah Scribe vor, dass sich Rachel im Schlussakt taufen lässt und dadurch dem Flammentod entgeht. Dieses konventionelle Ende (man denke etwa an Shakespeares Kaufmann von Venedig) wurde zugunsten eines tragischen Ausgangs verworfen: Rachel weiß bis zuletzt nicht, dass sie die leibliche Tochter von Kardinal Brogni ist. Nachdem sich die Fronten zwischen Christen und Juden im Laufe der Oper immer mehr verhärten, schlägt sie das Angebot einer rettenden Konversion aus und geht voller Überzeugung für ihren Glauben in den Tod. 

Als historischer Rahmen der Oper waren anfänglich die Inquisitionsprozesse in der portugiesischen Kolonie Goa angedacht. Letztlich fiel die Wahl aber auf die Zeit des Konstanzer Konzils (1414-1418) – mit gutem Grund: Antisemitische Gewalt war in Konstanz seit vielen Jahrunderten omnipräsent und brach sich insbesondere im Nachgang des Konzils ungehindert Bahn. So wurden bei den Kreuzzügen des in Konstanz gekrönten Kaisers Sigismund gegen die Hussiten regelmäßig Pogrome in jüdischen Stadtvierteln verübt.


Europaweiter Erfolg

Im 19. Jahrundert avancierte La Juive mit über 500 Vorstellungen allein in Paris und zahlreichen weiteren Aufführungen in ganz Europa zu den meist gespielten Werken überhaupt. Die Reaktionen auf die Uraufführung waren jedoch so gespalten wie die damalige französische Gesellschaft: Konservative Kritiker mokierten sich über das »jüdische Sujet« und die negative Darstellung der katholischen Kirche; republikanischen Zuschauern, die der Pariser Oper ohnehin kritisch gegenüber standen, ging die Religionskritik wiederum nicht weit genug. Beim bürgerlich-liberalen Justemilieu, auf das sich Louis-Philippes Herrschaft stützte, fand das Werk hingegen großen Zuspruch – nicht zuletzt wegen seiner mitreißenden Musik.

Halévy, zu dessen Vorbildern neben seinem Kompositionslehrer Luigi Cherubini insbesondere Wolfgang Amadeus Mozart zählte, erzeugt bereits in der Ouvertüre eine Tektonik, die lyrische Momente unversehens in destruktive Klangkaskaden umschlagen lässt. Die gegensätzlichen Handlungmotivationen der Figuren treten in großformatigen Arien hervor und werden in virtuosen Ensembles einander gegenübergestellt. Der Chor versinnbildlicht dabei jenen kollektiven Hass, der immer mehr zum Motor des Geschehens wird.


Clash of Cultures

In den letzten Akten rückt die persönliche Auseinandersetzung zwischen Kardinal Brogni und Éléazar in den Mittelpunkt. Der Kardinal hatte einst in Rom Éléazars Söhne hinrichten lassen. Der Goldschmied wiederum hatte beim Brand von Brognis Wohnhaus dessen Tochter gerettet und zu sich genommen. Aus Rache für den Tod seiner Söhne verschweigt er dem verzweifelten Kardinal nun, dass Rachel dessen lange gesuchte Tochter ist.

Trotz derart unversöhnlicher Gegensätze wagt Halévys Musik einen Brückenschlag zwischen den Religionen. Gerade in den sakralen Passagen, etwa wenn Éléazar mit seinen Glaubensbrüdern ein Pessachmahl feiert, verschmelzen Elemente des jüdischen Synagogalgesangs mit Formen des christlichen Oratoriums. Zwischen den Kulturen wandelt auch die Titelfigur Rachel – eine geborene Christin, die bei einem Juden aufwächst und den Christen Léopold liebt. Dass Scribe und Halévy sie trotz ihrer christlichen Herkunft als »la juive« bezeichnen, zeugt von einem ungemein progressiven Verständnis kultureller Identität, die sie als Resultat einer individuellen Entscheidung darstellen. Ein biologischer Determinismus, wie er in den Rassentheorien des späten 19. Jahrhundert populär wurde und derzeit wieder auf erschreckende Weise zutage tritt, lag den beiden Künstlern fern.
 



LA JUIVE
Fromental Halévy 1799–1862

Oper in fünf Akten / Text von Eugène Scribe / Uraufführung 1835, Opéra Le Peletier, Paris / In französischer Sprache mit

PREMIERE 16. Juni
VORSTELLUNGEN 20., 23., 28. Juni / 6., 11., 14. Juli

MUSIKALISCHE LEITUNG Henrik Nánási INSZENIERUNG Tatjana Gürbaca BÜHNENBILD, LICHT Klaus Grünberg KOSTÜME Silke Willrett CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Maximilian Enderle

RACHEL Ambur Braid  ÉLÉAZAR John Osborn LÉOPOLD Gerard Schneider EUDOXIE Monika Buczkowska KARDINAL BROGNI Simon Lim RUGGIERO Sebastian Geyer ALBERT Danylo Matviienko

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